Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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25.

Die Nachbarin.

Dies war der dritte Tag nach dem Ueberfall, und auf dem Judenkirchhof hatte der Todtengräber, obgleich ihm merkwürdiger Weise kein Auftrag dafür geworden, schon ein Grab für den alten Salomon ausgeworfen; denn selbst in der Judengasse wußte man nicht anders, als daß er dort drüben in seiner Stube, wo auch die Fenster den ganzen Tag über geöffnet standen, ausgestreckt als Leiche auf dem Bett liege.

Am ersten Tagen waren einige seiner nächsten Bekannten hinauf gelassen worden, um ihn noch einmal zu sehen, und damals lag er auch in der That wie ein Todter da und rührte und regte sich nicht, und die Leute waren an der Thür, ihre Gebete murmelnd, stehen geblieben. Später aber ließ man Niemanden mehr ein; es hieß, die alte Frau sei selber so krank geworden und bedürfe der Ruhe, und etwas Natürlicheres gab es ja nicht. Daß sie es überhaupt so lange ertragen, war ein Wunder. Der Arzt ging denn auch noch häufig aus und ein, und wenn er herauskam, fragten ihn die Leute nur immer, wie es der alten Frau ginge – nach Salomon erkundigte sich Niemand mehr.

Uebrigens schien die Vorsichtsmaßregel mit seinem fingirten Tode ganz unnöthiger Weise gebraucht zu sein, da Tag nach Tag verstrich, ohne daß die Polizei auch nur irgendwo den geringsten Anhaltspunkt für die That gefunden hätte, und selbst Salomon, als er wieder zur Besinnung kam, konnte ihr keine weitere Auskunft geben.

Am zweiten Tag schon schlug er die Augen auf und erkannte seine Frau und Tochter, und der stille Jubel im Hause läßt sich denken, als ihnen der Arzt erklärte, er hoffe ihn jetzt, wenn nicht etwas ganz Besonderes vorfiele, durchzubringen. Aber in den ersten Stunden durfte man ihn natürlich nicht mit Fragen quälen, ja selbst die Erinnerung an das Erlebte mußte, soviel als irgend möglich, ferngehalten werden. Der Actuar war allerdings noch an dem Abend da und wünschte ihn zu sprechen; aber der Doctor ließ ihn nicht hinein. Morgen vielleicht oder übermorgen, wenn er eine recht ruhige Nacht gehabt, möchte er wieder vorfragen, aber bis dahin nicht.

Diese Vorsicht erwies sich als ganz vortrefflich, denn der überhaupt zähe Körper des alten Mannes kräftigte sich durch die notwendige Ruhe so rasch, daß er schon am andern Morgen wieder in seinem Bett aufsaß und jetzt selber von dem Ueberfall jenes Abends zu sprechen begann.

Rebekka selbst schrieb jetzt ein paar Zeilen an den Actuar, der ihnen schon zu dem Zweck seine Adresse dagelassen hatte, und dieser kam ungesäumt, um einen so günstigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Aber wenig genug war es, was ihm Salomon über die Person des Räubers sagen konnte, denn so genau er ihn im Gesicht kannte und erklärte, ihn unter Tausenden herausfinden zu wollen, so wußte er doch seinen Namen nicht und konnte auch nicht sagen, ob er in Alburg selber oder in der Nachbarschaft wohne. Drei- oder viermal war er allerdings schon bei ihm gewesen; das erste Mal, um ihm eine Partie silberner Löffel zum Kauf anzubieten, den er aber verweigert habe, weil er die Sachen für gestohlen hielt und keine Unannehmlichkeiten haben wollte. Das zweite Mal war er unter dem Vorwand gekommen, selber ein silbernes Besteck zu kaufen, und hatte sich dann verschiedene Sachen zeigen lassen – natürlich nur in der Absicht, wie sich jetzt herausstellte, um die Gelegenheit auszukundschaften. Er kaufte auch damals nichts, versprach aber wiederzukommen, und erhandelte das dritte Mal wirklich einen silbernen Serviettenring, wofür er eine Zehnthaler-Note auf den Tisch legte. Das war an jenem Abend, kurz vor der Dämmerung. Wie aber Salomon leichtsinniger Weise an seinen Geldschrank ging und ihn öffnete, um die Note zu wechseln, sprang der Fremde plötzlich mit einem Satz über den Ladentisch und hatte ihn an der Gurgel. Er wollte schreien, aber er konnte nicht, der Schreck und die eiserne Faust des Räubers hinderten ihn daran, und ehe er im Stande war, sich dem Griff zu entwinden, fühlte er einen schweren, dumpfen Schlag auf seinem Kopf, und was dann weiter mit ihm geschehen, vermochte er nicht mehr anzugeben.

Und wie sah der Mann aus?

Ja, genau konnte er das auch nicht sagen; er war die drei verschiedenen Male – wenigstens die beiden letzten, denn das erste Mal erinnerte er sich nicht mehr deutlich – nur in der Dämmerung zu ihm gekommen. Es sollte eine nicht große, aber ziemlich kräftige Gestalt sein, mit einem breiten Gesicht und kleinen verschmitzten Augen. Er trug – ja, genau konnte er das auch nicht angeben – er glaubte, einen grauen oder schwarzen kurzen Rock; er wußte nicht einmal, ob er einen Hut oder eine Mütze aufgehabt, denn er versicherte, daß er ihm immer hätte in die kleinen tückischen Augen sehen müssen.

Und sonst war er ihm nie hier in der Stadt begegnet?

Lieber Himmel, der alte Mann kam ja fast nicht vor seine Thür! Seit nun zehn Jahren, wo er nach Alburg gezogen war und das Haus da kaufte, war er kaum irgendwo anders hin, als zur bestimmten Zeit auf die Börse und vielleicht einmal mit seiner Familie an einem schönen Tag hinaus in den Wald gekommen. Wirthshäuser besuchte er gar nicht. Geschäftswege hatte er ebenfalls nicht; wer Geschäfte mit ihm machen wollte, kam zu ihm, und bis dahin erinnerte er sich nicht, den Menschen je gesehen zu haben.

Und war der junge Baumann jemals mit dem Menschen zusammen bei ihm gewesen?

»Der junge Baumann – der Mechanikus? Nie.«

Und er glaube also nicht, daß jener Baumann bei dem Ueberfall betheiligt gewesen?

»Der junge Baumann? Gott der Gerechte,« rief der alte Mann aus, »würd' ich ihm anvertrauen meinen ganzen Laden mit Schlüssel und Schränken, als ich hab' die Beweise, daß er ist ein ehrlicher, braver Mensch, der junge Baumann!«

Der Actuar erzählte dem Alten jetzt, daß man gerade diesen in Verdacht gehabt habe, der Mörder zu sein, da er im Hofe unmittelbar nach der That und mit Blut bedeckt angetroffen worden sei; aber Salomon gerieth fast außer sich, als er hörte, daß man ihn noch auf den Verdacht hin gefangen halte.

»Der junge Baumann,« rief er, »wär' er dabei gewesen, der böse Mensch hätte nie wagen dürfen, Hand an einen alten Mann zu legen! Er kam immer allein, und wenn ich es hätte für möglich gehalten, daß etwas Derartiges könnte passiren mitten in einer großen Stadt und wo die Straßen sind noch belebt und die Häuser offen, ich würde gewesen sein vorsichtiger – aber der junge Baumann – Gott soll mich behüten – wegen meiner im Gefängniß! Lassen Sie den Mann los, Herr Actuar, denn wer weiß, wenn er nicht wär' dazugekommen und den Räuber verjagt hätte, ob ich noch lebte und erzählen könnte!«

Das war nun Alles schon recht, aber dem Actuar nicht im Mindesten damit gedient, denn wenn er den Baumann losließ, hatte er keinen Andern dafür und mußte zugleich dabei eingestehen, daß er sich geirrt. Und war der alte Mann überdies auch wirklich ein genügender Zeuge, um den Gefangenen von jeder Schuld loszusprechen? War es überhaupt denkbar, daß irgend Jemand allein einen solchen Ueberfall unternommen hätte, wo er jeden Augenblick von außen gestört werden konnte und jeden Weg zur Flucht dann abgeschlossen sah? Zwei wenigstens durfte man bei einer solchen, jedenfalls vorher reiflich überlegten That annehmen, und während der Eine den Ueberfall ausführte, stand der Andere natürlich indessen Wache und half nur vielleicht im entscheidenden Augenblick. Daß Salomon dann den Zweiten, der anfangs vor der Thür stand, nicht gesehen hatte, ließ sich leicht erklären. Unter jeder Bedingung mußte aber der Versuch gemacht werden, den Gehülfen zu einem Geständniß zu bringen und dadurch den wirklichen Mörder heraus zu bekommen. So leicht ließ die Polizei Niemanden wieder frei.

Morgens um zehn Uhr, an dem nämlichen Tag, wurde der Schlossermeister noch einmal vorgeladen. Man hatte vergessen, ihm das Tuch zu zeigen, welches im Laden gefunden worden; er sollte bestätigen, daß es seinem Sohn gehöre, und sagen, ob er es schon in seiner Werkstätte, als er an dem Abend von ihm fortging, über die kleine Maschine, die sich allerdings im Laden gefunden, gedeckt hätte.

Schlossermeister Baumann mußte außerdem, ehe er vorkam, eine volle Stunde draußen auf der Gallerie warten und konnte nachher auch nichts Bestimmtes aussagen. Seiner schlichten Meinung nach blieb sich ja das auch vollkommen gleich, ob das Tuch in der Werkstätte oder auf der Straße übergedeckt gewesen wäre; er begriff sogar nicht, wie man ihn nur einer solchen Bagatelle wegen wieder vorfordern und noch dazu so lange warten lassen konnte. Aber auf den Gerichten hat das Alles seine bestimmte Zeit, und die jungen Actuare, während sie selber nur für die gesetzlichen Stunden an das Bureau gebannt sind, verfügen gewöhnlich auf das Willkürlichste über ihre vorgeladenen Zeugen. Dürfen sich diese doch nicht einmal darüber beschweren, ohne sich gleich einer Mißachtung des ganzen Instituts schuldig zu machen.

Auf das Dringendste erneuerte er aber dabei seine Bitte, den gefangenen Sohn sprechen zu dürfen – es ging nicht an; der Gefangene hatte noch nichts gestanden, und es war da sehr leicht möglich, daß er von außen her Warnungen oder Nachrichten bekam, die auf den Lauf der Untersuchung störend hätten einwirken können. Die Gefühle eines Vaters durften dabei nicht in Betracht kommen.

Indessen wurde in ganz Alburg fast von nichts als dem Raubmord und hauptsächlich von dem Raubmörder Fritz Baumann gesprochen, denn als solcher galt er den Leuten, wie sich das von selbst versteht. Den alten Salomon persönlich kannten auch fast nur solche, die ihn in seiner eigenen Wohnung aufgesucht, denn in der eigentlichen Stadt ließ er sich nie blicken. Alles, was man von ihm wußte, war, daß er ein sehr reicher Jude sei, der aus Geiz ganz entsetzlich ärmlich lebe – zu welchem Gerücht vielleicht das unscheinbare Aeußere seines Hauses den Grund gegeben – und mehr aus Liebhaberei, als irgend eines besondern Vortheils wegen den Antiquitäten-Laden gehalten und fortgeführt habe. Der war jetzt todt, und man interessirte sich nicht mehr viel für ihn, desto mehr aber für den jungen Baumann; denn die Frau Appellationsgerichtsräthin, der es die Frau Staatsanwalt, natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, anvertraut, daß der junge Baumann gerade die Frechheit gehabt habe, um die Hand ihrer Ottilie anzuhalten, schien sich verpflichtet gefühlt zu haben, der Frau Präsident Beckhaus die wichtige Nachricht mitzutheilen, und da sich dort zufällig an dem nämlichen Nachmittag ein kleiner, aber gewählter Cirkel von Damen »aus den höheren Ständen« zusammenfand, so konnte die Folge davon nicht gut ausbleiben. An dem nämlichen Abend wußte die ganze Stadt, daß der junge Mechanikus Baumann von der Tochter des Staatsanwalts Witte einen Korb bekommen habe, da Fräulein Ottilie nächstens Baronin von Wendelsheim werden würde, und die Comtesse unterhielt sich über dieses höchst interessante Thema nicht eifriger beim Auskleiden mit ihrer Zofe, als die Mägde am Brunnen oder die Nachbarsfrauen an den verschiedenen Parterrefenstern das nämliche Thema besprachen.

Der kleinen Schneidersfrau neben Baumanns hatte es ebenfalls fast das Herz abgedrückt, sich nicht mit der Mutter des Gefangenen über die Haupt- und Staatsangelegenheit unterhalten zu können; der Schlossermeister schnitt ihr aber die Möglichkeit dazu ab. Wie er ihrer nur ansichtig wurde, fuhr er schon auf sie ein und fragte sie, ob sie nicht wieder ein Unglück mit ihrem »Maul« anrichten wolle, und sie fürchtete ihn wie den Gottseibeiuns. Heute gegen Mittag sah sie ihn aber wieder in seinem guten Rock am Fenster vorbeigehen; er mußte sicher auf's Gericht, wo er nicht so bald mehr herunterkam, und die Zeit durfte sie nicht unbenutzt verstreichen lassen. Hatte sie doch auch in den letzten Tagen so viel Stoff in der Stadt angesammelt, daß sie eine volle Stunde davon erzählen konnte. Das mußte sie von sich abwälzen und wenn ihr »Meisterchen« auch ein wenig länger auf das Essen warten sollte.

Kaum sah sie also die Luft rein, als sie wie ein Schatten hinaus aus ihrem Haus und hinüber in die Werkstätte huschte, wo sie erst die Gesellen fragte, ob sie es auch schon gehört hätten, daß das »Fritzchen« Alles eingestanden hätte und am Freitag geköpft werden sollte; und als ihr dort Karl drohte, er würde ihr den Hammer von etwa drei Pfund Schwere an den Kopf werfen, wenn sie den Mund noch einmal aufthäte, fuhr sie in die Stube selber hinein, wo die Meisterin an ihrem Spinnrad saß.

Es ist eine traurige Thatsache in der Welt, daß eine einzige Zunge oft so viel Unheil anrichten kann. Wenn wir armen, kurzsichtigen Menschenkinder nur überhaupt immer wüßten, was uns zum Unheil oder zum Heil gereicht! Manches halten wir für ein Glück, was sich in späterer Zeit als unser größter Fluch herausstellt, und dann sehen wir den Himmel nur mit schwarzen, drohenden Wolken umzogen, wenn dahinter schon die helle, freundliche Sonne lacht und nur auf den Moment wartet, wo sie das düstere Gewölk durchbrechen und unsern Pfad mit ihren lieben Strahlen erhellen soll. Nur der Augenblick liegt uns erschlossen, alles Uebrige aber in Gottes Hand.

»Ach, liebe Frau Meisterin,« sagte die kleine, förmlich eingetrocknete Frau, indem sie wie ein Wiesel zur Thür hereinschlüpfte, das Schloß eindrückte und sich dann gleich auf eine dort stehende Fußbank niederkauerte, »erschrecken Sie nur nicht; aber erfahren müssen Sie es ja doch einmal, und das Unglück, ach Du lieber Gott, das Unglück!« Und die Schneidersfrau zog ihre Schürze über's Gesicht und schluchzte laut.

»Hören Sie einmal, Frau Volkert,« sagte die Frau Baumann, »wenn Sie mir etwas bestimmtes mitzutheilen haben, so thun Sie es; aber schneiden Sie mir das Herz nicht nacheinander in kleinen Stücken ab. Mir ist so angst und weh genug zu Sinn, machen Sie's nicht noch ärger, und was ich erfahren muß, je eher, desto besser, denn die Ungewißheit nimmt Einem sonst noch das bischen Verstand ganz mit fort.«

»Ach, das Fritzchen, das Fritzchen,« klagte die kleine Frau, »nein, daß er auch so 'was nur thun konnte, daß er auch so 'was nur thun konnte – und so braver Leute Kind, so braver Leute Kind!«

»Aber Sie glauben doch nicht etwa, daß mein Fritz die furchtbare That begangen haben kann, Meisterin?« rief die Frau Baumann wirklich halb außer sich.

»Aber es hat's ja schon gestanden,« klagte die kleine Frau wieder, »es hat's ja schon gestanden; die ganze Stadt weiß es ja, und das Fränzchen kam vorhin noch ganz besonders zu uns herüber, um uns die schreckliche Geschichte zu erzählen. Ach Du lieber Gott, Du lieber Gott, und übermorgen, noch dazu an einem Freitag, soll ihm der Kopf heruntergeschlagen werden.«

»Volkert,« stöhnte die Meisterin, indem sie von ihrem Stuhl aufsprang und ihr Herz mit beiden Händen faßte, »treibt Ihr auch noch Euren Spott mit mir?« Aber der Verdacht war gewiß unbegründet, denn die kleine Frau weinte selber so bitterlich, als ob ihr das eigene Herz darüber brechen sollte.

Des Schlossers Frau stand starr und unbeweglich neben ihr; das Antlitz war ihr todtenfahl geworden, ihre Glieder zitterten, ihr Auge haftete stier und gläsern an der Unglücksbotin. Endlich sagte sie mit leiser, heiserer Stimme: »Aber es kann ja gar nicht sein, Volkert; wenn der Fritz wirklich die schreckliche That verübt hat – und es müßte das in der Verzweiflung geschehen sein, denn an dem Tage war er seiner Sinne kaum mächtig –, wenn er den Juden wirklich geschlagen hat, so ist es im Zorn, der furchtbaren Aufregung geschehen. Wer weiß auch, wie ihn der Mann gereizt, ob er ihn nicht gar vielleicht seines Unglücks wegen verspottet hat, daß der Fritz gegen ihn die Hand gehoben, und dann – dann können und dürfen sie ihn doch nicht am Leben strafen. Es ist nicht möglich! Denken Sie nur, Volkert, wie vor noch gar nicht so langer Zeit jener Officier den Mann erstochen hatte, und der war nur vom Wein aufgeregt gewesen, da bekam er zwei Jahre Festungsstrafe, wurde aber nach dem ersten Jahre schon begnadigt und kam wieder frei. Sie können und werden doch meinen Fritz nicht ärger strafen als Jemanden, der eine solche That im Trunk verübt?«

»Ja, aber liebe, beste Frau Baumann,« winselte die kleine Frau hinter ihrer naßgeweinten Schürze vor, »das war doch auch ganz 'was Anderes; das war ja doch auch ein Graf, der den armen Menschen erstochen hatte, ein ganz vornehmer Graf, und sein Vater war Minister oder sonst so 'was. Ja, wenn das Fritzchen ein vornehmer Graf oder ein Baron wäre und sein Vater kein Schlosser, dann könnten Sie Recht haben, und er käme vielleicht ein Jährchen oder so in die Festung, und nachher wäre die Geschichte aus und würde kein Wörtchen mehr darum gesprochen.«

Die Frau Baumann hörte gar nicht mehr, was sie zuletzt sagte, und wie von einem neuen und plötzlichen Gedanken ergriffen, starrte sie die Schneidersfrau mit einem Blick an, daß diese jedenfalls darüber zu Tode erschrocken wäre, wenn sie nur hätte vor lauter Schluchzen aus den Augen sehen können.

»Und Ihr glaubt, Volkert, daß er frei käme, wenn es ein Baron oder Graf wäre?« sagte sie mit heiserer, fast tonloser Stimme.

»Ach, gewiß glaub' ich's,« wimmerte die kleine Frau; »und die Homeier war auch heute Morgen bei mir und wir haben darüber gesprochen, und der ihr Mann hatte dasselbe gesagt, und der versteht es, denn er ist Bote bei dem Gericht und hat immer die Aktenstücke von einem der Herren zum andern zu tragen. Aber ein Handwerker, ach Du lieber Gott, das ist ja gar nichts! Deren giebt's die Hülle und die Fülle und so ein armer Schlosser oder Schneider, oder was er auch sonst ist, mit dem machen sie keine Umstände und lassen dem Gesetz seinen Lauf.«

»Ja, ja,« nickte die Schlossersfrau, »es ist wahr; wir sollen Alle vor den Gesetzen gleich sein, so steht's in den Büchern und so sagen's die Leute. Aber es ist nicht so: den Vornehmen lassen sie eine Hinterthür offen, und die schlüpfen durch, und mit den Armen und Gedrückten füllen sie ihre Zuchthäuser und Gefängnisse – und wer verdient mehr Strafe, wenn er ein Verbrechen begeht, der Reiche und Vornehme, der Alles, was er braucht, im Ueberfluß hat und im Uebermuth braucht, oder der Arme und Gedrückte, den oft Noth und Verzweiflung dazu treiben?«

»Aber wir machen's nicht besser, Frau Baumann,« klagte die Kleine; »wir ändern die Welt nicht und dürfen noch nicht einmal einen Mucks thun, sonst werden wir ebenfalls eingesteckt.«

»Ja, wenn es ein Graf oder Baron wäre,« sagte die Schlossersfrau, noch immer vor sich hinstierend. Dann fuhr sie fort:

»Und wer hat Euch gesagt, Nachbarin, daß der Fritz am Freitag schon gerichtet werden soll?«

»Wer? das Fränzchen; expreß ist es zu uns herübergelaufen gekommen. Und der Herr Staatsanwalt Witte hat sich die größte Mühe gegeben, um ihn frei zu bekommen und gleich von Anfang an versprochen, daß er seine Partei nehmen wollte; aber wenn das Fritzchen nun gestanden hat, da ist freilich Alles vorbei.«

»Der Staatsanwalt Witte hat seine Partei genommen?«

»Ja, gewiß; das Fränzchen war ja an dem Abend dabei in der Judengasse, wo sie Salomon im Laden fanden, und hat's mit seinen eigenen Ohren gehört.«

»Der Staatsanwalt Witte?« wiederholte die Frau kopfschüttelnd.

»Das ist ein braver, rechtlicher Mann,« bestätigte die Schneidersfrau, »und wenn ein armer Teufel zu ihm kommt, dem Jemand unrecht thun will, da springt er mit beiden Füßen in die Sache hinein und ruht nicht, bis er ihn frei gemacht, und nimmt nachher auch noch nicht einmal einen Groschen Geld dafür.«

»Der Staatsanwalt Witte?« murmelte die Schlossersfrau noch einmal.

»Jawohl, der – doch da kommt der Schlossermeister wieder und wenn der mich hier findet, drückt er mich armes Weib todt. Er kann mich so nicht leiden und hat mir verboten, daß ich wieder herüberkomme.«

»Ja,« nickte die Frau still vor sich hin, »sie werden die Beweise bringen – aber zu spät, zu spät! Heute ist Mittwoch – übermorgen, oh mein Gott, mein Gott!«

»Nachbarin, ich rutsche durch die Küche auf den Hof,« sagte die Frau, die in dem Augenblick noch um sechs Zoll kleiner und schmächtiger schien; »wenn er mich findet, giebt's ein Unglück!«

Und ohne eine weitere Erlaubniß abzuwarten, fuhr sie durch die Hinterthür in die Küche hinein und verschwand dort in demselben Augenblick, als Baumann, seinen Hut noch auf dem Kopf und mit finster zusammengezogenen Brauen, in's Zimmer trat. Sie hatte in der That Recht gehabt, ihm in dieser Stimmung aus dem Weg zu gehen; freundlich wäre sie keinesfalls von ihm empfangen worden.

»Wieder nichts!« sagte er, als er selbst ohne Gruß an seiner Frau vorüberging und an's Fenster trat. »Es ist rein, um verrückt zu werden, daß sie einem nicht einmal erlauben wollen, ihn nur zu sehen oder zu sprechen, und dabei erzählt sich das wahnsinnige Volk in der Stadt schon die tollsten und albernsten Geschichten!«

Seine Frau war im Zimmer; er hatte sie gesehen, als er an ihr vorüberging. Aber sie erwiderte kein Wort, richtete keine Frage an ihn, und mehr erstaunt als beunruhigt über dieses Schweigen, drehte er sich nach ihr um.

Seine Frau stand mitten im Zimmer; aber ihr Blick begegnete dem seinigen und hing mit unendlicher Liebe, aber auch einem unsagbaren Schmerz an ihm, so daß er sie ganz verwundert deshalb anstarrte.

»Nun,« sagte er endlich erstaunt, »was hast Du denn, Alte? Du siehst mich ja so merkwürdig an. Ist etwas vorgefallen?«

»Gottfried,« flüsterte die Frau mehr als sie sprach, ging auf ihn zu und lehnte langsam ihr Haupt an seine Brust, »Gottfried, mein braver, braver Gottfried, ich danke Dir für alles Liebe und Gute, das Du mir gethan, seit ich so glücklich war, Dein Weib zu werden; ich danke Dir dafür viel tausend– und tausendmal und möge Dich der Himmel dafür segnen!«

»Aber was hast Du nur?« sagte der Schlossermeister fast wie verlegen. »Was soll denn all' die Feierlichkeit? Und mit Bedanken? Ei, da glaub' ich, hat Einer von uns gerade so viel Ursache als der Andere.«

»Nein, Gottfried,« flüsterte die Frau wieder, »nein; Du weißt es nicht und ich kann's Dir auch jetzt nicht sagen. Aber Du wirst's bald erfahren – bald – vielleicht heute noch und dann – dann sei mir nicht böse – denk' nicht, daß ich schlecht war, Gottfried, denk es nicht – ich bin's nie gewesen! Nur übergroße, thörichte Liebe hat mich dazu getrieben. Wenn es mich aber auch die langen, langen Jahre gepeinigt und gequält, und ich größere Strafe dadurch erlitten habe, als wenn sie mir die Glieder mit Ketten zusammengeschnürt hätten, an Dir hab' ich doch gesündigt, an Dir und an ihm, und Alles, was jetzt in meinen Kräften steht, ist, das zu sühnen.«

»Aber, Mutter,« rief Baumann erschreckt, denn er glaubte im ersten Augenblick nicht anders, als daß sie über die Angst um den Sohn den Verstand verloren habe, »so schlimm ist's ja noch gar nicht, es kann noch Alles besser werden; habe nur guten Muth.«

»Den hab' ich, Gottfried, recht aus vollem Herzen,« nickte die Frau, und ihr Auge glänzte dabei von einem unheimlichen Feuer; »recht guten Muth hab' ich, denn ich bin jetzt auf dem richtigen Weg, und wollte Gott, oh wollte Gott, ich wäre ihn früher gegangen, viel Unheil wäre dadurch Allen von uns erspart worden!«

»Komm, Alte, sei gut, mach' Dir deshalb keine Sorgen,« sagte Baumann freundlich, denn er gedachte sie jetzt nur zu beruhigen, damit sie die quälenden Gedanken fahren ließe. »Ist denn die Else noch nicht aus der Schule zurück? Es muß doch schon lange zwölf Uhr vorbei sein. Du hast auch noch nicht einmal den Tisch gedeckt?«

»Es muß sein, Gottfried,« nickte die Frau, die auf die letzten Worte gar nicht gehört oder geachtet hatte; »aber ich allein werde die Strafe erleiden, weil ich sie verdient habe – nicht Ihr – nicht er – es muß sein! Leb' denn wohl, Gottfried – Gott segne Dich viel tausendmal, und wenn Du . . .«

Die Aufregung war zu viel für sie. Sie wurde todtenbleich, und Baumann konnte sie noch eben mit seinem Arm auffangen, sonst wäre sie zu Boden gesunken. Jetzt wurde der alte Schlossermeister aber wirklich besorgt um den Zustand der Frau. Ihr tiefsinniges, zerstreutes Wesen, das entschieden nicht in ihrer Art lag, war ihm schon die letzten Tage aufgefallen, und die Ursache dafür suchte er natürlich nur in der Verhaftung des Sohnes. Aber er hatte nie geglaubt, daß es bei der nervenstarken Frau so gefährlich überhand nehmen könne. Er selber wußte auch in dem Augenblick gar nichts mit ihr anzufangen, als sie eben auf das Sopha zu legen; aber ein Arzt mußte her, vielleicht half ein Aderlaß oder irgend etwas Anderes, das er verordnen würde. Rasch entschlossen drückte er sich den Hut in die Stirn, rief dem in der Werkstätte arbeitenden Karl nur zu, einmal nach seiner Mutter zu sehen, es sei ihr unwohl geworden, er selber käme gleich wieder, und eilte dann, was er konnte, auf die Straße hinaus, um nach dem Arzt zu laufen und diesem gleich selber unterwegs die Krankheits-Symptome anzugeben.

Den nächsten Arzt fand er nicht zu Hause; aber der Medicinalrath Bennigs wohnte nur ein paar Straßen weiter, und den traf er glücklich gerade beim Frühstück an. Er mußte auch hereinkommen und dem alten Herrn, während er aß, den Fall genau erzählen, und der Arzt beruhigte ihn dabei. Es sei, wie er sagte, eine Nervenüberreizung, die sich wohl bald wieder geben würde; er wolle aber gleich selber mit ihm hinübergehen und die Kranke untersuchen – Sorge brauche er sich deshalb nicht zu machen.

Die beiden Männer waren bald wieder unterwegs, und Baumann beruhigte sich schon, als er, in der Nähe seiner Werkstätte angekommen, die Hämmer so lustig gehen hörte. Die Frau war jedenfalls wieder zu sich gekommen. Er hielt sich auch gar nicht da drinnen auf, sondern wollte gleich mit dem Medicinalrath durch die Werkstätte in die Stube gehen, als ihn Karl anrief.

»Vater, die Mutter ist nicht drin.«

»Nicht drin?« sagte Baumann erstaunt und sah sich nach ihm um.

»Ach,« meinte Karl, »es war ihr vorhin ein bischen schlecht geworden, und als sie wieder zu sich kam, meinte sie, sie wolle ein wenig an die frische Luft gehen, sie käme bald wieder.«

»Was,« rief Baumann erschreckt, »allein ist sie fort?«

»Ja,« sagte Karl, »natürlich; aber sie war so sonderbar. Die Else, die gerade aus der Schule kam, hat sie geherzt und geküßt, als ob sie auf ewig von ihr Abschied nehmen wolle, und auf mich ist sie auch zugegangen und hat mich an sich gedrückt und mir einen Kuß gegeben trotz meinem schwarzen Gesicht.«

»Großer Gott,« rief Baumann, jetzt zu Tod erschreckt, »was ist da vorgegangen und wo hinaus ist sie?«

»Ja, sie bog links um und ging die Straße hinunter.«

»Dort hinzu liegt der Fluß!« stöhnte Baumann, während Leichenblässe seine Züge deckte. Aber er war kein Mann, der sich lange einer Schwäche hingegeben hätte. »Fort, Karl,« rief er rasch, »setz' Deine Mütze auf und lauf', was Du kannst, da hinaus zu und suche die Mutter, und wenn Du sie findest, gehst Du ihr nicht von der Seite!«

»Aber, Vater . . .«

»Lauf', sag' ich, was Du laufen kannst – und Ihr Uebrigen alle auch – die Meisterin ist krank – sie war vorhin ohnmächtig geworden – es kann ihr ein Unglück geschehen, wenn Niemand bei ihr ist! Wo ist die Else?«

»Drinnen in der Stube, Vater. Sie weint, weil die Mutter weinte, als sie fortging.«

»Ich werde Sorge für das Kind tragen, Meister, und es in der Nachbarschaft unterbringen,« sagte der Medicinalrath; »sorgen Sie sich nicht deshalb und eilen Sie, selber Ihre Frau aufzusuchen, denn in einem solchen exaltirten Zustand kann man allerdings für nichts einstehen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doctor,« rief der Mann; »aber wir dürfen auch keinen Augenblick Zeit verlieren!« Und ohne weiter den Blick zu wenden, sprang er zur Thür hinaus und eilte, von Karl und den Uebrigen gefolgt, die sich bald nach verschiedenen Richtungen hin vertheilten, die Straße hinab und jetzt vor allen Dingen dem Ufer des Flusses zu, denn er fürchtete das Entsetzlichste.



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