Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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32.

Auf dem Criminalamt.

Witte hatte an dem Abend eine lange Besprechung mit dem die Untersuchung führenden Justizrath und erfuhr darin Manches, was er zur Ausführung seines immer erst flüchtig und noch unklar entworfenen Planes gebrauchen konnte.

So hatte sich bei einer genaueren Nachforschung über die gestohlenen und bei Heßberger gefundenen Gegenstände ergeben, daß viele Sachen von Stellen herrührten, in welche Heßberger selber nie einen Fuß gesetzt, wo aber seine Frau desto häufiger ein- und ausgegangen war, und es stellte sich dadurch als ganz bestimmt heraus, daß sie ebenfalls nicht allein die Hehlerin gemacht, sondern auch einen Theil der Kostbarkeiten selber entwendet haben mußte. Vieles war allerdings schon verkauft worden, und da der Schuhmacher ein umfangreiches Geständniß abgelegt, so kam man auch dadurch hinter einige gewerbsmäßige Hehler-Spelunken, die aufgehoben wurden. Alles hatte er aber doch nicht untergebracht und jedenfalls auf eine spätere, gelegene Zeit aufgespart. So fand sich auch unter dem gestohlenen Gut noch verschiedenes Silberzeug welches das Wendelsheim'sche Wappen trug und ebenfalls nur gestohlen sein konnte, und auf dieses basirte Witte einige Hoffnung, um das gnädige und allerdings nicht leicht irritirbare Fräulein gegen die Frau aufzubringen; aber stärkere Mittel mußten freilich noch mitwirken.

Der Untersuchungsrichter gab übrigens seine Zustimmung zu Allem, drängte aber, rasch vorwärts zu gehen und keiner der Parteien lange Zeit zur Ueberlegung zu gestatten, denn dadurch wurde oft, wie er behauptete, ein nie wieder einzubringender Vortheil aus der Hand gegeben. Witte sträubte sich allerdings dagegen; er war seiner Sache viel zu wenig sicher, um nicht fürchten zu müssen, durch zu große Eile das Ganze zu überstürzen, und ging der erste Anlauf verloren, so konnten sie sich nur als geschlagen betrachten. Der Untersuchungsrichter, ein alter, sehr tüchtiger Criminalist, bestand aber auf seinem Willen, und das gnädige Fräulein von Wendelsheim wurde deshalb zu dem Zweck durch einen expressen Boten auf morgen früh um zehn Uhr auf das Criminalamt beschieden – ein weiterer Grund der Vorladung war natürlich nicht dabei bemerkt, der Gensdarm aber, der die Vorladung zu befördern hatte, angewiesen worden, sich zugleich eine Liste von ihr über auf Wendelsheim vermißte Silbersachen oder sonstige Gegenstände zu erbitten

Von der Frau Baumann, die der Staatsanwalt sehr still und niedergedrückt antraf, wollte er jetzt erfragen, welchen Platz ihre Schwester damals angegeben hatte, um die vermeintliche Erbschaft zu erheben. Daß beide Schwestern die Zeit ihrer Abwesenheit nur in einer nicht sehr entfernten kleinen Stadt zugebracht, hatte sie ihm schon erzählt. Die Frau Baumann erinnerte sich, daß Berlin genannt gewesen, was der Schlossermeister ebenfalls bestätigte, denn er hatte in jener Zeit fest geglaubt, die beiden Schwestern wären dorthin gereist, aber, mit nicht dem geringsten Verdacht einer Täuschung, nicht weiter darnach gefragt.

Am nächsten Morgen um acht Uhr kam der von ihm bestellte Schneider Müller, um ihm Maß zu nehmen. Er hatte schon gar nicht mehr an den Mann gedacht, der sich aber mit dem Glockenschlag einstellte. Witte schickte dann in den nächsten Laden hinüber, um sich einige Stücke Tuch herüber bringen zu lassen, und bis die eintrafen, unterhielt er sich mit dem Manne. Müller war ein geborener Mecklenburger, seine Mutter stammte aus Alburg, und nach des Vaters Tode hatte sie das Heimweh bekommen und sich hierher zurückgezogen, wo er sich dann mit der neuen Gewerbefreiheit eine Werkstatt gründete. Aber das Geschäft ging noch schlecht – er hätte gern geheirathet, um seiner alten Mutter die Sorge für die Wirthschaft abzunehmen – aber es ging nicht, er mußte es auf spätere Zeit verschieben und sich erst etwas verdienen, ehe er daran denken konnte, denn ein »reiches« Mädchen – das heißt Eine, die an zwei bis dreihundert Thaler im Vermögen hatte – nahm ihn ja doch nicht.

Es war die alte Geschichte, das Ankämpfen eines fleißigen, braven Mannes gegen den täglichen Bedarf. Indessen kam das Tuch, wurde bestimmt und überliefert, und der junge Schneidermeister versprach die Kleider auf den angegebenen Tag pünktlich abzuliefern. Witte wußte, daß er Wort halten würde, und wenn er hätte Tag und Nacht arbeiten sollen.

So rückte die Zeit heran, wo er auf das Criminalamt mußte. Das Verhör der Heßberger war auf zehn Uhr festgesetzt, und etwa eine Viertelstunde vor dem bestimmten Termin fand er sich oben ein. Bald darauf wurde die Frau vorgeführt, aber auf ihr ganzes Wesen schien die bisherige Haft nicht den geringsten Eindruck gemacht zu haben. Sie sah finster und verschlossen aus wie immer, und mit zusammengekniffenen Augen blickte sie die drei Männer, den Untersuchungsrichter, den Protokollanten und Witte, der seitwärts an einem Fenster stand, tückisch, aber auch verächtlich an, als ob sie sich bewußt sei, daß diese, trotz aller Kreuzfragen, nichts aus ihr herausbringen sollten, als was sie selber Willens sei, ihnen zu sagen. Wer hätte sie zwingen können! Der Untersuchungsrichter überraschte sie da einigermaßen, indem er begann:

»Heßberger, Ihr seid heute eigentlich zu keinem richtigen Verhör herbeschieden, sondern nur um Auskunft über verschiedene, minder wichtige Dinge in Hinsicht auf den verübten Diebstahl zu geben.«

Die Frau schwieg und schaute störrisch vor sich nieder; sie erwartete das Weitere.

»Was die verschiedenen, bei Euch aufgefundenen Silbersachen betrifft,« fuhr der Untersuchungsrichter fort, »so wißt Ihr, daß bei sehr vielen der Beweis Eurer eigenen Thätigkeit geliefert ist. Alles hat sich aber nicht gefunden, besonders einige Stücke, bei denen den früheren Eigenthümern viel daran liegt, sie wieder zu bekommen. Euer Mann versichert, daß nichts von Euch selber eingeschmolzen sei, und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln; jedenfalls ist aber, wie der Beweis vorliegt, ein Theil des gestohlenen Gutes von Euch verkauft worden und Einiges davon auch wirklich wieder gefunden, Anderes natürlich verschwunden. Nun hat sich bei den Gegenständen auch ein Theil derselben als Eigenthum der Familie Wendelsheim herausgestellt. Das scheint aber nur der kleinste Theil dessen zu sein, was Ihr dort bei Seite gebracht habt, und es ist uns von derselben die Weisung zugegangen, auch nach einem sehr schweren silbernen Teller mit dem Familienwappen zu forschen, den Ihr bei Eurem letzten Besuche dort mitgenommen haben müßt, denn er ist seit der Zeit verschwunden.«

»Und wer sagt das?« fragte die Frau finster.

»Das kann Euch einerlei sein,« fuhr der Untersuchungsrichter fort; »ich sage es, und das ist genug.«

»Stellt mir den Baron gegenüber,« sagte die Alte trotzig, »und laßt ihn mich nach einem gestohlenen Stück fragen, und ich werde ihm Antwort geben – Niemandem weiter.«

»Der Baron,« sagte der Untersuchungsrichter, »ist schwer krank, körperlich sowohl als geistig; er bekümmert sich um gar nichts mehr, und das gnädige Fräulein von Wendelsheim hat jetzt im Schlosse die alleinige Leitung der Geschäfte.«

»Das gnädige Fräulein von Wendelsheim hat mich nach einem gestohlenen Teller fragen lassen?« rief die Frau, wild und zornig emporfahrend.

»Ich habe Euch schon einmal gesagt, daß Euch das einerlei sein kann, wer danach fragen läßt,« entgegnete der Inquirent; »ich frage Euch jetzt danach, und mir habt Ihr zu antworten.«

»Ich weiß von keinem Teller,« sagte die Frau störrisch, »habe nie einen in dem gottvergessenen Hause, das ich wollte, ich hätte es nie im Leben betreten, gesehen.«

»Ihr seid eine hartgesottene Person,« sagte der Inquirent; »die Herrschaft da draußen ist so freundlich und liebevoll gewesen, und aus Dankbarkeit dafür stehlt Ihr derselben das Silber und die Wäsche selbst aus dem Kasten heraus.«

»Wer hat behauptet, daß ich ihnen Wäsche aus dem Kasten genommen habe?« rief die Frau mit blitzenden Augen. »Und liebevoll behandelt? – Wenn ich wüßte, daß das böse Geschöpf . . .« – Sie biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Was wolltet Ihr sagen?«

»Nichts – ich weiß von nichts.«

»Gut, dann hat hier der Herr Staatsanwalt Witte nur noch eine Frage an Euch zu richten, die Ihr ihm hoffentlich besser beantworten werdet, als mir die meinigen.«

»Der Staatsanwalt Witte?« sagte die Frau spöttisch. »Ich denke, der weiß Alles! Was hat denn der da noch zu fragen?«

»Ich will Euch 'was sagen, Heßberger,« erwiderte Witte, »ich weiß auch mehr, als Euch vielleicht lieb und zuträglich ist, und was ich Euch fragen will, hat, wie Ihr gleich hören werdet, mit nichts etwas zu thun, was ich nicht wüßte – es ist nur wegen einer von Euren Lügen. Ich möchte deshalb hören, wie der Platz heißt, wo Ihr damals die Erbschaft für Euch und Eure Schwester erhoben habt – Ihr wißt doch, welche ich meine – und wo die Papiere sind, die Euch darüber ausgestellt wurden.«

»Ich habe keine Papiere,« knurrte die Frau; »es sind drei- oder vierundzwanzig Jahre darüber hingegangen.«

»Das wäre möglich, daß die in der Zeit verloren gegangen wären,« nickte Witte; »aber den Namen der Stadt werdet Ihr doch wohl noch wissen, wo Ihr das Geld bekommen habt?«

Die Frau schwieg und sah finster vor sich nieder.

»Es hilft Euch nichts, Heßberger,« sagte Witte kopfschüttelnd. »Woher Ihr das Geld wirklich bekommen habt, wollt Ihr nicht gestehen – es ist auch nicht nöthig, wir haben es schon erfahren; aber die Frau ist jetzt todt, der Mann geistesschwach geworden und also von dem Arm des Gesetzes nicht zu erreichen. Von der Familie Wendelsheim hat Niemand weiter mit der schmutzigen Geschichte zu thun gehabt, denn das gnädige Fräulein ist dazu eine viel zu achtbare Dame; also seid Ihr die, an die wir uns allein halten können. Gebt mir nur blos einen Platz an, wo Ihr die Erbschaft wollt erhoben haben, ich schreibe dann gleich hin, und Ihr wißt selber recht gut, daß in acht oder vierzehn Tagen die Antwort eintrifft: es wäre kein Wort von der ganzen Geschichte wahr. Aber Ihr habt damit Euren Zweck erreicht und das Urtheil noch ein paar Wochen hinausgeschoben. Uebrigens hilft Euch das nicht einmal etwas, denn für die von Euch verübten Diebstähle und die Hehlerschaft des Uebrigen kommt Ihr schon vorher in's Zuchthaus. Also wo war Eure Erbschaft her?«

Die Frau hatte den Sprechenden mit ihren großen, lichtblauen Augen starr angesehen und war anscheinend dem, was er sagte, mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt. Sie beantwortete aber die Frage nicht gleich, sondern fragte im Gegentheil zurück:

»Der Baron von Wendelsheim ist geisteskrank?«

»Die Wendelsheim'sche Familie, habe ich Euch schon gesagt, hat mit der Sache, den rechtmäßigen Erben ausgenommen, weiter gar nichts zu thun – laßt die nur,« sagte Witte; »sie soll auch gar nicht belästigt werden – Eure Schwester hat uns Alles ausführlich eingestanden – beantwortet mir also meine Frage . . .«

»Und was weiß meine Schwester davon?« knurrte die Frau.

»Wo also wollt Ihr die Erbschaft erhoben haben?«

»Sie glauben es mir doch nicht . . .«

»Nein, darauf kommt auch nichts an; es ist nur, daß der Form genügt wird, und die muß beachtet werden.«

»Ich kann mich jetzt nicht darauf besinnen.«

»Gut, ich will Euch nicht drängen,« sagte Witte, nach seiner Uhr sehend; »es sind jetzt gerade zehn Minuten über zehn Uhr – ich gebe Euch eine halbe Stunde Zeit. Ueberlegt Euch indessen, was Ihr mir sagen wollt; bis dahin aber muß ich eine Antwort haben, oder das Gericht nimmt an, daß Ihr dieselbe verweigert, und das ist dann, wie Ihr recht wohl wißt, eben so gut wie ein stummes Eingeständniß, daß Ihr den Ort nicht nennen könnt, weil er nicht existirt. – Sie erlauben wohl, daß die Frau die kurze Zeit in dem Nebenzimmer bleibt, damit wir sie nachher gleich wieder bei der Hand haben?«

»Ja wohl,« nickte der Untersuchungsrichter; »die anstoßende Stube ist leer, sie kann dort warten.« – Er klingelte, und als Einer der Leute eintrat, gab er Ordre, daß die Frau da nebenan einen Augenblick eintreten solle, bis sie wieder in ihre Zelle geführt würde. Noch ehe sie aber das Zimmer verlassen hatte, fragte er den Polizeidiener: »Ist das gnädige Fräulein von Wendelsheim erschienen, um ihr Silberzeug wieder in Empfang zu nehmen?«

»Ja wohl, Herr Justizrath,« erwiderte der Mann, »sie ist eben vorgefahren.«

»Schön. So ersuchen Sie die Dame, einen Augenblick zu warten – oder es ist auch nicht nöthig,« setzte er hinzu. »Führen Sie nur die Frau ab; ich werde selber gehen.«

Die Heßberger war stehen geblieben, als sie den Namen hörte; jetzt biß sie die Zähne fest zusammen und folgte dem Manne.

»So,« sagte sie, als sie in's andere Zimmer trat, »und ist das etwa Gerechtigkeit? Das Frauenzimmer, weil sie hochadelig und vornehm ist, wird ersucht einzutreten und fährt in ihrem Wagen vor, und mich behandelt man wie einen Hund, der aus einem Kasten in den andern geführt wird!«

»Wenn die gestohlen oder sonst ein Verbrechen begangen hätte, wie Ihr,« brummte der Mann, »so würde sie gerade so behandelt, und jetzt haltet's Maul und setzt Euch da auf den Stuhl hin, bis Ihr wieder gerufen werdet!« Und damit ging er wieder hinaus, schloß von außen die Thür, welche auf den Vorsaal führte, und ließ die Gefangene, mit Gift und bitterer Galle im Herzen, allein zurück.

Und hatte dieser Staatsanwalt, den sie haßte – haßte wie nur ein Weib hassen kann, nicht Recht, wenn er sagte, daß sie doch für das Zuchthaus reif sei, mochte geschehen, was da wolle? Daß sie sich an den Diebstählen betheiligt, war nicht mehr abzuleugnen – die gefundenen Gegenstände zeugten klar genug gegen sie –, und was dann? Sie wurde eingesperrt und mußte Wolle spinnen, und wenn sie endlich wieder frei kam, wiesen die Kinder mit Fingern auf sie und schrieen: »Die – die kommt aus dem Zuchthaus, die hat gestohlen!« Und das Fräulein von Wendelsheim indessen fuhr in ihrer Kutsche vornehm an die Polizei heran, und die Leute, welche sie mit Verachtung behandelten, machten ihr eine Verbeugung. – Und für wen hatte sie Alles gethan? Für sich allein, für die lumpigen paar Tausend Thaler etwa? Und zeigte sich ihr jetzt auch nur Einer von Allen als Freund? Ihre eigene Schwester verrieth sie – der Schlosserssohn, den sie zum Baron gemacht, kannte er sie etwa nur, wenn er ihr auf der Straße begegnete – und das gnädige Fräulein . . .? – Sie versank in dumpfes, grimmiges Brüten und hielt dabei die dünne Unterlippe fest und unerbittlich zwischen ihren Zähnen eingeklemmt. Draußen war Alles ruhig, sie hörte keinen Ton eine lange Zeit. Jetzt wurde eine Thür geöffnet und gleich darauf eine Stimme laut, deren scharfen Ausdruck sie nur zu gut kannte – es war die des Fräuleins von Wendelsheim – und war die besser, als sie? Ja, abgewälzt hatte sie Alles von sich und auf die arme selige Baronin geschoben, die eher ihr eigenes Leben als ihr Kind geopfert hätte – und der Baron verrückt geworden? – Sie schauderte zusammen, wenn sie sich die Möglichkeit dachte, denn das sah aus wie Gottes Strafgericht. – Und hier der öde Raum, die vergitterten Fenster, die Verachtung, mit der sie von allen Menschen behandelt wurde! Die Brust wurde ihr so eng, sie konnte kaum Athem holen und sprang wieder von dem Stuhl empor. Jetzt plötzlich horchte sie hoch auf – draußen hörte sie ihren Namen nennen, und wie ein Schatten glitt sie nach der Thür, an die sie ihr Ohr preßte.

Das gnädige Fräulein war außerordentlich pünktlich und eigentlich noch acht Minuten vor ihrer Zeit, aber auch mit schlecht verbissenem Ingrimm eingetroffen, weil man gewagt hatte, ihr die Einladung auf das Criminalamt auf einem der gewöhnlichen gedruckten Bogen, wie für gemeine Verbrecher, zu senden. Der mußte denn natürlich den Leuten auf dem Hofe in die Hände fallen, und schon darüber erbost, konnte sich ihre Laune durch das lange Warten natürlich nicht verbessern.

»Was will man von mir?« fragte sie einen alten Polizeidiener, der auf seinem hohen Sessel an einem Stehpult saß und eine Liste vor sich hatte.

Der Mann zuckte nur die Achseln, deutete auf die eine Thür und meinte, sie würde es da drin schon erfahren.

»Und weshalb werde ich nicht vorgelassen?«

»'s ist noch Jemand drin,« sagte der Polizeibeamte, ohne sie anzusehen. »Hier geht Alles nach der Reihe. Wenn Sie dran kommen sollen, wird geklingelt.«

Jetzt wurde die Thür aufgemacht und der Actuar rief heraus: Fräulein von Wendelsheim in Nr. 17!

»Was?« schrie das gnädige Fräulein, in jähem Schreck emporfahrend, und wurde in dem Moment todtenbleich. »Man will mich doch nicht einkerkern?«

»Ne,« lachte der alte Polizeidiener gutmüthig, »noch nicht – die Nummer 17 ist nicht gemeint, die Thür da gerade vor, da sollen Sie hineingehen.« Und er deutete dabei mit der Hand auf die bezeichnete Nummer.

Das gnädige Fräulein holte tief Athem – die ganze Umgebung hatte doch einen unheimlichen Eindruck auf sie gemacht; sie war dadurch so ganz aus ihrer früheren Sphäre herausgerissen – es fürchtete sie hier Niemand, und selbst die untersten Diener behandelten sie mit einer Gleichgültigkeit, die sie empörte, ihr aber auch imponirte.

Sie schritt auf das ihr angegebene Zimmer zu und öffnete die Thür – es war ein großer, geräumiger, öder Saal mit einem grün beschlagenen, langen Tisch in der Mitte von vielen Stühlen. Er diente jedenfalls zu gewissen Zeiten als Sitzungszimmer. Auf dem Tisch aber lagen die von dem Heßberger'schen Ehepaare gestohlenen Gegenstände ausgebreitet, und durch die andere Thür trat jetzt der Untersuchungsrichter mit dem ihn begleitenden Witte herein.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath, ohne es der Mühe werth zu halten, sich zu entschuldigen, daß er sie so lange im Vorzimmer hatte warten lassen, »es hat sich herausgestellt, daß Sie durch die Ihnen sehr wohl bekannte Heßberger ebenfalls nicht unbeträchtlich bestohlen sind. Es haben sich da besonders verschiedene Silbersachen gefunden, die noch das Wappen Ihrer Familie tragen. Wollen Sie einmal gefälligst nachsehen, ob Sie das Alles als das Eigenthum Ihres Herrn Bruders erkennen?«

Fräulein von Wendelsheim, deren Miene sich sehr verfinstert hatte, als sie den Staatsanwalt erkannte, wollte schon fragen, weshalb man ihr nicht eben so gut die Sachen hätte hinausschicken können, anstatt sie selber hierher zu bemühen; der alte Justizrath sah aber so ernst und würdig aus und schien sich hier so in seinem vollen Recht zu fühlen, daß sie die Frage wieder verbiß und der Aufforderung Folge leistete. Sie erkannte und bestätigte auch bald die nach Schloß Wendelsheim gehörenden Sachen und äußerte dabei, sie hätte der Person, der Heßberger, wohl zugetraut, solche schlechte Handlungen begehen zu können.

»Und doch haben Sie sich mit der Person so nahe einlassen können, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath kalt. »Bitte, treten Sie hier in das andere Zimmer; die Sachen sollen Ihnen später, wenn die Untersuchung geschlossen ist, verabfolgt werden.« Damit ging er ihr voran zur andern Thür, wo Witte schon, die Hand auf der Klinke, stand.

»Mit der Person nahe eingelassen?« sagte Fräulein von Wendelsheim und maß den alten Herrn mit ihrem Blick von oben bis unten. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Mein gnädiges Fräulein,« erwiderte der Justizrath, »die Sache ist kein Geheimniß mehr. Jene Frau Baumann, die ihren Sohn damals hergegeben, hat Alles bekannt und ein reumüthiges Geständniß abgelegt . . .«

»Die Frau Baumann?« rief das gnädige Fräulein und wechselte in jähem Schreck die Farbe. »Welche Baumann?«

»Die Schlossersfrau – und das ist sonst eine vollkommen unbescholtene Person . . .«

»Aber das nicht allein, mein gnädiges Fräulein,« sagte jetzt Witte, der einen letzten, verzweifelten Versuch machte, die Dame zum Reden zu bringen, »auch die gefangene Heßberger hat Alles eingestanden und erklärt, daß sie nur mit Ihnen und Ihrer Hülfe den Tausch bewerkstelligt hätte. Sie werden sich dagegen zu verantworten haben.«

»Die Heßberger?« rief Fräulein von Wendelsheim in ausbrechender Wuth, und Witte öffnete rasch die Thür, während sie der Justizrath durch ein Zeichen bat, dort hinein zu treten. »Und so eine schlechte Person, so eine ganz gemeine Diebin durfte sich das unterstehen, und das Gericht legt auf das Gewicht, was so ein Geschöpf sagt? Hören Sie, was die Leute draußen auf dem Land über das Weib sprechen: da ist auch keine Schlechtigkeit auf der Erde, die der nicht zur Last gelegt wird, und mir, der Schwester des Barons von Wendelsheim, wollen Sie . . .«

Sie kam nicht weiter; in dem Moment wurde die gegenüberliegende Thür aufgerissen und wie eine Furie stürzte die Heßberger heraus.

»Was?« schrie sie, »das adelige Weibsbild will hier über mich herziehen und meine Sünden aufzählen? Und ich soll schweigen und das Maul halten und mich einsperren und schlecht behandeln lassen, nur daß sie großbrodig in ihrer Kutsche fahren und die Schandgosche über andere Leute aufreißen kann? Ei, zum Henker, dann kann ich auch reden, und nun ist's doch einerlei und die Geschichte hier aus.«

Fräulein von Wendelsheim erschrak. Sie war schlau genug, im Augenblick die ihr gelegte Falle zu sehen, und wie sie sich einen Moment unbemerkt glaubte – denn die Blicke der Beamten hingen an dem gereizten Weibe –, blinzelte sie ihr rasch mit den Augen zu. Aber das war gefehlt; sie machte das Uebel dadurch nur wo möglich noch schlimmer, denn die Heßberger, der das nicht entging, tobte nun erst recht heraus:

»Ja, jetzt haben Sie gut blinzeln, nicht wahr – nun die Heßberger da ist und auf einmal Alles gehört hat? Mir brauchen Sie aber nicht mehr zuzuwinken und heimliche Zeichen zu geben – mir nicht, das ist vorbei, und jetzt hören Sie hier auch die ganze Geschichte: der Fritz Baumann ist der Sohn vom Baron und der Bruno der Junge vom Schlosser – die da hat sie vertauscht und die ganze Sache abgekartet, weil sie glaubte, daß es ein Mädchen wäre. Der alte Baron wollte erst nicht – die Frau, die selige Baronin, hat nie ein Wort davon erfahren. Alles, was die Baumann gesagt hat, ist wahr, und wenn Ihr mir nicht glaubt, dann lebt hier in der Stadt noch Jemand, der es bezeugen kann – die Frau, die damals als Wartefrau bei der Baronin diente . . .«

»Aber die ist ja todt, denk' ich?« rief Witte rasch.

»Weil ich's der Baumann gesagt habe, hat die's geglaubt. Nein, sie lebt hier in der Stadt; damals zog sie nach Mecklenburg und heirathete einen Schneider, jetzt ist der Mann gestorben und sie mit ihrem Sohne zurückgekommen. Wo sie gerade wohnen, weiß ich nicht, aber sie werden zu finden sein. Und nun steckt die da auch ein, am liebsten zu mir in das nämliche Loch, daß ich doch wenigstens die paar Tage, die ich noch auf der Welt bin, eine Freude habe.«

Witte triumphirte im Stillen über die gelungene List, aber ihn schauderte auch zugleich, wenn er die Megäre ansah, die mit den fliegenden, grauen Haaren und den weit aufgerissenen, ordentlich unheimlich lichten Augen eher einer von Macbeth's Hexen als einem menschlichen Wesen glich. Starr vor Grimm und Entsetzen aber stand ihr das gnädige Fräulein gegenüber – vor Grimm über ihre eigene Machtlosigkeit, vor Entsetzen über die ihr in die Zähne geschleuderte Anklage, der zu begegnen sie im ersten Augenblick weder Worte noch Gedanken fand.

Der Einzige in der That im ganzen Zimmer, der sein kaltes Blut bewahrt zu haben schien, war der Actuar, der an seinem Tische mit ordentlich fliegender Feder stenographisch die Worte nachschrieb, welche über die Lippen des rasenden Weibes sprudelten. Der Anblick gab aber auch das Fräulein von Wendelsheim sich selbst wieder, und mit einem höhnischen Blick auf den Schreibenden sagte sie:

»Nun, Frau Heßberger, Sie haben wenigstens den Herren hier den Gefallen gethan und Alles gesagt, was Sie wußten oder zu wissen glaubten, und demnach hat allerdings, wie es scheint, auf dem Schlosse ein Betrug stattgefunden oder finden sollen – ich weiß es nicht: nur daß ich damit nicht in Verbindung stand, hoffe ich zu beweisen. Für jetzt ersuche ich die Herren, mir zu sagen, ob ich zu einem Verhör oder nur dazu vorgefordert gewesen bin, um die Frau da zum Reden zu bringen.«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath trocken, »da noch keine wirkliche Anklage gegen Sie formulirt ist, glaube ich, daß wir Sie heute entlassen können. Die eine Frage beantworten Sie mir nur: Sie haben gehört, was jene, allerdings wenig glaubwürdige Frau über Sie gesagt hat – inwieweit ist das begründet?«

»So weit es mich betrifft, eine faule, erbärmliche Lüge,« sagte die Dame stolz.

»So leugnen Sie jedes Mitwissen an dem Vergehen ab?«

»Jedes.«

»Aber Sie bezweifeln das Vergehen selber nicht?«

»Ich bezweifle es allerdings, weil ich es nicht für möglich halte.«

»Sehr schön. Sie werden Ihre Vorladung erhalten, wenn Sie hier wieder zu erscheinen haben.«

»Und die darf gehen und ich werde eingesperrt?« rief die Heßberger. »Und wissen Sie, was die ihrem Bruder gestohlen hat, seit sie ihm draußen die Wirtschaft führt – jedes Jahr mehr, als ich und mein Mann unser ganzes Leben zusammengebracht haben!«

»Schaffen Sie die Frau wieder in ihre Zelle, Schultze,« sagte der Justizrath zu dem Polizeidiener, der schon in die Thür getreten war, als die Heßberger in ihr erstes Toben ausbrach.

»Und das ist Gerechtigkeit!« hohnlachte das Weib. »Verdreht und gewendet, wie man's gerade braucht, gelogen und betrogen, nur nicht für das vornehme Pack, dem man nicht zu nahe treten darf!«

»Schaffen Sie das Weib hinaus!«

»Kommt, Heßberger!« rief der Polizeidiener, sie am Arm ergreifend.

»Faßt mich nicht an!« schrie sie aber auf, indem sie sich wieder von ihm losriß. »Ich gehe schon von selber, mag den Spektakel auch gar nicht länger mit ansehen – pfui!« rief sie, vor dem Justizrath und Witte ausspukend, und schritt dann mit raschen, zornigen Schritten aus der Thür.

Fräulein von Wendelsheim wartete noch einen Augenblick. Sie horchte nach außen zu, um wahrscheinlich erst die Schustersfrau aus dem Vorsaal zu lassen, ehe sie ihr selber dahin folgte. Wie draußen alles ruhig war, sagte sie: »Dann werde ich mich jetzt entfernen und das Weitere ruhig abwarten.«

»Verziehen Sie noch einen Augenblick,« sagte der Justizrath, der indessen mit Witte heimlich geflüstert hatte. »Ihr Bruder scheint geisteskrank zu sein, nicht wahr?«

»Er hat wenigstens die letzten Tage viel phantasirt und ist völlig theilnahmlos; aber ich hoffe, daß sich das in der nächsten Zeit geben wird.«

»Dann werden Sie mir erlauben,« sagte der Justizrath, »Sie durch einen von unseren Beamten begleiten zu lassen, dem Sie auf Schloß Wendelsheim, bis die Untersuchung geschlossen ist und die Geschworenen ihren Entscheid abgegeben haben, sämmtliche Schlüssel überliefern, wie er auch die Verwaltung des Gutes bis zu der Zeit unter sich behält.«

»Herr Justizrath!« rief Fräulein von Wendelsheim emporfahrend.

»Mein Fräulein,« sagte dieser kalt, »Sie selber stehen unter einer schweren Anklage, und ich wäre vielleicht berechtigt, Sie gar nicht wieder fortzulassen. In der Voraussetzung aber, daß Sie zu jeder Ihnen bestimmten Zeit vor Gericht erscheinen, will ich davon absehen. Die Verwaltung des Schlosses dagegen wird, entweder bis der alte Baron wieder hergestellt oder der wirkliche Erbe unzweifelhaft festgestellt ist, der von mir mitgegebene Beamte übernehmen. Assessor Schuster wird das besorgen und Actuar Bessel mag ihn begleiten, um gemeinschaftlich Alles, die Wohnungsräume ausgenommen, unter Siegel zu legen.«

»Sie verlangen doch nicht, daß ich unter Polizeibedeckung nach Hause fahren soll?«

»Nein, die beiden Herren werden vor Ihnen her fahren und Sie mit Ihrem Kutscher ihnen folgen. Es versteht sich, daß indessen auf dem Schlosse Alles unverändert im Status quo bleibt, Niemand entlassen, niemand Fremdes zugemiethet und nichts verkauft oder verborgt wird, Herr Staatsanwalt Witte, Sie thäten mir einen besonderen Gefallen, wenn Sie, als Vertreter der Regierung, die Herren heut Abend begleiteten und der Ausführung selber beiwohnten.«

Fräulein von Wendelsheim war todtenblaß geworden: sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Es wurde hier auch Alles so geschäftsmäßig betrieben – was hätte es ihr geholfen! War es dabei das Bewußtsein ihrer Schuld, das sie mit niederdrückte? Sie wagte aber kein Wort der Widerrede, und nur die Lippen so zusammengepreßt, daß sie weiß aussahen, wankte sie aus dem Zimmer und auf den Vorsaal hinaus.

»Wissen Sie, Justizrath, was das Merkwürdigste bei der Geschichte ist,« sagte Witte, der die letzten Minuten im Zimmer auf und ab gegangen war und sich vor innerlichem Vergnügen die Hände gerieben hatte, indem er vor dem Angeredeten stehen blieb – »daß ich eben jenen Schneider Müller und seine Mutter, von der die Heßberger vorhin sprach, gestern Abend zufällig aufgefunden habe, ohne Ahnung natürlich, daß sie dieser Angelegenheit so nahe standen.«

»Aber wie?«

»Rath Frühbach, der langweiligste Mensch seines Jahrhunderts, hat mich aus Verzweiflung in ein fremdes Haus hinaufgejagt – doch die Geschichte erzähle ich Ihnen ein andermal – kurz, der Müller arbeitet jetzt für mich.«

»Und wissen Sie bestimmt, daß es der rechte ist? Der Name Müller –«

»Gar kein Zweifel, und jetzt wollen wir der Sache schon auf den Grund kommen, verlassen Sie sich auf mich – aber nun bitte, eilen Sie auch unsere Abfahrt, denn dem gnädigen Fräulein wird sonst die Zeit zu lang.«

Der Justizrath war ein Mann von wenig Worten, aber ziemlich rasch im Handeln. In sehr kurzer Zeit war Alles geordnet, und hinter dem gemietheten Fiaker fuhr, sehr zum Erstaunen des herrschaftlichen Kutschers, die Carrosse des Fräuleins von Wendelsheim her, das sich, wie sie nur das Schloß erreichten, augenblicklich auf ihr Zimmer verfügte und sich dort einriegeln wollte. Die Erlaubniß wurde ihr aber nicht gleich. Vor allen Dingen versiegelte Assessor Schuster, der nichts halb that, sämmtliche Papiere der Gnädigen selber, so wüthend und aufgebracht sie sich darüber auch zeigte. Er hatte dazu allerdings keinen besondern Auftrag, that es aber auf Witte's Rath, weil sie nicht wissen konnten, wie sie vielleicht einmal später gebraucht werden und von Werth sein könnten. Dann mußte sie ihm sämmtliche Schlüssel übergeben. Silber und Wäsche wie alles Derartige, so weit es nicht zum täglichen Bedarf diente, wurde versiegelt, über das Andere ein flüchtiges Inventar aufgenommen, und Nachts um zwölf Uhr erst verließ Witte das Schloß wieder, um nach Hause zurückzukehren.

Der alte Baron wurde gar nicht belästigt: er erfuhr auch nichts oder sah nichts von der Veränderung im Schlosse. Oben im Zimmer saß er an seinem Tisch, auf den ihm der Diener, als es dunkel wurde, die Lampe stellte; er hatte sich aus seiner Bibliothek ein paar Bücher genommen und beschäftigte sich jetzt damit, einzelne Seiten aus den Bänden zu reißen und die Blätter zu verschiedenen komischen Figuren mit einer Scheere auszuschneiden. Er besaß darin einige Gewandtheit, und es war auch in der That das Einzige, was er in seinem ganzen Leben gelernt hatte.



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