Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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27.

Neue Fäden.

Staatsanwalt Witte ging in einem wahren Sturmschritt auf das Amt hinauf, denn er hatte keinen Moment Zeit mehr zu versäumen. Er kam dort auch wirklich im letzten Augenblick an, war aber heute – und zwar ganz gegen seine sonstige Gewohnheit – so zerstreut, daß er sich ordentlich vor sich selber schämte und nur gewaltsam alle anderen Gedanken abschüttelte, bis er sein Geschäft beendet hatte.

Es war freilich nicht zu verwundern, denn die eben gemachte Entdeckung mit ihren nach allen Seiten hin auszweigenden Folgen wollte ihm nicht aus dem Kopf, und je mehr er darüber nachdachte, desto größere Schwierigkeiten schienen sich dem rechtmäßigen Erben in den Weg zu stellen.

Wer wußte um die Sache? Niemand als das schlaue Weib, die Heßberger, und jedenfalls ihr Mann, und von denen war kein Geständniß zu erwarten, während sich der alte Baron und besonders seine Schwester erst recht nicht so weit compromittiren würden, einen beabsichtigten Kindertausch der Erbschaft wegen zuzugeben. Die Frau Baumann stand mit ihrer Erzählung ganz allein, und wenn er auch jedes Wort davon glaubte, so würde Herr Bruno von Wendelsheim doch sicher sein Recht fest behauptet und die Erbschafts-Commission ihn dabei nur unterstützt haben. Es wäre, beim Himmel, am Ende gar ein zweiter Fall geworden, wie der mit dem Major und der Madame Müller aus Vollmers, und er konnte sich dabei als Staatsanwalt unsterblich blamiren.

Und der eigentliche Erbe von fast einer halben Million, zu welcher Summe das Capital durch die langjährigen Zinsen aufgelaufen war, saß indeß fest hinter Schloß und Riegel, auf Verdacht eines Mordes oder Raubanfalles hin, den er nie verübt hatte. Witte mußte wenigstens wissen, wie es mit dieser Sache stand, und ging deshalb, sobald er seine eigenen Geschäfte erledigt sah, zum Actuar Bessel, der die Leitung der Angelegenheit übernommen hatte.

Als er zu diesem in das kleine Zimmer trat, fand er ihn nicht allein, sondern den Rath Frühbach bei ihm, und dieser mußte ihm wahrscheinlich schon eine Anzahl merkwürdiger Geschichten aus Schwerin erzählt haben, denn Witte hörte gerade noch, als er die Thür öffnete, wie der Actuar sagte:

»Aber ich bitte Sie, mein lieber Herr Rath, daß Sie zur Sache kommen, denn ich bin wirklich beschäftigt.«

»Ja wohl, Herr Actuar, mit Vergnügen – ah, unser Staatsanwalt, der kann mir gleich seinen guten Rath in der Sache geben.«

»In welcher, wenn ich fragen darf?« sagte Witte, eben nicht besonders erbaut von dem Begegnen, denn er wußte aus Erfahrung, wie schwer es manchmal hielt, von dem gefährlichen Menschen wieder abzukommen, während Alles, was er vorbrachte, selten oder nie das geringste Interesse für irgend Jemanden haben konnte.

»Denken Sie nur,« fing der Rath an, »da kaufe ich mir neulich ein Stück Hosenzeug, und meine Frau soll es zum Schneider geben, zu welchem Zweck ich es hinaus in unsern Vorsaal lege; wie es aber die Henriette fortbringen will, ist es nicht mehr da – fort und gestohlen!«

»Und haben Sie Verdacht auf jemand Bestimmtes?«

»Ja, hören Sie nur – es waren uns in der letzten Zeit schon verschiedene Sachen weggekommen: ein silberner Löffel, noch von meiner ersten Aussteuer her, dann ein neusilberner Serviettenring, den aber der Dieb wohl ebenfalls für Silber gehalten hatte, und verschiedene andere Kleinigkeiten; aber es gehen so viele Menschen bei uns aus und ein, daß ich eigentlich keinen bestimmten Verdacht fassen konnte.«

»Also wollen Sie hier blos die Anzeige machen, daß Ihnen ein Stück Hosenzeug gestohlen oder abhanden gekommen ist,« sagte der Actuar, der anfing ungeduldig zu werden.

»Bitte, hören Sie nur weiter,« fuhr Frühbach mit der größten Ruhe fort. »Das Hosenzeug hatte ein sehr leicht kennbares Muster, blau, grün und roth carrirt – meine Frau liebt die Farben besonders –, und ich mache mich also auf, um hierher auf die Polizei zu gehen und den Thatbestand anzuzeigen. Wie ich nun so die Kreuzstraße heruntergehe und immer noch an das gestohlene Hosenzeug denke, denn die Sache war mir sehr ärgerlich, sehe ich plötzlich einen Menschen vor mir hergehen, der genau dasselbe Zeug trägt.«

»Unter dem Arme?«

»Bitte um Verzeihung, an den Beinen; er hatte sich schon ein Paar Hosen – wie ich vermuthen mußte – davon machen lassen, und ich eilte nun, wie Sie wohl denken können, so rasch als möglich hinter ihm her.«

»Erkannten Sie den Mann? Wer ist es?«

»Ja, hören Sie nur weiter. Ich bin doch gewiß gut auf den Füßen, und ich erinnere mich, daß wir einmal in Schwerin . . .«

»Aber ich muß Sie wirklich bitten, bei der Sache zu bleiben; ich habe mit dem Herrn Staatsanwalt noch etwas Nothwendiges zu besprechen.«

»Nun, es fiel mir nur gerade ein. Also, wo war ich denn stehen geblieben? Ja, ganz recht, wie ich hinter dem Manne herlief, und als ob er's gewußt hätte – er hatte sich aber noch nicht ein einzigesmal nach mir umgedreht –, hob er die kurzen Beine und eilte, was er konnte, die Straße hinunter, ich immer hinter ihm her; ich sage Ihnen, ich habe transspirirt, der Rock klebt mir noch auf dem Leibe. Plötzlich bleibt er vor einem Schuhmacherladen stehen, und wie ich herankomme, wer ist es? – der Schuhmacher Heßberger.«

Der Staatsanwalt Witte, in aller Verzweiflung über die bodenlos langweilige Erzählung, war an das Fenster getreten, sah durch die Gitterstäbe nach dem düstern Hof hinunter und trommelte ungeduldig mit den Fingern an den Scheiben. Erst wie der Name Heßberger genannt wurde, drehte er sich wieder um; denn sonderbarer Weise hatte auch er gegen den nämlichen Menschen, den er seiner bigotten Heuchelei wegen nicht leiden konnte, einen Verdacht gefaßt. Jedesmal wenigstens, wenn er gerade im Hause gewesen war, fehlte irgend etwas, und wenn es auch nur eine Kleinigkeit sein sollte, und daß der Schuster eine stille Leidenschaft für silberne Löffel hege, war ihm mehr als einmal in den Sinn gekommen.

»Und hat der Heßberger überhaupt Ihr Haus betreten?« fragte der Actuar.

»Oft; jede Woche fast einmal,« rief der Rath, »und kurz vorher, ehe das Zeug abhanden kam, war er bei uns gewesen.«

»Und haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

»Ich werde mich hüten,« entgegnete Rath Frühbach mit einem Blick auf den Staatsanwalt; »daß er nachher wieder hingeht und mich verklagt, nicht wahr, und ich in die unangenehmsten Situationen komme? Alles schon da gewesen, und in Schwerin einmal . . .«

»Aber machten Sie denn nicht wenigstens den Versuch, etwas von ihm zu erfahren? Redeten Sie ihn nicht an?«

»Nun, das können Sie sich doch wohl denken; aber ich versuchte, der Sache von der andern Seite beizukommen. Ich bewunderte seine Hose und fragte, wo er das Zeug dazu gekauft habe.«

»Und da? – wurde er verlegen?«

»Gott bewahre! Er nannte mir einen Kaufmann, ganz in der Nähe, und erbot sich, mich hinzuführen.«

»Sie gingen doch?«

»Gewiß ging ich mit ihm in den Laden. Dort berief sich der freche Mensch aber ganz keck auf das Zeug, das er da gekauft hätte, zeigte das Muster und verlangte von demselben für mich, und die Verkäufer im Laden schienen ihn zu kennen und brachten mir richtig den nämlichen Stoff.«

»Nun,« sagte der Actuar, »dann ist die Sache sehr einfach und er hat Ihnen das Hosenzeug nicht gestohlen, sondern es wirklich in dem Laden gekauft.«

»Bitte um Verzeihung,« sagte in diesem Augenblick der Staatsanwalt, der aber hinter Frühbachs Rücken dem Actuar zublinzelte, daß er ihn solle gewähren lassen – »die Sache kann sich denn doch anders verhalten, und aufrichtig gesagt, glaube ich, daß Rath Frühbach dieses Mal auf der richtigen Fährte ist.«

»Aber es schien wirklich, als ob er das Zeug dort gekauft hatte,« meinte der Rath.

»Wie hieß der Kaufmann?«

»Tuchladen Magnus und Compagnie am untern Markt.«

»Hm – das sind die nämlichen Leute, die noch gar nicht so lange einen sehr bedenklichen Concurs anzeigten.«

»Und Sie glauben wirklich . . .«

»Daß Sie durch einen höchst merkwürdigen Zufall den richtigen Mann getroffen haben, allerdings, und das macht Ihrem Scharfblick Ehre, lieber Rath.«

»Mein bester Herr Staatsanwalt . . .«

»Ueberlassen Sie mir die Sache, um sie nach besten Kräften zu verfolgen, und ich verpfände Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie Ihr Hosenzeug wiederbekommen sollen.«

»Aber er hat sie ja schon an . . .«

»Nun gut, dann wenigstens den Werth des Stoffes ersetzt erhalten. Ich glaube selber, daß dieser Heßberger ein nichtsnutziger Bursche ist, und hat er den Diebstahl wirklich verübt, so wollen wir ihm dieses Mal schon beikommen.«

»Und was habe ich dabei zu thun?«

»Gar nichts; sollte ich Sie noch brauchen, so schicke ich heut Abend zu Ihnen hinaus. Sind Sie zu Hause?«

»Gewiß; gegen Abend gehen wir ein wenig im Garten spazieren und um halb neun Uhr legen wir uns in's Bett.«

»Das ist früh; aber so spät schicke ich keinenfalls.«

»Und Sie meinen wirklich, Herr Staatsanwalt . . .«

»Daß Sie Ihr Hosenzeug ersetzt bekommen? ich habe es Ihnen garantirt.«

»Dann bin ich mit Allem einverstanden,« sagte Frühbach und streckte ihm die Hand entgegen. »Und jetzt will ich gleich nach Hause gehen und es meinem Frauchen sagen, daß ich den Dieb selber entdeckt habe – die wird sich freuen. Angenehmen Nachmittag, meine Herren!« Und vergnügt vor sich hin schmunzelnd, verließ der Rath das Zimmer.

Der Actuar hatte, seit ihm Witte zugewinkt, kein Wort mehr in die Sache hineingesprochen, denn er konnte ja gar nicht wissen, welchen Zweck der Staatsanwalt dabei verfolge. Er schüttelte aber vor sich hin mit dem Kopf, denn wenn jener Heßberger wirklich einfach bewies, daß er das Zeug in jenem Laden gekauft habe – und das schien schon geschehen zu sein –, so war es doch gar nicht denkbar, in dieser Sache gegen ihn vorzugehen. Kaum hatte der Rath die Thür hinter sich ins Schloß gezogen, als er sich deshalb auch an Witte wandte und ihn fragte, was er in der unklaren Geschichte zu thun gedächte.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Actuar,« erwiderte der Staatsanwalt; »daß der Heßberger das Hosenzeug gestohlen hat, glaube ich, nach der Bereitwilligkeit, mit welcher er den Rath in den Laden führte, selber nicht; aber meiner moralischen Ueberzeugung nach ist der Schuhmacher ein vollkommen nichtsnutziges Subject, bei dem ich schon lange auf eine Gelegenheit gewartet habe, um ihm einmal beizukommen, und die bietet sich jetzt in vortrefflicher Weise durch unsern Rath Frühbach; der soll mir die Kastanien aus dem Feuer holen.«

Der Actuar lachte. »Aber was wollen Sie thun?«

»Haussuchung bei Heßbergers halten, und zwar einfach auf Anklage Frühbachs hin. Findet sich dann nichts, so mag er den Rath immerhin wegen Ehrenbeleidigung oder sonst 'was verklagen.«

»Aber Sie können den armen Rath dadurch in schmähliche Verlegenheit bringen, und er wird es Ihnen wenig Dank wissen.«

»Bah,« sagte Witte, »ich habe ihm erst neulich aus einer ganz ähnlichen herausgeholfen, und da mag er denn Eins gegen das Andere abrechnen. Uebrigens muß ich Ihnen gestehen, Actuar, daß gegen diesen Heßberger in mir ein ganz eigener und schwerer Verdacht aufgestiegen ist. Ich habe nämlich heute Morgen das Protokoll durchgeblättert, das Sie beim alten Salomon aufgenommen haben und mir zuschickten. Seine Aussagen sind allerdings vollständig unbestimmt, seine Personalbeschreibung des Mörders würde auf tausend Menschen in der Stadt passen; aber etwas habe ich darin gefunden, das mich stutzig machte. Er erwähnt, daß der Mann, der schon ein paar Mal bei ihm im Laden gewesen, sonderbare Ausdrücke beim Reden gebraucht. Das thun nun allerdings ebenfalls viele Leute, aber bei diesem Heßberger ist es mir besonders aufgefallen, und es wäre doch merkwürdig wenn wir dadurch auf die richtige Spur kämen.«

»Aber Sie glauben doch nicht, daß der kleine Heßberger . . .«

»Man kann keinem Menschen in's Herz sehen; übrigens weil ich eben nichts Bestimmtes weiß, kam mir der Rath mit seiner Klage gerade recht.«

»Und Sie haben ihm den Erfolg schon garantirt . . .«

»Nichts weiter, als den Ersatz seines Hosenzeugs,« sagte Witte, »das sich nicht so hoch belaufen wird, wenn der Schuhmacher Heßberger den nämlichen Stoff trägt. Das Schlimmste, das mir also passiren kann, ist, daß ich dem Rath seine Hosen bezahle. Aber was ich Sie fragen wollte, wie steht es mit dem jungen Baumann?«

Der Actuar zuckte mit den Achseln. »Der alte Salomon,« sage er, »will allerdings nichts von ihm gesehen haben und behauptet, daß er vollkommen unschuldig wäre; aber ich kann mich noch nicht überzeugen, daß dessen Aussage allein maßgebend sein sollte, da es doch nicht wahrscheinlich ist, daß ein Mensch allein wagen sollte, etwas Derartiges zu unternehmen. Baumann kann möglicher Weise draußen an der Thür Wache gestanden haben.«

»Aber dann wird er doch wahrhaftig nicht selber an die Thür pochen und um Hülfe rufen!«

»Es ist noch immer nicht ganz sicher festgestellt, daß er das auch wirklich gethan hat, denn wir haben dafür nur seine eigene Aussage.«

»Und die Leute aus der Nachbarschaft? Sind sie denn nicht allein auf den Hülferuf herbeigekommen?«

»Allerdings; aber es kann auch jemand Anders gerufen haben.«

»Sie sind unverbesserlich, Actuar, und indessen erzählen sich die Leute in der Stadt, daß der junge Baumann am Freitag geköpft werden solle.«

»Sie überschätzen die Eile unseres Gerichtsverfahrens,« sagte der Actuar trocken; »wenn er wirklich verurtheilt wäre, könnte das noch immer sechs Monate Zeit haben.«

»Und seine Familie – was muß die dabei empfinden?«

»Mein lieber Staatsanwalt,« sagte der Actuar erstaunt, »Sie wissen doch am besten, daß wir hier auf der Polizei keine Gefühlspolitik treiben, sondern unsern ruhigen Geschäftsgang gehen.«

»Nein, Actuar, Sie haben Recht,« sagte Witte; »entschuldigen Sie, daß ich Ihnen Uebermenschliches zutraute!«

»Und wann wollen Sie die Haussuchung vornehmen?«

»Gleich heut' Abend. Sie haben vielleicht die Güte, mir die Leute zu besorgen; bis wann sind Sie Abends hier?«

»Jedenfalls bis sieben Uhr; später ist es ungewiß, obgleich ich heute wahrscheinlich etwas länger aufgehalten werde.«

»Also auf Wiedersehen, Actuar!« sagte der Staatsanwalt und stieg, über seinen neuen Plan brütend, die Treppe hinunter.

Daß er den Rath Frühbach, wenn sie wirklich nichts Gravirendes beim Schuhmacher Heßberger fanden, in die Gefahr brachte, von dem Schuster wegen Ehrenkränkung verklagt und nachher auch vom Gericht verurtheilt zu werden, wußte er recht gut; aber das machte ihm nicht die geringste Sorge. Frühbach selber hatte das mehr als reichlich durch sein Benehmen bei der Wittwe Müller verdient, und wie die Sachen gegenwärtig standen, ärgerte er sich, daß er damals auf so albern gutmüthige Weise den Vermittler gespielt. Wie aber das Alles wunderbar zusammenhing! Der Major, welcher schon seit Jahrzehnten an der Erbschaftssache bohrte und die lange Zeit daneben getappt hatte, schien jetzt doch die, wenn auch indirecte, Ursache zu sein, daß die Frau Baumann das Geständniß abgelegt; denn die Angst hatte sie geplagt, daß die so lange verheimlichte Sache nun doch vor Gericht käme. Wenn der jetzt wüßte, wie Alles stände, in welche Aufregung würde er gerathen! Es war aber besser so, denn möglicher Weise hätte er mehr verdorben, als gut gemacht. Was konnte er auch in der Sache thun und welches Interesse hatte er dabei, da es seine Ansprüche nicht im Geringsten unterstützte? Ein Erbe war jedenfalls da, ob der nun Bruno oder Friedrich hieß, und nur gegen die Nachfolge einer Tochter würde er seine vermeintlichen Rechte haben geltend machen können.

Mit den Gedanken schlenderte Witte die Straße hinab und bog fast unwillkürlich in die Seitenstraße ein, an welcher das Baumann'sche Haus lag. Er hatte der Frau versprochen, dort vorzukommen, und wollte sein Wort halten.

Welch' traurige Veränderung war aber heute in dem sonst so thätigen Hause vorgegangen!

Als Baumann seine Frau vermißte, lief er, mit der Todesangst im Herzen, sie könne sich in der Aufregung ein Leid anthun, so rasch ihn seine Füße trugen, nach dem Fluß hinunter und fragte dort hin und her, ob Niemand ihr begegnet sei oder sie gesehen habe. Umsonst – dorthin konnte sie auch nicht gewandert sein, denn an der Brücke wurde gerade gearbeitet; eine Menge Menschen ging dort ab und zu, und unbemerkt wäre sie keinesfalls vorüber gekommen. Aber wo war sie sonst? Karl mit den Uebrigen sollte die Stadt absuchen, vielleicht begegnete er ihr, und Baumann machte sich indessen fortwährend die bittersten Vorwürfe, daß er sie in dem Zustand allein gelassen habe. Was wußte der derbe Schlossermeister auch von den Ohnmächten und deren Folgen! Die waren in seiner Familie nie heimisch gewesen, und er kannte sie kaum dem Namen nach.

Als er aber wieder nach Hause kam und Niemand dort etwas von ihr wußte, als selbst Karl endlich heimkehrte, ohne auch nur eine Spur von ihr gefunden zu haben, überlief es ihn ordentlich siedendheiß, und er wollte eben wieder fort, und jetzt zwar direct auf die Polizei, um dort die Anzeige zu machen und um Hülfe zu bitten, als seine Kathrine plötzlich in die Thür der Werkstätte trat und erstaunt die Verwirrung betrachtete, die in dem Raum herrschte.

»Kathrine, um Gottes willen, wo bist Du gewesen, Frau?« rief der alte Meister in Jubel und Angst zugleich entgegen. »Wie haben wir uns um Dich gesorgt und in der ganzen Stadt nach Dir gesucht!«

»Nach mir?«

»Nun versteht sich; Du warst ja auf einmal wie von der Erde verschwunden und kein Mensch wollte Dich gesehen haben. Wo warst Du denn?«

»Meine Elise, mein kleines, liebes Herz!« rief die Mutter, als das Kind, welches ihre Stimme gehört hatte, jauchzend aus dem Zimmer heraus und auf sie zu flog. Sie kauerte sich neben ihm am Boden nieder und küßte ihm wieder und wieder das lockige Haupt. – »Wo ich war, Vater?«

»Ja, Mutter, Du hast uns große Sorge gemacht. Als ich mit dem Arzt kam, warst Du fort.«

»Mit dem Arzt?«

»Nun natürlich – Du lagst ja wie todt, und ich wußte mir nicht zu helfen.«

»Guter Gottfried,« sagte die Frau weich, »so viel Angst hast Du meinetwegen ausgestanden, und ich . . .«

»Aber wo bist Du nur gewesen, daß Dir Niemand von uns begegnet ist?«

»Komm mit hinein in die Stube, Gottfried, Du sollst Alles wissen, ich habe Dir viel, sehr viel zu sagen; aber Niemand weiter darf es hören, als Du . . .«

»Ich begreife Dich gar nicht,« sagte der Mann kopfschüttelnd, »seit ein paar Tagen bist Du ganz wie verwandelt.« Die Frau antwortete ihm nicht darauf.

»Weshalb ist die Else nicht in der Schule?«

»Aber wir haben ja heute Mittwoch, Mama,« lachte das Kind, das sich rasch wieder beruhigt hatte; »weißt Du denn das nicht?«

»Ja so, Du hast Recht; nun gut, Else, dann geh einen Augenblick in das Gärtchen, Kind, und sieh zu, ob Du für Mutter noch ein Veilchen finden kannst. Du darfst auch in dem Sande spielen, den der Mann gestern gebracht hat, und baue Dir wieder solch' einen kleinen Hof darin, wie gestern Abend.«

»Ei, das ist prächtig!« rief die Kleine aus und sprang hinaus, um von der willkommenen Erlaubniß Gebrauch zu machen.

Baumann aber betrachtete indessen kopfschüttelnd seine Frau, denn so ernst und feierlich war sie ihm noch nie in seinem Leben vorgekommen. Es mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein, das sie so ergriffen hatte.

Aber die Frau ließ ihn auch nicht lange mehr auf die Erklärung ihres sonderbaren Wesens warten. Sie folgte dem Kinde mit den Augen, so lange sie es sehen konnte; kaum aber war es durch die in den Hof führende Thür verschwunden, als sie den Mann an der Hand ergriff und mit sich in das kleine Zimmer neben der Werkstatt führte.

Dort schüttete sie ihm ihr ganzes Herz aus; dort sagte sie ihm Alles, Alles, was sie dem Staatsanwalt gebeichtet, nur noch ausführlicher, noch klarer, noch mehr auf ihre eigenen Gefühle eingehend, aber nichts verschweigend oder mildernd, voll so, wie sie das Gewicht ihres Vergehens die langen Jahre niedergedrückt. Dort hing sie schluchzend an seinem Halse, dort lag sie vor ihm auf den Knien und preßte ihr Haupt an seine Brust.

Und Baumann saß vor ihr, bleich und starr, als ob er aus Stein gehauen wäre, beide Hände fest geballt auf die Lehne des Stuhles, und nur das Zucken in seinem Antlitz, die kalten Schweißtropfen auf seiner Stirn zeugten davon, daß er lebe. Er erwiderte ihr kein Wort, keine Liebkosung; er richtete keine Frage an sie, beantwortete keine. Wie in einem Starrkrampf hielt ihn das Furchtbare, das er eben vernommen, gefangen, und als die Frau endlich still weinend aus dem Zimmer schlich, folgte er ihr nicht einmal mit dem Blick, sondern hielt das Auge fest und unbeweglich, wie er die ganze Zeit gesessen, auf die Stubenecke geheftet.

So fand ihn Witte, als er fast zwei Stunden später das Haus betrat, nach dem Meister fragte und in die Stube gewiesen wurde; und er allein konnte sich denken, was vorgefallen war, was den sonst so starken, energischen Mann so vollständig gebrochen, so vernichtet haben mochte.

»Baumann,« sagte deshalb der Staatsanwalt freundlich, indem er die Thür wieder hinter sich zudrückte, dann auf ihn zuging und ihm die Hand auf die Schulter legte, »Ihre Frau war heute bei mir und hat mir Alles gestanden; ich begreife, daß Sie die Nachricht erschüttern mußte – es ist schlimm, aber doch nicht so schlimm, um gleich zu verzweifeln. Es kann noch Alles gut werden – die Sache ist in redlichen Händen; was ich für Sie thun kann, soll geschehen. Sie dürfen sich darauf verlassen.«

Der Mann antwortete ihm nicht, regte sich nicht oder gab auch nur das geringste Zeichen, daß er gehört hätte, es habe Jemand mit ihm gesprochen oder sei Jemand bei ihm. Witte betrachtete ihn kopfschüttelnd. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß der rauhe Handwerker so furchtbar von der Entdeckung ergriffen werden konnte, und doch saß er jetzt vor ihm wie ein Bild des starren, unbeweglichen Schmerzes, regungslos, nur mit schwer athmender Brust und zuckenden Lippen.

»Baumann,« begann Witte von Neuem mit freundlicher Stimme, »nehmen Sie sich die Sache nicht so zu Herzen, Ihre Frau hat gefehlt, ja, aber sie hat es aus freilich verkehrter Liebe zu ihrem Kind, und dann auch noch mehr überredet, als aus freiem Willen gethan. Jenes nichtsnutzige Geschöpf, die Heßberger, hat sie dazu getrieben. Und bedenken Sie, was sie die langen Jahre dafür an Angst und Reue über das Geschehene ausgestanden! Es liegt ja auch vielleicht den Gesetzen gegenüber noch nicht einmal ein Verbrechen vor, da sie es selber eingestanden, ehe ihr eigener Sohn den Nutzen der Täuschung ernten konnte. Wer weiß, ob ihr nur irgend eine Strafe auferlegt wird, wenn wir den Beweis führen können, daß sie in ihrem damaligen Zustande wohl mehr gezwungen, als aus freiem, selbstständigem Willen die Hand zu der Täuschung geboten hat. Wenn wir der Sache auf den Grund sehen, finden wir vielleicht noch Manches, das die That nicht so schwarz erscheinen läßt, als sie Ihnen vielleicht im ersten Augenblicke vorkam.«

Baumann rührte sich nicht. Wie er bisher gesessen, saß er noch, und eben so starr hing sein Blick an der Stubenecke, als vorher. Der Staatsanwalt kam wirklich in Verlegenheit, denn er war nicht einmal fest überzeugt, daß der Schlossermeister nur gehört, was er zu ihm gesagt.

»Lieber Baumann,« bat er endlich, »hören Sie mich nicht? Ich bin hierher gekommen, um Sie zu beruhigen; Sie sollen wissen, daß Sie noch einen Freund in der Stadt haben.«

Dem alten Schlossermeister tropften die großen, schweren Thränen aus den Augen, und als Witte jetzt seine Hand faßte, fühlte er den kräftigen Druck des Mannes.

»Was muß die Welt von mir denken,« hauchte er endlich mit vollkommen lautloser Stimme, »was muß die Welt von mir denken! Und wenn sie mich in's Zuchthaus stecken, hab' ich es nicht verdient?«

»Aber lieber, bester Baumann,« rief der Staatsanwalt, froh, nur erst einmal ein Lebenszeichen von ihm zu hören, denn das frühere starre Schweigen hatte ihn wirklich geängstigt – »was machen Sie sich für tolle, nutzlos tolle Gedanken! Glauben Sie, daß irgend ein Mensch in der Stadt Ihnen auch nur einen Gran von Schuld beimessen wird?«

»Und meine Frau, mit der ich die langen, langen Jahre glücklich gelebt – die ich auf den Händen getragen und geliebt und verehrt – Alles, Alles vorbei – Alles vorbei! Was hab' ich denn gethan, daß ich so hart gestraft werden mußte?«

»Es ist noch nicht vorbei, Baumann,« suchte ihn der Staatsanwalt zu trösten, »es ist noch lange nicht vorbei, und danken Sie Gott, daß Ihre Frau sich noch in der letzten Stunde ein Herz gefaßt hat, um ihr Vergehen zu bekennen und es dadurch wieder, so weit es wenigstens in ihren Kräften stand, gut zu machen. Wer kann sagen, wie sich noch Alles zum Besten gestaltet? Ihr ganzes bisheriges Leben muß auch für sie sprechen und sie entschuldigen oder dem Richter doch wenigstens beweisen, daß er es, so weit es nämlich Ihre Frau betrifft, mit keinem Verbrechen zu thun hat. Hoffen Sie das Beste, und meine Hülfe, mein Beistand sind Ihnen dabei gewiß.«

»Ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt,« sagte Baumann, indem er sich mit der breiten, hornigen Hand über die Stirn fuhr – es war die erste Bewegung, die er machte – »ich danke Ihnen von Herzen! Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen – aber es hilft Ihnen nichts. Vor den Gerichten könnten Sie die Frau vielleicht frei bringen, vor meinem eigenen Gewissen nicht. Sie hat es gethan, und wenn sie es nicht gethan, sie hat geduldet, daß es geschah, und mir, ihrem Manne, dem sie gelobt, kein Geheimniß vor ihm zu haben, die langen, endlosen Jahre das Furchtbare verschwiegen, daß sie ihm sein eigenes Kind verkauft!«

»Aber, Meister Baumann!«

»Verkauft – ich habe kein anderes Wort dafür,« sagte der Mann tonlos; »sie hat es verkauft, weil sie den Stand verachtete, in dem sie lebte und großgezogen war, weil sie etwas Besonderes, etwas Vornehmes aus ihrem Kinde machen wollte, und deshalb nur, deshalb allein wurde dem Vater die falsche Brut untergeschoben und dessen Herz von dem eigenen Sohne abgewandt!«

Der Staatsanwalt war selber in Verlegenheit, was er dem Mann darauf erwidern sollte. Er hatte nur zu sehr Recht, und er fühlte auch, daß ein Trost jetzt nach dem ersten Schmerz am unrechten Platz sein und vielleicht mehr schaden als nützen würde.

Eine lange Weile schwiegen Beide; endlich sagte Witte wieder: »Ueberdenken Sie sich die Sache diese Nacht; wir haben Zeit genug dazu, denn vor der Hand darf doch Niemand weiter darum wissen.«

»Was?« rief Baumann, ordentlich erschreckt emporfahrend, »und mir muthen Sie zu, das selber als Geheimniß zu bewahren, was . . .«

»Verstehen Sie mich nicht falsch,« unterbrach ihn der Staatsanwalt rasch; »nur auf vernünftige Weise müssen wir vorgehen, um das wieder gut zu machen, was gefehlt ist, und das kann nicht in der ersten Hitze und Aufregung geschehen, oder wir verderben, was wir bessern wollten. Kommen Sie morgen früh zu mir, so früh Sie wollen; ich stehe schon um sechs Uhr auf und arbeite. Dann besprechen wir Alles mit kaltem Blut; vorher aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mit keinem Menschen darüber reden wollen.«

»Mit keinem Menschen weiter?«

»Nein. Glauben Sie mir, ich rathe Ihnen zum Besten und bin selber ein alter Mann; ich werde von Ihnen nichts verlangen, was ich nicht mit gutem Gewissen verantworten kann. Morgen früh kommen Sie zu mir, und ich glaube bestimmt, daß wir einen Weg finden, um ehrlich und rechtschaffen das von Ihrer Seele zu nehmen, was Sie jetzt zu Boden drückt. Sind Sie damit einverstanden?«

Der Schlossermeister zögerte einen Augenblick mit der Antwort; endlich sagte er leise: »Gut, ich will Ihnen folgen, Herr Staatsanwalt; ich weiß, Sie meinen es ehrlich und werden dafür sorgen, daß dem rechtmäßigen Erben nicht ein Groschen seines Rechts verkümmert wird. So weit ich selber mit meinem kleinen Vermögen ausreiche, etwa geschehenen Schaden zu decken, stelle ich mich Ihnen zur Verfügung – bis zu dem letzten Ziegel meines Daches. So weit bin ich erbötig, Alles gut zu machen, was fremde Leute betrifft. In meinem eigenen Hause werde ich selber Rechnung halten.«

»Sie werden nicht zu hart mit Ihrer armen Frau sein, Baumann.«

»Ich werde thun, was ich vor Gott und meinem Gewissen verantworten kann,« sagte der Mann ernst; »sorgen Sie sich deshalb nicht – und damit haben die Gerichte auch nichts zu thun – oder doch nur wenig,« setzte er leise und kaum hörbar hinzu.

»Also auf morgen früh!«

»Ich werde kommen – verlassen Sie sich darauf!« Und still und brütend sank er wieder in seinen Stuhl zurück.

Witte aber, der jetzt wohl einsah, daß heute mit dem Mann doch nichts mehr zu reden und es das Beste sei, ihn sich selber zu überlassen, verließ langsam das Haus und schritt seiner eigenen Wohnung wieder zu.



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