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Das Versteck der gestohlenen Sachen war wirklich außerordentlich schlau angelegt und die Klappe so genau gearbeitet, daß sie, noch dazu mit dem Kohlenstaub überzogen, nur bei einer vollkommen gründlichen Untersuchung entdeckt werden konnte. Selbst das Blitzen des Eisens im Lichte schien Heßberger vorgesehen und abgewendet zu haben, denn dasselbe war mit schwarzer Farbe überstrichen, diese aber durch den mehrfachen Gebrauch des zum Heben benutzten Hakens an einigen Stellen abgescheuert worden, was denn einzig und allein zur Entdeckung führte.
Heßberger, der zuerst einen verzweifelten Versuch gemacht hatte, zu entkommen, saß jetzt wie völlig ineinander gebrochen am Boden; er hatte nicht mehr Kraft genug in den Knieen, um aufrecht zu stehen. Seine Frau dagegen behauptete nach wie vor ihre starre Ruhe und Unschuld. Finster blickte sie auf die vor ihr ausgebreiteten Waaren und Kostbarkeiten, die nach und nach aus dem Gefach herausgearbeitet wurden und von denen einzelne Stücke schon sehr lange dort unten gelegen haben mußten, denn sie waren wie mit einer Staubkruste überzogen; aber sie leugnete, auch nur das Geringste davon zu wissen. Sie sei, wie sie behauptete, eine ehrliche Frau, die sich mit ihrer »Kunst«, mit ihrer Arbeit nähre, aber noch nie daran gedacht habe, zu einem unehrlichen Erwerb zu greifen. Sei das wirklich von ihrem Mann geschehen, so wisse sie nichts davon, oder sie hätte es nie geduldet; er müsse es heimlich gethan haben, wie er die Gegenstände ja auch, ihr selbst verborgen, heimlich versteckt und weggebracht habe.
Dem Polizei-Commissar lag übrigens gar nichts daran, hier ein langes Verhör anzustellen, und wie sie das Fach ordentlich ausgeräumt und Alles, selbst das Letzte, heraufbefördert hatten, ertheilte er Befehl, das gestohlene Gut fortzuschaffen und die beiden Eheleute ebenfalls in sichern Gewahrsam zu bringen. Er schärfte aber den Polizeidienern ganz besonders ein, sie getrennt zu halten und unter keiner Bedingung zu gestatten, daß sie auch nur ein Wort mit einander wechselten.
Unten im Hause war es indessen auch unruhig geworden, denn es konnte den tiefer wohnenden Miethsleuten kein Geheimniß bleiben, daß in der obern Etage etwas Außerordentliches vorgehe. Schon der Kampf des Schuhmachers an der Treppe, als er seinen Durchgang erzwingen wollte, hatte sie alarmirt und auf den Flur gelockt; allerdings staunten sie wenig, als sie den kleinen »frommen« Schuhmacher in solcher Begleitung die Treppe herabsteigen sahen. Heßberger selber beeilte sich aber, ihnen aus dem Weg zu kommen, und wenige Stunden später lag das Quartier da oben, da man die beiden Lehrjungen ebenfalls für die Nacht wo anders unterbrachte und die Thüren versiegelte, dunkel und verlassen.
Witte indessen, mit dem gehabten Erfolg, der allerdings über Erwarten reich und wichtig ausgefallen war, sehr zufrieden, schritt seiner eigenen Wohnung zu. Dabei überkam ihn aber doch ein etwas unbehagliches Gefühl, denn es war ihm entsetzlich fatal, seine eigene Frau in der Gesellschaft überrascht zu haben. Und was die Frau Staatsanwalt nun wohl dazu sagen würde? – Sie sagte aber heut Abend gar nichts, denn sie ließ sich vor ihrem Mann nicht mehr blicken, und er selber unterstützte sie darin. Morgen, bei kaltem Blute, besprach sich die Sache weit besser, oder sie wurde auch vielleicht total ignorirt; er wenigstens war fest entschlossen, nicht wieder davon anzufangen.
Uebrigens sah er sich auch an dem Tag so beschäftigt – oder machte sich vielleicht absichtlich so viel zu thun –, daß er selbst zum Mittagessen nicht nach Hause kam und absagen ließ, und während seiner Geschäftsstunden störte ihn die Frau schon überdies nicht, oder suchte ihn auf.
Am Morgen, zur bestimmten Zeit, kam aber der alte Baumann zu ihm, und mit diesem hatte er eine lange und ernste Unterredung. Baumann nämlich wollte gleich hinauf auf's Gericht und selber Anzeige von dem Betrug seiner Frau machen. Den Vorfall bei Heßbergers wußte er auch schon, und er erklärte bestimmt, mit der ganzen Familie fortan zu brechen. Witte hatte die größte Mühe, ihm das auszureden, und es gelang ihm wirklich nur dadurch, daß er den Schlossermeister darauf aufmerksam machte, die Verhaftung seiner Frau würde durch den Stadtklatsch nicht etwa mit einer andern Angelegenheit, sondern augenblicklich mit dem Diebstahl in Verbindung gebracht werden, und das mußten sie jetzt zu vermeiden suchen.
»Also wollen Sie mich zum Hehler einer solchen Sünde machen?«
»Nein, lieber Baumann,« erwiderte Witte, »ich weiß, daß Sie ein rechtlicher Mann sind, und Sie trauen mir hoffentlich das Nämliche zu. Ich würde Ihnen also zu nichts rathen, was nicht Sie, was nicht ich vor meinem Gewissen verantworten könnte; Sie sind vor jeder Verantwortung frei. Ihre Frau sowohl als Sie jetzt haben mir, dem Staatsanwalt, die Erklärung abgegeben und mich aufgefordert, die Rechte des wirklichen Erben vor Gericht zu vertreten; überlassen Sie mir also auch, den Zeitpunkt zu wählen, den ich dazu für den richtigen halte. Außerdem haben wir jetzt die beiden Leute, deren Zeugniß allein den Ausschlag geben kann, ganz unerwarteter Weise hinter Schloß und Riegel bekommen, und die Sache ist uns dadurch um ein Wesentliches erleichtert worden. Aber beantworten Sie mir eine Frage: hat Ihr Fritz je mit seinem vermeintlichen Onkel, dem Schuhmacher Heßberger, einen näheren Verkehr gehalten?«
»Nie,« sagte der alte Mann; »sie konnten sich gegenseitig nicht leiden, und ich glaube sogar nicht, daß sie seit Jahren ein Wort mit einander gesprochen haben.«
»Das dachte ich mir. Aber wissen Sie, daß unter den gestern bei Heßberger gefundenen Sachen werthvolle Gegenstände aus Salomon's Laden sind?«
»Großer Gott, sollte denn der schuftige Schuhmacher auch das auf dem Gewissen haben?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach; aber das wollen wir bald herausbekommen, denn Salomon, obgleich er den Namen des Diebes nicht weiß, kennt ihn von Angesicht gut genug, und wenn er . . .«
»Aber der alte Salomon ist ja todt!«
»Denkt gar nicht daran,« lachte Witte – »wieder frisch und gesund, nur noch ein bischen schwach aus den Füßen. Wir glaubten durch das Gerücht seines Todes den Mörder sicher zu machen; aber Heßberger, wenn er es wirklich gewesen, war uns zu schlau, und hätte ihn nicht der wunderlichste Zufall dem Gericht in die Hände gespielt, so würde kein Mensch geahnt haben, daß er mit dem Verbrechen in Verbindung stände.«
»Aber werden sie jetzt nicht erst recht glauben, daß der Fritz mit seinem Onkel unter einer Decke gesteckt habe, und müssen wir deshalb nicht gerade beweisen, daß er gar nicht sein Onkel ist?«
»Das Erste habe ich auch gefürchtet, das Zweite wäre aber kein Beweis für ihn, denn er konnte bis jetzt nichts davon wissen. Nein, überlassen Sie mir getrost die Sache, Baumann, und Sie können sich versichert halten, daß Sie nicht allein kein Vorwurf trifft und treffen kann, sondern daß ich auch so rasch als irgend möglich damit vorschreite.«
Baumann war aufgestanden; aber er zögerte, er hatte allem Anschein nach noch etwas auf dem Herzen.
»Drückt Sie noch etwas, Baumann?«
»Ja, Herr Staatsanwalt; eine Bitte . . .«
»Und was ist es?«
»Ich wollte Sie ersuchen,« sagte der Mann, »die – Scheidungsklage mit meiner Frau einzuleiten. Ich glaube, daß Sie das zu besorgen haben.«
»Baumann!«
»Wir haben sechsundzwanzig Jahre glücklich mit einander gelebt,« fuhr der Schlossermeister fort, »so glücklich,« setzte er leise hinzu, »daß ich bis jetzt glaubte, nur der Tod könne und werde uns voneinander nehmen. Das ist vorbei. Nach dem, was sie mir angethan, daß sie mein, daß sie ihr eigenes Kind verkaufte, kann ich nicht länger mit ihr leben – es muß sein!«
»Ueberlegen Sie sich die Sache noch, Baumann,« sagte Witte herzlich; »das hat Zeit – übereilen Sie nichts. Sie sind jetzt im ersten Schmerz und Zorn.«
»Es ist nichts mehr zu überlegen, Herr Staatsanwalt,« beharrte der alte Mann; »was ich gesagt habe, hab ich gesagt, und dabei bleibt es. Kein Mensch in der Welt wird mich davon abbringen können, wenn ich mit mir selber erst einmal im Reinen bin, daß es geschehen muß!«
»Aber Ihre Frau ist sonst so brav und gut – Sie haben nie eine Klage wider sie gehabt!«
»Nie,« sagte der Mann feierlich, »nie ist selbst nur ein böses Wort zwischen uns gefallen, und Gott mag ihr, das bitte ich recht von Herzen, den Fehltritt vergeben – ich kann es nicht! Grund genug ist doch zu einer Scheidungsklage?«
Witte sah, daß er mit dem alten, störrischen Manne jetzt doch nichts ausrichten konnte. »Ich glaube, ja,« sagte er endlich nach einigem Zögern, »und wenn Sie es nicht anders wollen, so läßt es sich wohl durchsetzen.«
»Und wann darf ich wieder vorfragen?«
»Ich komme selber zu Ihnen, Baumann. Ich will jetzt auf das Criminalamt, um bei der Untersuchung der gestohlenen Gegenstände gegenwärtig zu sein. Heute nimmt uns das vollständig in Anspruch, und wir müssen vor allen Dingen sehen, daß wir den armen Teufel, den Fritz, aus seiner unbequemen Lage befreien.«
»Der arme Junge,« sagte Baumann seufzend, »wie ist dem seine ganze Jugend gestohlen worden!«
»Darüber möchten Sie ihn doch erst einmal selber fragen,« meinte der Staatsanwalt, »und ich zweifle sehr, ob er – nach Allem, was ich wenigstens über das Leben auf Schloß Wendelsheim gehört habe – mit dem Lieutenant tauschen würde.«
Der alte Baumann seufzte tief auf. Er war bis dahin schlicht und ehrlich, immer geradeaus durch das Leben gegangen und hatte in der That gar keinen andern Weg für möglich gehalten. Jetzt fand er sich plötzlich in lauter krummen und fremdartigen Gängen – mit eigentlich zwei Söhnen und keinem –, verwickelt und verworren, in Lug und Trug hineingebracht, und sah dabei keinen Ausweg, wieder heraus und auf freien Boden zu kommen. Aber er mußte eben stillhalten, es ließ sich mit seinen arbeitsharten Fäusten, mit seinem schlichten Menschenverstand nichts in der Sache thun; das erforderte feine Hände und einen spitzen Kopf, und schon von dem Bewußtsein niedergedrückt, reichte er dem Staatsanwalt nur noch die Hand und kehrte nach Hause zurück.
Witte eilte auf das Criminalamt, und dort erwartete ihn allerdings heute eine so interessante als lohnende Beschäftigung, nämlich die Besichtigung der gestohlenen Waaren, zu der man aber auch den alten Salomon brauchte. Jetzt lag auch nichts mehr daran, das Gerücht seines Todes im Publikum verbreitet zu halten, da man den wirklichen Dieb schon in den Händen zu haben glaubte, und als auch der Polizeiarzt versicherte, Salomon könne ohne die geringste Gefahr für sich selber auf's Amt kommen, und sich sogar erbot ihn abzuholen, so wurde eine Droschke beordert, und der mitfahrende Doctor dirigirte sie der Judengasse zu.
Salomon hätte übrigens kaum mehr der Droschke bedurft, so rasch hatte er sich, wie nur die erste Betäubung von ihm gewichen, wieder erholt. Die beiden Wunden verlangten allerdings noch Pflege, aber es stellte sich auch bald heraus, daß die Schläge, obgleich mit voller Kraft und jedenfalls in der Absicht, zu tödten, geführt, doch beide mehr seitwärts abgeglitten waren und den Schädel nicht zersprengt hatten, und danach konnte die Heilung bald erfolgen.
Dem Alten ließ es auch selber keine Ruhe, und schon am zweiten Tage drängte er, in seinem Laden nachzusehen, wie weit er an seinem Eigenthum geschädigt worden. Aber Rebekka erlaubte es nicht. Er sollte sich noch nicht aufregen, wenn er den Verlust vielleicht größer fand, als er erwartet hatte. Am dritten Abend aber mußte sie ihm willfahren, und nach Dunkelwerden, damit ihn nicht etwa Jemand aus den Hinterfenstern der Nachbarhäuser bemerke, stieg er in Begleitung der Tochter hinunter und nahm eine genaue Revision vor.
Der erlittene Diebstahl stellte sich aber als gar nicht so beträchtlich heraus, denn mit Ausnahme eines Packets von Kassenscheinen, das mehrere hundert Thaler betrug, fehlten ihm nur noch einige, allerdings ziemlich werthvolle Silbersachen und eine goldene, mit Diamanten besetzte Schnupftabaksdose. Der Dieb war, wie man ja wußte, mitten in seiner Arbeit gestört worden, und hatte so eilig fliehen müssen, um selbst den Sack mit Silberthalern, der sich noch an der Thür gefunden, im Stich zu lassen.
Am vierten Morgen nach der That saß der alte Mann oben beim Frühstück, als er draußen laute Stimmen hörte. In der Nachbarschaft herrschte nämlich nicht geringe Aufregung unter seinen Glaubensgenossen, daß die Beerdigung des lange Todtgeglaubten noch nicht stattfand und auch keiner der sonst üblichen Gebräuche befolgt wurde. Die abenteuerlichsten Gerüchte durchliefen dabei das Viertel, und eins der am stärksten verbreiteten war, der Salomon wäre vor seinem Tode heimlich mit der ganzen Familie zum Christenthum übergetreten und deshalb eben so heimlich in der letzten Nacht auf einem christlichen Gottesacker beerdigt worden.
Indessen war aber auch ein naher Verwandter von ihm, der in Berlin wohnte und von dem Raubmord dort in den Zeitungen gelesen hatte, eingetroffen und an dem nämlichen Morgen, trotzdem er seinen Namen angab, nicht eingelassen worden. Die alte Magd hatte ihn abgewiesen, weil sie natürlich nicht wagte, einem von der Polizei gegebenen Befehl zuwider zu handeln. Der alte Salomon wurde aber böse, als er es erfuhr.
Gott der Gerechte, der Simon Levy abgewiesen von seiner Thür, seiner einzigen Schwester einziges Kind, der die lange Reise gemacht hatte nur seinetwegen!
Aber der Herr Actuar hatte so streng befohlen.
»Der Herr Actuar soll befehlen, wo er will,« sagte der alte Mann, »aber nicht im eigenen Hause vom Salomon und in seiner Familie, so lange der Salomon lebt und gesund ist; und wenn er todt wäre, hätte er erst recht nichts zu befehlen, denn dann ist die Frau vom Salomon da, wo das Alles besorgt, was zu befehlen ist.«
Der Simon Levy hatte sich aber ohne dies nicht so rasch abweisen lassen, denn noch war er kaum zweihundert Schritt vom Hause entfernt und immer mit sich selber im Zorn sprechend und vor sich hin gesticulirend fortgegangen, als er auch plötzlich, auf dem Absatz herumfahrend, Kehrt machte und jetzt fest entschlossen schien, das Haus von seiner Mutter Bruder nicht eher zu verlassen, bis er wenigstens seine Tante gesehen und gesprochen und von ihr die Bestätigung dessen gehört hatte, was die Leute in der Judengasse erzählten. Nachher wollte er den Staub von seinen Füßen schütteln und nach Berlin zurückfahren auf der Eisenbahn.
Wie er zum zweiten Mal in den Hof kam, begegnete er wieder der alten Magd, die gerade ausgeschickt worden, um ihn auszusuchen. Sie hatte aber strengen Befehl bekommen, dem Simon Levy nicht zu sagen, daß der Salomon noch lebe und gesund sei, sondern sie sollte ihn nur zu der Frau bestellen und ihn dann in das Zimmer führen, wo Salomon noch immer bei seinem Frühstück saß. Die Alte kam auch der Ordre genau nach.
»Herr Levy,« sagte sie, »ist mir lieb, daß ich Sie treffe; sparen Sie mir doch einen langen Weg für meine kurzen Beine.«
»Ist die Madame Salomon zu Hause?«
»Ist sie,« nickte die alte Magd, »und sitzt oben in der Stube und wartet auf den Herrn Levy, und die Fräulein Rebekka auch.«
»Und wozu hast Du mir vorgeschmust, ich dürfe nicht hinauf!« sagte der kleine Mann ärgerlich. »Bin ich ein Landstreicher, daß ich werde fortgewiesen von der Thür von meine nächsten Verwandten?«
»Als Sie wollen näher treten, wird Ihnen die Madame Salomon erklären; in der großen Betrübniß darf man's verzeihen und man soll keinen Zorn bringen in ein Haus der Trauer.«
»Soll ich leben und gesund bleiben,« sagte Levy, »ob's nicht eine schreckliche Geschichte ist! Aber, Rachel,« setzte er leise und scheu hinzu, »bist Du auch geworden eine christliche Dienstmagd?«
Die Alte schmunzelte still vor sich hin, denn sie wußte gut genug, was sich die Leute in der Nachbarschaft erzählten; aber sie beantwortete die Frage nicht, sondern seufzte nur tief auf und eilte dann rasch die Treppe hinan, um den Besuch zu melden. Der Simon Levy folgte ihr langsamer. Er war auf die Tante böse gewesen; jetzt beschlich ihn ein Gefühl der Trauer und Bekümmerniß, und mit gebücktem Haupt klopfte er an und öffnete auf den feierlich gegebenen Anruf langsam die Thür.
»Gott der Gerechte, Simon, was schneidet Du für ein Gesicht!« sagte schmunzelnd der alte Salomon, der, mit einem Glase alten Portweins in der Hand, noch am Tisch bei seinem Frühstück saß. »Als Du kommst zu sein bei der Leichenfeierlichkeit, wirst Du erst essen einen Bissen Brod und trinken ein Glas Wein.«
»Will ich nicht gesund auf meine Füß stehen!« rief Levy, fast sprachlos vor Staunen und Ueberraschung; »ist das Sitte bei die Christen, daß der, wo begraben werden soll, erst mit frühstückt?«
Der alte Salomon lachte, daß ihm die Thränen an den Backen herunterliefen, und jetzt kamen auch seine Frau und Rebekka hinzu, und im Anfang konnte wirklich Niemand sein eigenes Wort verstehen, so rief Alles durcheinander und wollte fragen oder erzählen, bis denn der Neffe endlich erfuhr, wie Alles gegangen und weshalb der alte Salomon beinahe vier Tage lang den Todten gespielt hatte.
Noch während sie aber mit einander plauderten und der Simon Levy eine ganze Menge Portwein trank, nur um den Schreck hinunter zu spülen, den er, wie er sagte, von der »Erscheinung« seines alten Onkels gehabt, fuhr der Wagen des Arztes vor; und der Doctor, der gleich selber heraufkam und in großer Eile zu sein schien, sich aber augenblicklich mit an den Tisch setzte und alten Portwein trank, berichtete indessen von dem Fange, den die Polizei gestern Abend gemacht und wie man die Gewißheit habe, daß der Schuhmacher Heßberger, wenn nicht der Hauptthäter, doch jedenfalls ein Genosse jenes Menschen sei, der an dem Abend den Mordanfall auf Salomon gemacht. Jetzt sei es deshalb auch nicht mehr nöthig, der Nachbarschaft die Wahrheit vorzuenthalten, und Salomon möge deshalb mit ihm in die Droschke steigen und auf die Polizei fahren, um die aufgebrachten Sachen selber zu besichtigen. Nachher solle ihm der Gefangene vorgeführt werden, damit er bestimmen möge, ob er in ihm den Räuber wiedererkenne.
Salomon war mit Allem einverstanden und mußte sich nur vorher ankleiden, und jetzt ließ sich auch Simon Levy nicht mehr halten, um zuerst die Neuigkeit von Salomon's Auferstehung in die Nachbarschaft zu tragen.
Und das gab einen Lärm im Viertel! Aus allen Häusern kamen sie herausgestürzt, um die Wundermähr zu besprechen; die schmutzigsten Spelunken spieen ihre Bewohner aus, und Toiletten kamen zum Vorschein, wie sie bisher nur von »Nacht und Grauen« bedeckt gewesen, und auch nur wirklich durch ein solches Ereigniß in das Sonnenlicht getrieben werden konnten. Vor Salomon's Hofthor sammelte sich aber der Schwarm von Israels Nachkommenschaft: Männer, Weiber und Kinder, Alles bunt durcheinander; denn dort mußte er in den Wagen steigen und also auch herauskommen. Salomon war unter seinen Glaubensgenossen, besonders bei den ärmeren Klassen, allgemein beliebt, und kein Haus gab es da, wo er nicht, sowie Frau und Tochter, schon Wohlthaten und Trost gespendet und manche Thräne getrocknet hatte. Die Freude, den guten alten Mann nicht todt, sondern lebend und gesund zu wissen, war deshalb allgemein.
Endlich nahte der entscheidende Moment; das Hofthor wurde geöffnet, und Salomon, in seinem gewöhnlichen braunen Rock, das Käppchen auf, wie er immer ging, trat heraus. In demselben Augenblick aber entstand auch ein Lärm, ein Geheul und Geschrei, Jubeln und Hurrahrufen, daß aus den benachbarten Straßen die Menschen herbeigestürzt kamen, weil sie glaubten, im Judenviertel sei eine Revolution ausgebrochen. Die Jungen warfen dazu ihre schmierigen Mützen in die Höhe, die Frauen schwenkten in Ermangelung von Taschentüchern ihre Halstücher, die Kinder schrieen, die Hunde bellten, es war in der That eine nicht zu beschreibende Scene, Salomon wurde auch wirklich ganz gerührt davon; die Thränen standen dem alten Mann in den Augen, und er winkte nur immer, während sich der Arzt die Ohren zuhielt, nach rechts und links mit der Hand hinüber, und eilte dabei, was er konnte, in den Wagen, nur um fortzukommen. Aber das half ihm nicht einmal, denn der jugendliche Schwarm folgte ihm, so weit seine Grenze reichte, mit Jubeln und Hurrahschreien, und zog sich nur erst zurück, als die Droschke in eine der Hauptstraßen der Stadt einbog, wohin sich die kleine Bande nicht getraute.
Auf der Polizei erwartete ihn schon der Polizei-Director, der sich selber von dem Thatbestand überzeugen wollte, da der Fall wirklich Aufsehen im Lande gemacht hatte. War doch seit langer Zeit kein so frecher Raubanfall in ganz Alburg vorgekommen und gerade dieser Ort von schlechtem Gesindel bis jetzt verhältnißmäßig sehr wenig heimgesucht worden! Die Sachen hatte man alle oben im Criminalamt auf einer langen Tafel ordentlich ausgelegt, und es fiel dem alten Mann nicht schwer, das darunter zu bezeichnen, was ihm gehört hatte und ihm an jenem Abend geraubt worden, denn seit der Zeit war ja sein Laden fest verschlossen gewesen. Auch die Summe der Banknoten gab er an, die ihm gestohlen worden, und man hatte allerdings in einer silbernen Zuckerdose eine Partie Banknoten, einen Theil derselben aber auch an Heßberger's Körper gefunden, bei dem sich, als er visitirt wurde, ergab, daß er einen breiten Gurt von wasserdichtem Zeug um den Leib trug.
Die Hauptsache blieb noch übrig, und zwar eine Confrontation mit dem Verbrecher, der jetzt herbeordert wurde, während Salomon so lange in ein Nebenzimmer treten mußte. Das erste Verhör sollte in Gegenwart des gestohlenen Gutes stattfinden, und man wollte versuchen, ob man vielleicht ein offenes Geständniß von dem Verbrecher erhalten könne.
Darin hatte man sich aber in Heßberger geirrt; denn mit einer ganzen Nacht Zeit, um über Alles gehörig nachzudenken, schien er zu dem Entschluß gekommen zu sein, Alles zu leugnen; es war das letzte verzweifelte Mittel, um einen Urteilsspruch von sich abzuwenden – er wußte wenigstens kein anderes. – Actuar Bessel führte heute das Protokoll, während einer der Justizräthe das Verhör leiten sollte. Der Polizei-Direktor war nur als stummer Zeuge im Zimmer geblieben.
Heßberger wurde vorgeführt; er sah ziemlich blaß aus, und die Hausjacke, die er angehabt, als man ihn gefangen fortführte, war ihm bei dem gestrigen Kampf an der Treppe zerrissen, so daß das eine Schulterblatt herunterhing. Schmutzig und scheu, aber doch mit einer Art von kriechender Höflichkeit trat er in den Saal, und die kleinen grauen Augen flogen blitzschnell durch den innern Raum und streiften nur flüchtig über die ausgestellten Gegenstände, die er jedenfalls genau genug kannte, aber doch nicht zu beachten schien.
Die gewöhnlichen Fragen wurden ihm jetzt vorgelegt: nach Namen und Alter, wie lange er schon in Alburg wohne, lauter Dinge, welche die Polizei genau so gut wußte, wie er selber – und ob er schon jemals vor Gericht gestanden. Letzteres verneinte er auf das Entschiedenste, und wollte noch eben hinzusetzen, daß er ein ganz unbescholtener Bürger wäre, als ihm der Untersuchungsrichter das Wort abschnitt und ihn fragte, wie er zu den Sachen gekommen wäre, die dort auf dem Tische ausgebreitet lägen.
»Herr Geheimer Justizrath,« sagte der Mann, indem er jetzt zu dem Tisch trat und die Gegenstände dem Anschein nach aufmerksam betrachtete, »es thut mir leid, darüber keine Wissenschaft zu besitzen; ich habe das Logis jetzt lange Jahre, aber nie geglaubt, daß in meinem Kohlenkeller ein solcher Schatz begraben läge, oder ich würde gewiß nicht versäumt haben, dem Herrn Geheimen Polizei-Director davon die gebührende Anzeige zu machen.«
»Ihr leugnet also, daß Ihr etwas von dem Erwerb dieser sämmtlichen Gegenstände wißt und die Eigenthümer, denen sie früher gehört haben, kennt?«
»Aber, mein bester Herr Geheimer Justizrath . . .«
»Ja oder Nein?«
»Bitte mich zu paddoniren, ich habe die Frage nicht verstanden,« sagte der Mann ruhig.
Der Justizrath biß sich auf die Lippe. »Ich frage Euch, ob Ihr wißt, woher die Sachen stammen, oder ob Ihr es nicht wißt.«
Staatsanwalt Witte trat in diesem Augenblick in's Zimmer und ging auf den Justizrath zu, dem er etwas in's Ohr flüsterte.
Heßberger warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte dann entschieden: »Nein!«
»Herr Staatsanwalt,« fragte der Justizrath, »ist Ihnen nicht auch in der letzten Zeit Silberzeug weggekommen? Ich dächte, Sie hätten die Anzeige gemacht. Wollen Sie einmal gefälligst dort auf dem Tisch nachsehen, ob Sie da vielleicht einige der Ihnen gehörenden Sachen finden?«
»Sie haben da eine ganze Collection,« lachte Witte, indem er der Aufforderung Folge leistete; »aber ich fand schon gestern Abend an Ort und Stelle einige alte Bekannte unter den Silbersachen – da hier die Löffel gehören mir, ebenso dieser Deckel, und diese Zuckerzange kommt mir ebenfalls so vor, als ob ich sie früher schon in der Hand gehabt: aber zu der möchte ich nicht schwören – meine Frau wird sie jedenfalls besser kennen.«
»Und wann waren Sie noch im Besitz dieser Sachen?«
»Vor einigen Wochen.«
»Und wer glaubt Ihr wohl, Heßberger, daß Euch da die Sachen in dieser Zeit in die Kohlenkammer getragen hat, wenn Ihr selbst nichts davon wißt?«
»Thut mir leid, Herr Geheimer Justizrath, Ihnen darüber keine genügende Auskunft geben zu können,« sagte Heßberger verstockt; »vielleicht einer von meinen Lehrjungen – es ist eine nichtsnutzige Bande und der eine besonders ein ganz concaver Mensch.«
»Dann leugnet Ihr auch vielleicht, daß Ihr vor drei Abenden, oder vielmehr an jenem Abend, an welchem der alte Salomon überfallen und erschlagen wurde, in der Judengasse waret?«
»So viel ich mich erinnere,« sagte Heßberger, »bin ich an jenem Abend gar nicht ausgewesen; es wäre aber möglich, daß ich eine oder die andere Besorgniß irgendwo gehabt hätte.«
»So? Ihr seid aber bestimmt dort gesehen worden und ich kann Euch einen Zeugen stellen, der sogar mit Euch gesprochen und Euch gemahnt hat, ihm seine Stiefel bald zu schicken – den Kürschnermeister Peters.«
»Ach Gott, ja, Herr Geheimer Justizrath,« sagte Heßberger, »es könnte doch am Ende sein – wer denkt aber an solche Kleinigkeiten! In der Nähe der Judengasse ist allerdings eine Apotheke, wohin ich manchmal gehe und mir etwas gegen meine Beschwer hole. Ich habe immer solche Concessionen nach dem Unterleib.«
»Und Ihr habt des alten Salomon Haus an dem Abend nicht betreten? Besinnt Euch wohl!«
»Da brauche ich mich nicht zu besinnen,« sagte der Schuhmacher mit einem frommen Blick nach oben. »Ich sehe wohl, daß Sie mich in einem schrecklichen Verdacht haben; aber wollte Gott, der alte Salomon lebte noch, so würde er selber auftreten und bezeugen, daß er mich nie und nimmer in seinem Laden, ja nicht einmal in seinem ganzen Leben gesehen hat!«
Der Justizrath hatte dem Staatsanwalt, der wieder neben ihm stand, leise etwas gesagt und dieser ging jetzt nach der nahen Thür, die er öffnete. Im nächsten Augenblick stand der alte Salomon selber in der Thür. Die Wirkung aber, die der Anblick des Todtgeglaubten auf den Verbrecher ausübte, war so zauberschnell als furchtbar. Ob er nun dachte, daß er eine Erscheinung vor sich sähe, oder ob ihn das Bewußtsein zu Boden warf, mit diesem Zeugen gegen sich doch rettungslos verloren zu sein, mit einem jähen Aufschrei brach er in die Kniee, die Arme gegen das Furchtbare ausstreckend, winselte er: »Gnade, Gnade!« und stürzte dann mit dem Gesicht auf den Boden nieder.
»Bei dem Gott meiner Väter,« sagte der alte Salomon feierlich, »das ist der Mann, der mich an jenem Abend überfallen und geschlagen hat; das ist der Mann, der schon vorher in meinem Laden war und mich verleiten wollte, Silberzeug von ihm zu kaufen!«
Als er schwieg, herrschte lautlose Stille in dem weiten Raum, so ergreifend, so tief erschütternd war der Moment, und Aller Augen hafteten schweigend und erwartungsvoll an dem Elenden, der gebrochen, zerknirscht am Boden lag.
Witte ging endlich zu ihm, um ihn aufzuheben; aber er rührte sich nicht. Er war keineswegs ohnmächtig geworden, denn seine ganze Stellung verrieth das; aber er scheute sich, das Auge wieder zu erheben, um nicht noch einmal den entsetzlichen Anblick zu haben.
Der Justizrath klingelte, und als einer der Sicherheitsdiener in das Zimmer trat, sagte er ruhig: »Schaffen Sie den Mann in seine Zelle; aber daß Niemand zu ihm gelassen wird, ausgenommen er verlangt den Geistlichen.«
»Heßberger,« sagte der Mann, indem er ihn an der Schulter rüttelte, »Heßberger, steht auf, Ihr sollt mitkommen; hört Ihr nicht?«
Der Schuhmacher hob sich langsam auf die Kniee, aber er nahm den Blick nicht vom Boden. Er stand auf, schien aber völlig gebrochen, und als er sich der Thür zuwandte, mußte ihn der Polizeidiener unterstützen, daß er nicht wieder zusammenknickte und zu Boden fiel.