Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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33.

Nach allen Seiten.

Am nächsten Morgen war Witte in voller Thätigkeit, denn jetzt wußte er sich der Erreichung seines Zieles gewiß, und es galt nur noch, die verschiedenen Fäden fest in die Hand zu nehmen. Vor allen Dingen ging er zum Untersuchungsrichter, um diesem mitzutheilen, daß er für jene frühere Wartefrau völlige Straflosigkeit vom Justiz-Ministerium erbitten wolle, vorausgesetzt nämlich, daß sie Alles, was sie über die verwickelte Sache wußte, aufrichtig gestand. Er glaubte, er würde den Herrn noch im Bette finden und herausklopfen müssen; der war aber schon auf und fertig angezogen und kam ihm gleich mit den Worten entgegen:

»Wissen Sie das Neueste, Staatsanwalt? Eben bekomme ich die Meldung, daß sich die Heßberger diese Nacht in ihrem Gefängnisse erdrosselt hat – eine verfluchte Geschichte!«

»Bah,« sagte Witte, den die Todesnachricht ungemein ruhig ließ, »die kann jetzt abkommen, denn was wir brauchen, haben wir von ihr; ja, im Gegentheil bekommt das von ihr abgelegte Geständniß durch ihren freiwilligen Tod nur um so größeres Gewicht.«

»Und was führt Sie so früh zu mir?«

Witte theilte ihm seine Absicht mit, und der Justizrath erklärte ebenfalls, daß er keinen Augenblick zweifle, die Bitte werde zugestanden, noch dazu, da jene Person, während sie im Stande war, ein wichtiges Zeugniß abzulegen, jedenfalls eine sehr untergeordnete Rolle bei dem Betrug gespielt hatte.

Noch während sie zusammen sprachen, kam ein reitender Bote von Schloß Wendelsheim mit einer Anfrage an den Justizrath. Fräulein von Wendelsheim bestand nämlich darauf, einen Besuch in der Stadt zu machen, und fragte an, ob der Justizrath ihr die Erlaubniß dazu geben wolle.

Der Justizrath schrieb einfach unter den Brief selber: »Fräulein von Wendelsheim hat Hausarrest!« und sandte den Boten wieder damit zum Schlosse.

Witte kehrte langsam nach Hause zurück; in der Sache war allerdings nichts zu thun, bis die Rückantwort vom Justiz-Ministerium eintraf; es schien aber kaum möglich, daß die wirkliche Thatsache, von der schon so viele Leute unterrichtet waren, länger ein Geheimniß bleiben konnte. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn dabei, wenn er an den bisherigen Baron, den Lieutenant von Wendelsheim, dachte, der, als eigentliche Hauptperson des Ganzen, noch wahrscheinlich keine Ahnung von dem über ihn hereinbrechenden Unheil hatte. Einmal faßte er wohl den Entschluß, ihn rufen zu lassen und ihm Alles mitzutheilen! aber wer von uns macht sich gern mutwillig zum Träger einer bösen oder schmerzlichen Nachricht? Und Witte besaß zu viel Zartgefühl, noch aus manchem andern Grunde, um eine solche Enthüllung freiwillig auf sich zu nehmen. Er that deshalb, was man gewöhnlich in einem solchen Fall thut: er verschob die Ausführung seines Vorhabens auf den Nachmittag oder vielleicht auf morgen früh, wie es sich gerade passen würde, denn zu versäumen war ja doch nichts dabei.

Zu Hause fand er auch so viel zu thun, daß er kaum zur Besinnung kam, und sein Mittagessen beseitigte er rasch, denn seine Frau sprach bei Tische kein Wort; sie spielte noch die Beleidigte des neulich erlassenen Verbots der Adeligen wegen, und selbst Ottilie war kleinlaut und hatte rothe Ränder um die Augen. Witte aber that, als merke er das gar nicht, verzehrte seine Mahlzeit, trank, wie gewöhnlich, seine Flasche Wein dazu und ging dann wieder in sein Arbeitszimmer hinüber.

Die Schreiber waren noch nicht von ihrer Eßstunde zurückgekehrt, als es plötzlich anklopfte und auf sein »Herein!« Lieutenant von Wendelsheim, aber in Civil – denn er hatte seinen Abschied schon erhalten – zu ihm in's Zimmer trat.

»Stör' ich Sie, Herr Staatsanwalt?«

»Mich? Gewiß nicht,« sagte der alte Herr, aber fast erschrocken, denn Bruno von Wendelsheim sah so bleich aus wie die Wand. »Bitte, treten Sie näher, lieber Baron – hier herein, wenn Sie so gut sein wollen; meine Leute kommen bald zurück und haben da ihre Plätze. Mit was kann ich Ihnen dienen?«

»Herr Staatsanwalt,« sagte Bruno, der der Einladung Folge leistete, »ich kenne Sie als einen Ehrenmann . . .«

»Lieber Herr Baron, aber wollen Sie denn nicht Platz nehmen?«

Wendelsheim wehrte mit einer dankenden Bewegung der Hand ab und fuhr fort: »Ich komme deshalb, um eine Frage an Sie zu richten, Mann zu Mann.«

»Wenn ich im Stande bin, sie Ihnen zu beantworten,« sagte Witte und wünschte sich in dem Augenblick zehn oder zwanzig Meilen fort von da.

»Niemand weiter in der ganzen Stadt so gut als Sie,« sagte der junge Mann, »denn wie mir versichert ist, haben Sie die Leitung der ganzen Affaire in der Hand. So sagen Sie mir denn: inwieweit ist das Gerücht begründet, daß bei meiner Geburt ein Kindertausch mit der Frau eines hiesigen Handwerkers stattgefunden hat und ich demnach nicht der leibliche Sohn des alten Baron von Wendelsheim, sondern der des Schlossers Baumann wäre?«

»Alle Teufel,« rief Witte überrascht, »und wo haben Sie das schon gehört?«

»Beantworten Sie mir erst die Frage, Herr Staatsanwalt.«

»Wenn Sie mich drängen,« sagte Witte achselzuckend, »so muß ich Ihnen allerdings, was Sie mich eben gefragt haben, bestätigen. Aber woher Sie . . .«

»Und ich bin nicht das, als was ich erzogen worden, der Erbe des Hauses von Wendelsheim, sondern eines Schlossers Sohn?«

»Mein lieber junger Freund,« sagte Witte verlegen, denn es that ihm weh, das dem armen jungen Manne so mit nackten, dürren Worten zu bestätigen, »vor allen Dingen ist ja noch kein Urteilsspruch in der Sache gefällt, und nur der allerdings gegründete Verdacht . . .«

»Aber ich frage Sie ja nicht nach einem Urteilsspruch,« sagte Bruno bewegt; »Ihre Meinung, nach eigener, fester Ueberzeugung, will ich nur wissen, und glauben Sie um Gottes willen nicht,« setzte er rasch hinzu, »daß Sie mich dadurch etwa schlimmer kränken, als wenn Sie mir die Wahrheit vorenthalten. Muß ich es denn nicht wissen, wenn etwas Derartiges im Werke ist, und denken Sie etwa, daß fremde Menschen zartfühlender in ihrer Enthüllung sein werden – oder gewesen sind?«

»Sie haben Recht,« sagte Witte entschlossen, »und nun bitte, erzählen Sie mir, was Sie gehört haben, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß sie dann die reine Wahrheit von mir hören sollen.«

Bruno erzählte jetzt, aber alles so ausführlich, daß Witte eigentlich gar nichts mehr hinzuzusetzen fand. Er wußte in der That Alles, und der Staatsanwalt konnte ihm nur bestätigen, daß die Sache allerdings bis jetzt so stehe, ein wirklicher Entscheid aber erst durch das Geschworenengericht gefällt werden müsse, dessen nächste Sitzung in etwa acht oder neun Tagen stattfinde.

»Aber nun,« fuhr er fort, »bitte ich Sie auch dringend, mir zu sagen, durch wen Sie das Alles erfahren haben, denn ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich es nicht begreife.«

»Ich begreife nur nicht, daß ich es nicht schon früher gehört habe,« sagte Bruno, »denn meine Quelle ist wahrlich nicht geheimnißvoller Art. Ich erfuhr es heute Morgen durch Rath Frühbach.«

»Durch Rath Frühbach?« rief Witte, den Kopf schüttelnd. »Dann brauchen wir allerdings auch kein Geheimniß mehr daraus zu machen, denn wenn der Herr es weiß, ist es schlimmer, als ob es in der Zeitung gestanden hätte. Aber, lieber junger Freund,« fuhr er fort, als er sah, daß Bruno zum Fenster getreten war und die glühend heiße Stirn gegen die Scheibe preßte, »nehmen Sie sich um Gottes willen die Sache nicht so zu Herzen. Erstlich ist das Ganze noch gar nicht entschieden. Eine feste Behauptung, es sei so oder so, steht noch Keinem von uns zu, und im allerschlimmsten Falle – ei, zum Wetter auch, im Unglück bewährt sich erst der Mann, im Glück können wir alle oben schwimmen, und Sie sind jung und kräftig und haben die Welt noch vor sich – sehen mir auch wahrhaftig nicht aus, als ob Sie so leicht verzagen würden.«

Bruno schwieg; er stand am Fenster und sah über die Gärten und Hintergebäude der Nachbarhäuser hinaus, aber in alledem kein festes, bestimmtes Bild. Das Ganze flimmerte und flatterte ihm vor den Augen. All' die Luftschlösser, die er sich seit seiner Jugend gebaut und in bunten Farben aufgethürmt, stürzten polternd zusammen, und Alles, was ihm im dunklen Hintergrund blieb und sich zu fester Form gestaltete, war – eine Schlosserwerkstatt und das von den Bälgen ausgewühlte Feuer. Er hörte auch nicht, was der Staatsanwalt sprach – wenigstens nur mit halbem Ohr – in seinem Innern trug er eine vergeudete Jugend zu Grabe, und schwarz und düster lag nun die Zukunft vor ihm da.

Rebekka – sein schöner Traum – er war stolz darauf gewesen, ihretwegen allen Vorurtheilen Trotz zu bieten und sie zu sich empor zu heben – und wie anders stand jetzt der arme Schlosserssohn dem reichen Juden, dem er noch dazu ohne Aussicht auf Hülfe bös verschuldet war, gegenüber! Es war doch ein schwerer Schlag, so mit einem Male Alles zu verlieren, was man bis dahin fest und sicher sein geglaubt – Familie, Namen, Eltern, Vermögen, Braut, Heimath, und dafür nichts zu bekommen, nichts, als die Berechtigung, in eine Familie einzutreten, die ihn als Säugling vor die Thür gesetzt.

Witte war in peinlicher Verlegenheit. Der arme junge Mann, der so unverschuldet das Alles mußte über sich ergehen lassen, that ihm wirklich leid, aber er fühlte auch, daß er ihn gerade dadurch, wenn er ihm Mitleid zeige, am tiefsten verwunden könne. Und Trost einsprechen? Da fiel ihm selber nichts ein, was er ihm hätte sagen können.

Draußen kamen die Schreiber vom Essen zurück und nahmen ihre Plätze wieder ein. Das Geräusch weckte Bruno aus seinen Träumen; er sah sich scheu um und sagte endlich:

»Entschuldigen Sie mein wunderliches Wesen, Herr Staatsanwalt, ich fühle, ich werde Ihnen lästig; aber es ist noch Alles so neu, so fremd für mich, ich muß mich erst hinein gewöhnen, wie in diese neuen Kleider, die ich trage.«

»Lästig? Aber lieber, bester junger Freund, glauben Sie das um Gottes willen nicht!«

»Und was rathen Sie mir, jetzt zu thun? Was kann ich thun?«

»Vor der Hand nichts auf der Welt, als die Entscheidung ruhig abwarten. Weiß übrigens Rath Frühbach um die Sache, so wird sie auch heute Nachmittag in allen Kaffeegesellschaften besprochen, und wenn Sie dann meinem Rath folgen wollen, so machen Sie indessen eine kleine Reise nach der Residenz oder in die Berge, oder wohin Sie wollen. Lassen Sie mich nur wissen, wo Sie sind, damit ich Ihnen rechtzeitig schreiben kann, wann Sie hier eintreffen müssen, um vielleicht auch Ihre eigenen Rechte zu wahren. Niemand kann vorher sagen, wie sich Alles gestaltet.«

»Ich glaube, es ist das Beste, was ich thun kann,« sagte Bruno nach kurzem Zögern; »ich wäre jetzt auch nicht im Stande, Jemanden zu sehen oder zu sprechen. Ich muß erst selber Zeit haben, mich zu sammeln und das Weitere zu überlegen.«

»Aber Sie vergessen nicht, mir zu schreiben?«

»Sie sollen augenblicklich Nachricht erhallen, sobald ich nur erst selber weiß, wo ich mich die Zeit über aufhalten werde. Wahrscheinlich auf dem Wald; ich kenne dort oben einen alten Förster und gehe vielleicht mit ihm auf die Jagd. Auch die Einsamkeit wird mir wohl thun, ich bedarf jetzt derselben.«

Witte drückte ihm herzlich die Hand.

»Und nun leben Sie wohl bis dahin. Wenn Sie mich wiedersehen, hoffe ich, daß ich gefaßter und vernünftiger sein werde, als heute. Es ist mir nur noch Alles zu fremd, zu neu.« – Er erwiderte den Druck der Hand und verließ das Zimmer, wollte auch augenblicklich die Treppe hinabeilen, als er der Frau Staatsanwalt in den Weg lief, die gerade aus der Küche kam.

»Ach, mein lieber Herr Baron,« sagte sie freundlich, »Sie kommen wohl gerade von meinem Manne? Geschäftssachen – immer Geschäftssachen. Ja, wenn man bald ein so großes Vermögen übernimmt, giebt es allerdings viel zu thun. Aber wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten?«

»Sie sind unendlich gütig, gnädige Frau,« stammelte Bruno verlegen; »aber – ich bin gerade in großer Eile – die Post . . .«

»Ja, dann freilich will ich Sie nicht aufhalten.«

»Bitte, empfehlen Sie mich Ihrem Fräulein Tochter!«

Die Frau neigte huldreich das Haupt, und Bruno war froh, als er sich gleich darauf wieder auf offener Straße und in frischer Luft fand.

Witte hatte selber keine Ruhe; es gab noch so Manches für ihn zu besorgen, daß es ihn nicht in seinen vier Wänden litt. Durch die rasche Verbreitung des Gerüchts, deren Ursprung er sich immer noch nicht zu erklären wußte, war er auch in seinen Schritten mit der Schneiderswittwe gedrängt, damit sie nicht erst von anderer Seite aufmerksam gemacht und eingeschüchtert wurde. Er beschloß deshalb, augenblicklich zu ihr zu gehen und ihr Alles zu sagen; denn daß das Justiz-Ministerium eine zustimmende Antwort geben würde, verstand sich eigentlich von selbst.

Im Anfang fand er die Frau allerdings scheu und zurückhaltend. Sie schützte Gedächtnißschwäche vor; die Sache sei so lange her und sie habe in der Zeit so viel durchgemacht, daß sie sich auf Einzelheiten aus jenen Jahren gar nicht mehr erinnern könne. Witte sagte ihr darauf, es würde auch kein Mensch in sie dringen, aber sie möge sich in der Zeit besinnen. Komme das Schreiben zurück, daß sie jeder Strafe oder Verantwortung über Vergangenes entbinde, dann versprach er ihr nur, falls sie getreu und wahr Alles berichten wolle, was sie noch wisse, eine namhafte Summe, mit der ihr Sohn hier, oder wo er wolle, ein Geschäft eröffnen könne. Außerdem dürfe sie sich versichert halten, daß er zu ihr stehen werde und sie seiner Protection gewiß sei. Komme ihre Freisprechung von jeder Verantwortung aber nicht, dann brauche sie ja kein Wort zu sagen und nur dabei zu bleiben, daß sie sich auf nichts mehr besinne, und es könne ihr eben so wenig etwas geschehen.

Nachdem er die Frau solcher Art, so gut es gehen wollte, beruhigt und auch ihren Sohn überzeugt hatte, daß er wirklich keinen Hinterhalt habe, sondern es ehrlich meine, schlenderte er, in Gedanken die Vorfälle der letzten Tage noch einmal recapitulirend, langsam um die Promenade herum; er hatte für den Moment kein bestimmtes Ziel und wollte nur allein mit sich selber sein.

»Ah, mein lieber Staatsanwalt,« sagte da plötzlich die bekannte Stimme des überall und nirgends herumfahrenden Frühbach, »so pensif? Wissen Sie schon die Neuigkeit?«

»Ah, Rath!« sagte Witte, ordentlich emporfahrend, denn er hatte sich eben in Gedanken ganz allein mit dieser nämlichen Persönlichkeit beschäftigt. »Wo kommen Sie auf einmal her?«

»Lieber Gott,« sagte der Rath, »ich bin ja das geplagteste Menschenkind auf der Welt, denn ich muß lediglich meiner Verdauung wegen den halben Tag auf den Füßen sein und spazieren laufen! Ihr gesunden Menschen wißt gar nicht, wie gut Ihr daran seid – aber haben Sie schon die Neuigkeit gehört?«

»Welche Neuigkeit, lieber Rath?«

»Nun, daß der Baron von Wendelsheim gar nicht der Baron von Wendelsheim ist, sondern der Sohn vom Schlosser Baumann; die ganze Stadt ist ja voll davon.«

»Die ganze Stadt?« rief Witte wirklich in Erstaunen. »Aber durch wen, um des Himmels willen, kann nur die ganze Stadt das erfahren haben?«

»Durch mich, Freundchen,« lächelte der Rath, indem er den Staatsanwalt scherzhaft mit dem einen Finger auf die Rippen stieß, »durch mich; ich bringe alles heraus, sage ich Ihnen, Alles, die Polizei mag es geheim halten wie sie will – ich hab's.«

»Das ist in der That merkwürdig,« sagte Witte; »aber ich begreife nur nicht, wie? denn so viel ich davon gehört habe, ist die Sache noch nicht einmal bei den Gerichten genau bekannt.«

»Sehen Sie wohl, und ich weiß sie doch,« schmunzelte Frühbach.

»Und können Sie mir Ihre Quelle nicht mittheilen?« fragte Witte. »Ich versichere Ihnen, ich gäbe manchmal etwas darum, so rasch berichtet zu sein, und auf ein kleines Opfer sollte es mir dabei nicht ankommen.«

»Ich werde Ihnen den Mann recommandiren,« sagte Rath Frühbach gutmüthig – »ein paar Cigarren manchmal, ein Glas Bier oder Wein, wie es trifft, und ein bischen Freundlichkeit, das ist die Hauptsache. Man muß mit den Leuten thun, als wenn man ihres Gleichen wäre: das schmeichelt ihnen, und ich sage Ihnen, sie sind dann um den Finger zu wickeln.«

»Und wer ist der Biedermann, der Ihnen so vortreffliche Dienste leistet?«

»Mein alter Polizeidiener,« lachte Frühbach, »ich habe Ihnen ja schon von ihm erzählt, der Schultze; Christian heißt er mit Vornamen – ein famoser Kerl, und so gefällig. Die Polizei muß man sich überdies zu Freunden halten.«

»Also Christian Schultze? Danke Ihnen,« sagte Witte, »den Namen werde ich mir merken. Es ist allerdings sehr angenehm, Jemanden auf der Polizei zu haben, der an den Thüren horcht und die Sachen dann weiter erzählt.«

»Und wie sollte man's anders erfahren?« lächelte Frühbach. »Die Herren vom Gericht selber erzählen nichts, denn die haben – ich bitte tausendmal um Entschuldigung!« unterbrach er sich selber, denn in dem Augenblick klang es gerade, als ob ein Stück Baumwollenzeug von einander gerissen würde, und Rath Frühbach fand sich mit seinem breiten linken Fuße voll und schwer auf der Schleppe einer fremden Dame, die würdig vorüberrauschen wollte. Jetzt ging es nicht mehr – der ganze hintere Theil des Kleides hing herunter, und Frühbach, in aller Verlegenheit, rief: »Ach Gott, das thut mir doch unendlich leid! Aber bitte, warten Sie einen Augenblick, meine Frau steckt mir doch immer Stecknadeln in den Rock – wenn – einmal – unterwegs – wo sind sie denn nur . . .«

Die Dame schleuderte ihm einen Blick zu, der ihn rettungslos zu Boden geschmettert haben müßte, wenn er die Gewalt besessen hätte, die sie hineinlegte; dann wandte sie sich kurz ab und drehte um, wahrscheinlich um irgend ein bekanntes Haus aufzusuchen und den Schaden wieder auszubessern.

»Das ist eine verzweifelte Geschichte mit den jetzigen Damenmoden, lieber Staatsanwalt,« sagte Frühbach, als er, noch einen verlegenen Blick hinter seinem Opfer her werfend, neben Witte hin und jetzt in die Stadt hinein schritt; »ich sage Ihnen, man weiß gar nicht mehr, wo man hintreten soll, und eine Treppe hinter einer Dame hinunter zu gehen, ist, wenn man in Rufsnähe bleiben und sie nicht aus dem Gesicht verlieren will, rein unmöglich.«

»Ja,« lachte Witte, der sich über den kleinen Zwischenfall sehr amüsirt hatte, »aber machen Sie einmal etwas dagegen; da hilft alles Reden nicht. Die Mode sieht sehr elegant in den Stellen aus, worauf sie berechnet ist: im Salon oder in der eigenen Equipage; auf der Straße aber fegen die feinsten Damen eben so wohl allen Staub wie jeden Schmutz und Unrath zusammen, der in ihrem Wege liegt. Und nicht einmal die feinsten,« fuhr er fort; »sehen Sie die Dame da vor uns. Mit einer schweren, spitzenbesetzten Sammetmantille trägt sie, wie es scheint, einen Marktkorb unter derselben, und wie sieht sie dabei um die Füße herum aus – wie schlumpig.«

»Alle Teufel,« sagte der Rath, der sich seine Brille etwas in die Höhe geschoben hatte, um die bezeichnete Dame besser betrachten zu können, »das ist ja meine Frau!«

Der Staatsanwalt biß sich auf die Lippe; aber das Unglück war geschehen, und wenn man etwas Derartiges verbessern will, macht man es eher noch schlimmer. Er opferte deshalb lieber seine eigene Gattin und sagte: »Sie machen es alle so, die meinige ebenfalls.« – Es war ein großes Glück für den Staatsanwalt, daß sich seine Frau nicht in Hörweite befand.

»Aber, Frauchen, wo kommst Du denn her?« sagte der Rath zärtlich, als sie die Dame überholten, und Witte hielt den Moment für günstig, sich seitab zu drücken. Frühbach ließ aber seinen Arm nicht los.

»Vom Markt, Männi,« erwiderte die Dame in der Sammetmantille. »Und wohin willst Du? Kommst Du nicht mit nach Hause?«

»Ich wollte nur einmal zum Major hinausgehen und mit ihm über die bewußte Sache sprechen.«

»Ah, Herr Staatsanwalt,« sagte die Dame, eine Verbeugung nach einer ganz verkehrten Seite hin machend, »sehr angenehm!« Sie suchte dabei den Marktkorb zu verheimlichen, aber es ging nicht. »Hat Ihnen Männi schon erzählt?«

»Ja,« nickte Witte; »ich war auf's Aeußerste erstaunt.«

»Und Sie wußten von gar nichts? Merkwürdig! Weiß es denn Ihre Frau Gemahlin schon? Ich werde gleich nach Tische einmal zu ihr gehen. Aber mit dem Essen könnte es heute spät werden, Männi – lieber Gott, man trifft unterwegs so viele Bekannte; aber ich biege hier ab.« Und sich wieder wenigstens drei Strich aus der Linie verbeugend, nickte sie ihrem Manne zärtlich zu und – fegte weiter.

Witte hatte sich erst von dem Rath losmachen wollen; da er aber den Major als sein Ziel nannte, besann er sich eines Besseren. Er hatte doch für den Augenblick nichts Wichtiges vor und wollte sich das Vergnügen nicht entgehen lassen, Zeuge von der Ueberraschung des Majors zu sein. Frühbach sollte wenigstens den Genuß nicht allein haben. Mit der Voraussicht ließ er sich selbst unterwegs Mittheilungen aus der Schweriner Chronik machen.

Im Hause des Majors sah es übrigens, als sie dasselbe erreichten, wahrhaft trostlos aus. Der alte Major selber saß in seinem Lehnstuhl, das eine Bein lang ausgestreckt und dick mit Tüchern verbunden und in eine wollene Decke eingeschnürt – Frau von Bleßheim lag, ihren Kopf unter Kreuzband, mit geschlossenen Augen auf dem Sopha und tastete nur manchmal nach einer riesigen Schale mit Kamillenthee, die vor ihr auf einem zum Sopha gerückten Stuhl stand und mit ihrem unangenehmen Duft das ganze Zimmer erfüllte.

Aber auch die Liese hatte wieder Zahnschmerzen und winselte und erklärte, sie hielt's nun nimmer aus, und der Christian kam gerade mit einer großen Flasche Medizin, die er aus der Apotheke geholt, in's Zimmer gekrochen und kündete dem Major an, er müsse sich in's Bett legen, denn er hätte hinten am Kreuz eine Beule, und die würde jetzt wohl aufgehen oder der ganze Knochen mit herauskommen.

»Gott soll mich bewahren, Major,« rief der Staatsanwalt, als er einen Blick in der Krankenstube umher geworfen hatte, »in Ihrem Lazareth sieht's ja schlimmer aus, als je! Wie um des Himmels willen halten Sie's nur aus?«

»Ich halt's auch nicht mehr aus,« stöhnte der Major, »jetzt ist's vorbei und am Ende. Hier am Bein kommt's mir immer weiter herauf, und so wie's in den Leib tritt, dann thut der Mensch noch ein paar Schnapper, und nachher ist Schicht – dann geht der lange Urlaub an.«

»Aber Sie sehen wohl aus – nicht wahr, Rath?«

»Vortrefflich,« bestätigte dieser – »ordentlich rothe Backen.«

»Oh Du mein Jesus,« stöhnte der Kranke, »das auch noch – ich kann kein Glied mehr rühren! Der Lump, der Christian, jammert in einem fort über sein Kreuz mit einer Beule dran – wollte Gott, ich hätte nur eine Beule, damit das Elend da einmal an die Luft käme; aber so sitzt's innerlich und frißt sich immer weiter hinein.«

»Versündigen Sie sich nicht,« sagte Christian feierlich, »so 'ne Beule, wie ich habe, soll sich wahrhaftig kein Christenmensch wünschen – ich wünschte sie wenigstens meinem ärgsten Feinde nicht – und das Stechen, oh Du mein blutiger Heiland, ich wollte, ich wäre todt!«

»Von mir red't Keiner 'was,« winselte die Liese, »und wenn's mir auch die Kinnbacken auseinander reißt. Ja wohl, das ist ja nur die alte Liese, und so lange die nur herumkriecht und ihre Arbeit thut, mag's sie in den Zähnen reißen, so viel wie's will – wer schiert sich drum?« – Und damit ging sie hinaus und schlug die Thür hinter sich zu, daß die Fenster klirrten.

Aber den Rath Frühbach litt's nicht länger; das Geheimniß drückte ihm fast die Seele ab.

»Haben Sie's schon gehört, Major?« rief er, »die Wendelsheim'sche Geschichte ist zum Ausbruch gekommen!«

»Was für eine Wendelsheim'sche Geschichte?« stöhnte dieser. »Ich weiß von nichts. Was soll ich hier hören? Mir erzählt kein Deubel 'was.«

»Aber deshalb sind wir Beide ja gerade zu Ihnen herausgekommen!« rief der Rath.

»Wegen der Wendelsheim'sche Geschichte? Hat sich das alte – oh mein Bein! – hat sich das alte Frauenzimmer noch nicht beruhigt? Daß sie der Henker hole! Und auf der Fahrt damals, Rath, habe ich mir meinen letzten Rest geholt. Die Erkältung ist mir in dasselbe Bein geschlagen, mit dem ich damals an dem offnen Leder saß – und Ihr verfluchter Aepfelwein!« Er biß die Zähne zusammen und schlug mit der Faust auf die eine Lehne seines Stuhles.

»Ob sich die noch nicht beruhigt hat?« lachte der Rath. »Na, ich danke, die wird beruhigt werden. Hatte ich denn nicht etwa Recht und ist es jetzt anders gekommen, als ich es mir die ganze Zeit gedacht?«

»Hol' Sie der Teufel, Rath!« rief der Major, vor innerlichem Schmerz die Zähne zusammenbeißend und ein jämmerliches Gesicht ziehend. »Ich liege hier so schon auf der Folter, und Sie kommen nun auch noch, um mich zu langweilen. Ich verstehe kein Wort von Allem, was Sie sagen.«

»Sie verstehen nicht, was ich sage? Die Wendelsheim'sche Geschichte ist zum Ausbruch gekommen, sag' ich, der Kindertausch constatirt und festgestellt. Das Fräulein von Wendelsheim steckt mit drin und war gestern schon deshalb im Verhör, und die Frau Müller ebenfalls. Polizei auf dem Schlosse draußen, bis der richtige Erbe ermittelt ist – der Lieutenant von Wendelsheim abgesetzt – die ganze Stadt in Aufruhr . . .«

»Hurrah!« schrie plötzlich der Major, von seinem Stuhl emporspringend und Gicht, Umschläge, Beine, Rücken, Kreuz und wie die Schlachtfelder seiner verschiedenen Krankheiten alle hießen, ganz vergessend, »hurrah, hurrah, hurrah hoch!«

»Und der Baron von Wendelsheim ist verrückt geworden,« sagte der Rath.

»Und noch einmal hurrah!« schrie der Major, daß Frau von Bleßheim von ihrem Sopha emporfuhr und die Liese den verbundenen Kopf erschreckt wieder in die Thür hereinsteckte und rief: »Na um des Erlösers willen, was ist denn nu los?«

»Liese,« rief der Major, der einen allerdings nicht recht glückenden Versuch machte, auf dem einen Bein zu stehen und das andere, kranke, emporzuheben, »kommen Sie 'mal herein.«

»Was soll ich denn?«

»Was hab' ich Ihr versprochen, wenn die Wendelsheim'sche Lumperei an den Tag kommt und die ihr Recht kriegen, denen es gebührt?«

»Fünf Thaler, Herr Major; aber die stehen im Schornstein,« knurrte die alte Magd. »Wenn ich das Alles kriegen sollte, was Sie mir schon versprochen haben!«

»Hier sind sie, Liese,« rief der Major und schleppte sein linkes Bein dem Tische zu, in dessen Schieblade er seine Brieftasche liegen hatte; »da – da sind die fünf Thaler, und noch einmal hurrah!«

»Und ich kriege wieder gar nichts!« ächzte Christian.

»Ihr sollt auch einen haben, alter Schwede – damit geht in die Apotheke und laßt Euch Euer erbärmliches Kreuz einreiben. Und hier, reißt mir einmal den alten wollenen Fetzen herunter und gebt mir die Tuchstiefeln her, und meinen Rock, Liese, und die Mütze.«

»Aber wohin willst Du denn nur, um alle Heiligen,« wimmerte Frau von Bleßheim. »Was hast Du nur vor?«

»Auf's Amt, natürlich,« rief der Major, »die Erbschaft augenblicklich mit Beschlag belegen! Witte ist ja deshalb nur herausgekommen. Nicht wahr, Staatsanwalt, Sie gehen mit?«

»Wenn Sie wünschen, warum nicht?« erwiderte dieser, der sich im Stillen nicht wenig über den sehr nutzlosen Jubel des Majors gefreut hatte. »Aber ich glaube, Sie können sich den Weg ersparen.«

»Nein,« sagte der Major entschieden, indem er sich wieder auf seinen Stuhl setzte und die Decke abzuschälen anfing – »muß selber dabei sein – halte ich für meine Pflicht, so lange ich nur noch kriechen kann.«

»Aber was wollen Sie oben?«

»Sie haben es ja eben gehört. Protest einlegen, daß die Erbschaft nicht an die Wendelsheim'sche Familie ausgezahlt wird, nicht einen Groschen sollen sie jetzt kriegen, nicht einen rothen Heller!«

»Aber, bester Major, wie wollen Sie das hindern?«

»Wie ich das hindern will? Lautet die Erbschafts-Clausel nicht, daß nur in dem Fall männlicher Nachkommenschaft – ehelicher, versteht sich – das Vermögen an diese Familie ausgezahlt werden soll? Wenn aber jetzt bewiesen wird, daß der Sohn gar nicht der Sohn des Barons ist – und habe ich es Ihnen nicht immer und immer gesagt, Staatsanwalt? – wenn ein Kindertausch stattgefunden hat, an und für sich schon ein Verbrechen, so ist die Gesellschaft futsch! Meine Stiefel, Christian!«

»Ja, lieber Major,« sagte der Staatsanwalt, »da das vertauschte Kind aber ebenfalls ein Sohn ist, so geht doch sicherlich die Erbschaft auf diesen über.«

»Ein Sohn?« schrie der Major und blieb vor Schrecken halb in seinem Stiefel stecken.

»Aber das ist ja gar nicht möglich,« rief Frühbach, »die Frau Müller hat ja nur eine Tochter!«

»Die Frau Müller,« sagte der Staatsanwalt, »hat mit der Sache gar nichts zu thun; sie ist vollkommen unbetheiligt dabei und jene Frau Müller eine ganz andere. Ihr Polizeidiener hat da nicht richtig aufgepaßt. Die Heßberger hat die beiden Söhne, den der Schlossersfrau Baumann und den der Baronin, ausgetauscht und den Baron glauben machen, es sei ein Mädchen gewesen, um den Lohn zu bekommen. Das ist die ganze Geschichte.«

»Aber ein Schlosserssohn,« sagte Rath Frühbach ganz verwirrt, »kann unmöglich Baron werden und eine halbe Million erben!«

»Und warum nicht? Eben so gut, wie schon mancher Baron Schlosser geworden ist; gehen Sie nur einmal hinüber nach Amerika.«

»Oh Gott, mein Bein!« stöhnte der Major und sank mit dem halb angezogenen Stiefel wieder in seinen Stuhl zurück. »Christian, Esel, so zieht mir doch den verdammten Stiefel ab; Ihr seht ja, daß ich es vor Schmerzen kaum aushalten kann – ah, wie das brennt!«

»Aber ich begreife gar nicht,« bemerkte Rath Frühbach, der Witte verwundert ansah – »ich glaubte, Sie wüßten noch gar nichts von der ganzen Sache, und jetzt . . .«

»Weiß ich mehr davon, als Ihr Christian Schultze, wie?« lachte Witte. »Ja, lieber Major, beruhigen Sie sich. Allerdings hatten Sie mit Ihrem Verdacht, daß in der Familie Wendelsheim falsches Spiel getrieben wäre, vollkommen Recht; der einzige Fehler war nur, daß dieser Verdacht – und sehr natürlicher Weise – nach einem ausgetauschten Mädchen suchte. Sie wissen ja, wie wir damals selbst bei Baumanns nachgeforscht haben, aber wer dachte an so etwas?«

»Oh, mein Bein!« stöhnte der Major; »Christian, das zieht hier – wickelt mir doch die Decke um. Liese, die fünf Thaler hat Sie auf der Straße gefunden – oh Gott, die Schmerzen!«

Frau von Bleßheim lag schon wieder ausgestreckt auf dem Sopha, und nur die Liese schien ihre Zahnschmerzen vergessen oder wenigstens für den Augenblick bei Seite geschoben zu haben, denn sie betrachtete sich immer verstohlen die fünf Thaler, die wahrscheinlich nicht so häufig in diesem Hause des Jammers abfallen mochten.

Witte hatte aber jetzt seinen Zweck erreicht, und der Rath Frühbach saß ebenfalls wie auf Kohlen, da er sich von seiner Neuigkeit einen ganz andern Erfolg versprochen. Ehe er sich aber nur so weit entschließen konnte, ob er gehen oder bleiben sollte, hatte Witte nach seinem Hut gegriffen, dem Major – der ihm aber gar nicht antwortete – einen kurzen Gruß zugerufen und war auch gleich darauf im Freien draußen, wo er tüchtig ausschritt.

Frühbach mußte es doch ebenfalls für das Beste gehalten haben, sich zu entfernen; als er aber auf die Straße trat, sah er den Staatsanwalt schon in weiter Ferne und mußte den Versuch aufgeben, ihn einzuholen und sich noch weiter mit ihm auszusprechen, denn auf sein Rufen drehte sich der Davoneilende gar nicht um.



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