Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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31.

Rathlos und Rath Frühbach.

In den letzten Tagen hatte ein so wunderliches Verhältniß im Baumann'schen Hause geherrscht, daß selbst der Gesell und die Lehrlinge darauf aufmerksam geworden waren und den Kopf darüber schüttelten. Sonst war nichts als Friede und Freundlichkeit in der Familie, und wenn der alte Schlossermeister mit seinem jüngsten Kind, seinem kleinen Liebling, manchmal nach Feierabend spielte, lachte er so herzlich über dessen kindlichen Frohsinn, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und unwillkürlich mitlachen mußten, wenn sie auch keine Ahnung hatten, was da drinnen so Lustiges vorging. Jetzt war das anders, viel anders geworden. Der alte Baumann stand den ganzen Tag bis Abends spät am Amboß und hämmerte auf das Eisen ein oder feilte an seiner Arbeit; wenn er sich aber noch vor wenigen Tagen ein lustig Lied dazu gepfiffen oder gesungen, so verrichtete er jetzt sein Tagewerk stumm und mit düster zusammengezogenen Brauen, und kein Wort wurde in der Werkstätte gesprochen, das sich nicht auf die Arbeit bezog und nothwendig gesprochen werden mußte.

Und welche Veränderung konnte erst mit der Meisterin vorgegangen sein? Sie war nicht krank, denn sie schaffte den ganzen Tag in der Küche und verrichtete alle ihre Besorgungen pünktlich, wie zuvor; aber sie kam gar nicht mehr vorn in die Stube, außer wenn sie Morgens rein machte und Mittags zum Essen, und selbst dann hatte sie einen andern Platz am Tische, als früher, nicht mehr neben dem Meister, sondern zwischen ihrer kleinen Else und dem Gesellen; und keine Frage that der Meister an sie, keine Silbe wurde überhaupt bei Tische gesprochen.

Den Leuten war das natürlich unheimlich, aber Keiner von ihnen, selbst Karl nicht, der Sohn vom Hause, wagte nach der Ursache zu fragen. Meister und Meisterin mußten sich mitsammen gezankt haben, wenn das auch eigentlich nie vorfiel und Keiner von Allen etwas gehört haben wollte; das aber blieb die einzige Erklärung, die sie darüber wußten, und war das der Fall, dann versöhnten sie sich auch wieder und das alte Verhältniß wurde hergestellt – daß es nur so viele Tage dauerte!

Das Essen war vorüber; der Meister stand wieder draußen bei seiner Arbeit, und die Frau wusch das Geschirr auf, als ein Polizeidiener in die Werkstätte kam und nach der Frau Baumann fragte.

»Was soll sie?« sagte der Schlossermeister, der todtenbleich geworden war, indem er den Hammer auf dem Amboß ruhen ließ.

»Ich habe hier eine Vorladung für sie auf heute Nachmittag vier Uhr.«

»Schön; legen Sie das Papier nur dahin, es soll ausgerichtet werden.«

»Nein; ich muß es ihr selber geben.«

»Dann gehen Sie in die Küche,« sagte der alte Mann düster, drehte sich ab und schob das Eisen in den Feuerherd, dessen Gluth, durch den Blasebalg angefacht, emporloderte.

Die Leute in der Werkstätte sahen ihm verwundert nach. Sie begriffen nicht, was die Meisterin mit der Polizei zu thun haben könne. Der Meister wußte es, aber er sagte kein Wort; er sah nicht auf, als der Polizeibeamte seine Pflicht erfüllt hatte und die Werkstätte wieder verließ; er ging nicht zu seiner Frau, um mit der zu sprechen. Er hätte sich nicht weniger darum bekümmern können, wenn die Bestellung im Nachbarhause abgegeben worden wäre.

Da warf Karl plötzlich seine Feile hin, rief: »Der Fritz!« und sprang der Thür zu, durch deren kleines, angelaufenes Glasfenster er den Bruder erkannt hatte. Und die kleine Else hatte im Zimmer den Ruf gehört und kam herausgesprungen, und wie er die Thür öffnete, klammerte sie sich an ihn, ließ sich von ihm emporheben und herzte und küßte ihn.

Und das war jetzt ein Fragen und Jauchzen zwischen den jungen Leuten, daß der Fritz wieder frei war und kein Verdacht der nichtswürdigen That mehr auf ihm lastete; und die Kleine hatte nur immer ihre Aermchen um seinen Nacken geschlungen und weinte und lachte: die bösen Männer dürften ihren Fritz nun nicht wieder in's Gefängniß stecken, und er solle bei ihr bleiben und nie wieder von ihr fortgehen.

Auch der Vater hatte seine Arbeit bei Seite gelassen und ihm die Hand entgegengestreckt, die er derb schüttelte und drückte.

»Aber wo ist die Mutter?« rief Fritz. »Weshalb kommt sie nicht? Geh hin, Elschen, und ruf sie; sag' ihr, der Fritz sei wiedergekommen.«

»Bleib, Else,« sagte der Vater; »sie ist in der Küche – geh dann zu ihr.«

Fritz sah den Vater verwundert an und dann den Bruder. Karl machte ihm aber hinter dessen Rücken ein Zeichen, das er zwar nicht verstand, aber doch daraus ersah, es müsse etwas vorgefallen sein, und er thäte besser, für den Augenblick nicht weiter nachzuforschen. Wie er aber nur in der Werkstätte dem Vater und den Uebrigen flüchtig erzählt hatte, wie es da oben gewesen und er heute Morgen freigelassen sei, ja, eigentlich schon vor drei Stunden hätte hier sein müssen und nur durch ein Versehen des albernen Schließers noch zurückgehalten wäre, da griff er sein Schwesterchen wieder auf und sprang hinüber in die Küche zur Mutter, um diese zu begrüßen.

Es dauerte lange, bis er wieder zurückkam, und jetzt ohne die kleine Else, und als er in die Werkstatt kam, ging er auf den Vater zu und sagte: »Vater, was ist denn eigentlich hier im Hause vorgegangen? Ihr seht mir Alle so sonderbar aus, so fremd. Mir ist, als ob ich Jahre lang entfernt gewesen wäre und nicht nur kaum eine Woche oder etwas mehr. Was habt Ihr nur? Wie ich in die Küche kam, fiel mir die Mutter um den Hals und weinte, als ob ihr das Herz brechen müßte, wollte sich auch gar nicht mehr beruhigen, und jetzt hat sie die kleine Else auf dem Schooß und küßt das Kind in einem fort und drückt es an sich.«

»Komm einmal mit herein, Fritz,« sagte der Vater ernst; »ich habe ein Wort mit Dir zu reden.«

»Mit mir, Vater? Ist etwas vorgefallen?«

»Ja, und etwas, das Dir nicht länger ein Geheimniß bleiben darf, eigentlich hätte nie ein Geheimniß bleiben sollen.«

»Aber willst Du nicht erst einmal zur Mutter gehen?«

»Nachher, mein Junge; zuerst komm einmal mit in's Zimmer hinüber, denn mir – hat's beinahe das Herz abgedrückt die letzten Tage, und es ist Zeit, daß ich's los werde – ich halt's nicht länger aus.«

»Ich begreife Dich nicht, Vater.«

»Du wirst's bald begreifen lernen,« nickte der Alte still vor sich hin; »komm nur mit, daß wir die Sache abmachen, denn ich muß wieder an die Arbeit. Und Du, Karl, geh einmal zur alten Bertram hinüber und frage sie, ob sie Zeit hätte, ein paar Tage hier zu uns herüber zu kommen und uns in der Wirtschaft zu helfen.«

»Ist die Mutter krank geworden, Vater?« rief Karl rasch.

»Nein,« sagte der Schlossermeister; »aber laß es auch lieber sein, ich will nachher selber zu ihr gehen – komm, Fritz!« Und ihm voranschreitend, ging er in die Stube hinein, setzte sich dort in den alten Lehnstuhl und winkte dem Sohn, auf einem andern Sessel Platz zu nehmen.

Karl schüttelte mit dem Kopf; er konnte sich gar nicht denken, was »der Alte« heute hatte und wie tief und langsam er da drinnen sprach, und dann sein Bruder – wie heftig. Die Worte freilich ließen sich hier draußen nicht verstehen; aber etwas Besonderes mußte es sein. Und weshalb erfuhr er nichts davon? Gehörte er nicht zur Familie?

Die Mutter wußte, was die beiden Männer mitsammen sprachen. Draußen in der Küche saß sie niedergekauert an der Thür, die in die Stube führte und deren Schwelle sie nicht mehr zu überschreiten wagte, das Gesicht in den Händen geborgen, und zwischen den dünnen Fingern quollen die heißen, brennenden Thränen vor. So saß sie, bis die Zeit kam, in der sie auf das Amt gefordert war; sie wußte, daß sie von dort nicht wiederkehren würde. Sie war aufgestanden und hatte ein kleines Bündel Wäsche zusammengeschnürt, das Notwendigste nur, das sie brauchte, und das unter dem Arm, trat sie endlich in die Werkstätte – sie vermied die Stube –, um ihren schweren Weg anzutreten. Aber Fritz hatte sie durch das kleine Fenster in der Wohnstube gesehen, und mit wenigen Sätzen war er draußen bei ihr.

»Mutter!« rief er und schlang seine Arme um ihren Nacken.

»Und Du nennst mich Mutter?« sagte die Frau erstaunt und sah ihn mit den großen, thränengefüllten Augen an.

»Meine liebe, liebe Mutter!« Und fest und innig drückte er sie an sich; sie aber, während sie ihr Haupt einen Moment an seine Schulter lehnte, sagte leise:

»Ich danke Dir, Fritz, ich danke Dir aus tiefstem Herzen; jetzt werd' ich hingehen und für Dich sprechen – verlaß Dich darauf, Dir soll Dein Recht werden!«

»Und Du, Mutter . . .?«

»Sorge Dich nicht um mich, ich habe es nicht verdient. Leb' wohl!« Und ihn noch einmal auf die Stirn küssend, machte sie sich von ihm los. Fast unwillkürlich wandte sie sich dabei dem Mann zu, um auch Abschied von ihm zu nehmen; aber der Schlossermeister hatte die Arme auf die Brust gekreuzt und schaute finster zur Seite – es war keine Spur von Versöhnung in seinen harten Zügen zu erkennen.

»Leb' wohl, Gottfried,« sagte sie leise und streckte ihm die Hand entgegen.

»Leb' wohl!« sagte Baumann ohne sie anzusehen, drehte sich ab und schritt wieder in die Stube zurück.

Seine Frau wagte nicht, ihm dahin zu folgen. Karl war vorgesprungen und wollte jetzt wissen, was sie habe, weshalb sie Abschied nähme. Sie küßte ihm das rußige, ehrliche Gesicht, hob noch einmal die kleine Else auf, die sich an sie hing und nicht von ihr lassen wollte, riß sich los und eilte mit raschen Schritten auf die Straße hinaus und dem Polizeigebäude zu, in dessen düsterem Thor sie verschwand. – –

Der Staatsanwalt Witte befand sich an dem Tag in einer sehr unbehaglichen Stimmung, denn er hatte etwas unternommen, von dem er noch nicht recht klar sah, wie er es ausführen sollte. Wenn er sich auch bewußt war, nur seine Pflicht dabei zu thun, und ihn gesetzlich – der Fall mochte entschieden werden, wie er wollte – nicht die geringste Verantwortlichkeit treffen konnte, so täuschte er sich auch nicht einen Moment über das Aufsehen, das derselbe, besonders in den höheren Schichten der Gesellschaft, erwecken würde, und er wußte dabei recht gut, daß Alles für ihn nur von dem Erfolg dabei abhänge, denn nach dem Erfolg allein urtheilt die Welt. Fiel er mit seiner Klage durch, so konnte er sich erstlich darauf verlassen, daß Fräulein von Wendelsheim Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um sich an denen zu rächen, die es gewagt hatten, ihr entgegen zu treten. Aber das nicht allein: es mußte ihm auch wesentlich in seinem Rufe als Staatsanwalt schaden, zu einer dann als Schwindelei hingestellten Geschichte die Hand geboten zu haben, und dagegen half ihm nicht einmal der gute Name, den er bis jetzt als redlicher Mann in der Stadt hatte. Er kannte die Welt dafür viel zu genau.

Aber es ließ sich nicht mehr ändern; der Stein rollte, und durch seinen heutigen Besuch bei Fräulein von Wendelsheim hatte er überdies dem Faß den Boden ausgestoßen. Jetzt kämpfte er so gut für sich selber, als für die Rechte des wirklichen und leiblichen Wendelsheim'schen Erben, und wußte überdies die gute Sache auf seiner Seite – freilich noch immer nicht genug gegen zwei böse Weiber, so lange diese einig waren. Wenn man sie nur hätte entzweien können – aber wie?

Einer seiner Schreiber steckte den Kopf in die Thür und meldete einen Besuch.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich für Niemanden zu sprechen bin?« fragte Witte scharf.

»Es ist der junge Baumann; er behauptet, er müßte Sie sprechen, und zwar in einer wichtigen Angelegenheit.«

»Der junge Baumann, hm – lassen Sie ihn hereinkommen. Der kann mir nachdenken helfen,« brummte er halblaut vor sich hin.

Fritz trat ein; er sah erschöpft und bleich aus. »Herr Staatsanwalt,« sagte er, »nach meinem letzten Hiersein hatte ich geglaubt, Ihre Schwelle nicht wieder betreten zu dürfen; aber die Verhältnisse zwingen mich dazu.«

»Lieber junger Freund,« sagte Witte, »Sie sind mir stets angenehm gewesen und werden es bleiben, wie sich auch immer die späteren Verhältnisse gestalten; Frauen haben allerdings ihren eigenen Kopf, aber – reden wir nicht davon. Was führt Sie zu mir?«

»Mein Vater hat mir Alles gesagt . . .«

»Ich dachte es mir, und es ist vielleicht besser so, einmal mußten Sie es doch erfahren.«

»Aber die Mutter ist auf's Amt gefordert und nicht wieder zurückgekehrt; sie werden doch um Gottes willen die arme Frau nicht gefangen halten?«

»Mein lieber Herr Baumann – erlauben Sie, daß ich Sie jetzt noch bei Ihrem alten Namen nenne –, das läßt sich nicht ändern,« sagte Witte achselzuckend; »die Gerechtigkeit muß ihren Lauf und in dem Laufe ihre Form haben. Aber seien Sie versichert, daß sie sich nicht in unfreundlichen Händen befindet. Ich war selber oben, als sie ankam und verhört wurde; sie legte ein offenes, reumüthiges Geständniß ihres ganzen Vergehens ab, aber so ohne jede Beschönigung für sich selbst, so nur von dem einen Gedanken durchdrungen, Alles wieder gut zu machen, daß sie sich den Polizei-Director selber schon ganz gewonnen hat. Ich habe auch mit diesem gesprochen; jede Erleichterung, die ihr die Hausordnung des Gefängnisses verstattet, wird ihr werden. Aber in Freiheit kann sie nicht wieder gesetzt werden, bis Alles auf die eine oder die andere Art erledigt ist.«

»Meine arme Mutter . . .!«

»Sie nennen sie Ihre Mutter?«

»Und ist sie es mir nicht gewesen die vielen, vielen Jahre lang? Hat sie nicht mit treuer Liebe für mich gesorgt und nie nie, so lange ich denken kann, ein rauhes oder hartes Wort für mich gehabt?«

»Ich hoffe, es wird noch Alles gut gehen,« sagte Witte.

»Und glauben Sie wirklich, daß sie wahr gesprochen?« fuhr Fritz bewegt fort, »daß nicht irgend eine fixe Idee sie erfaßt hat, in der sie jetzt Sachen behauptet, die gar nicht existiren?«

»Ich glaube jedes Wort, das sie gesprochen hat,« sagte Witte ruhig und bestimmt.

»Aber das Alles klingt so fabelhaft, so wild, so unmöglich; ich bin gar nicht im Stande, mich hinein zu denken.«

»Das wäre gerade kein Wunder,« nickte Witte, »denn ähnliche Dinge kommen sonst auch eigentlich nur in Feenmärchen vor, wo arme Hirten plötzlich Prinzen werden und dann die übliche Königstochter heirathen. Uebrigens gebe ich Ihnen mein Wort, junger Freund, daß kein Mensch in der Welt so tolle, wahnsinnige Dinge erfinden kann, als wirklich existiren und zu Tage kommen. Besonders jeder Rechtsanwalt wird Ihnen das bestätigen, denn was der Welt sonst häufig verborgen bleibt, müssen sie mit allen Verwickelungen und Einzelheiten stets erfahren.«

»Und wenn es wirklich so wäre, wer, glauben Sie, daß die größte Schuld an jener Täuschung trägt? Doch nicht die Mutter?«

»Nein, sicher nicht; jedenfalls jenes bösartige Weibsstück, die Schustersfrau, und Ihr Fräulein Tante.«

»Meine Tante?« sagte Fritz, tief aufseufzend. »Die Natur scheint wirklich nicht glücklich mit der Wahl meiner Tanten zu sein, denn wenn ich mir zwischen beiden, der bisherigen und der zukünftigen, eine auszusuchen hätte, ich wüßte nicht, welche ich nehmen sollte.«

»Ich würde für Beide danken,« sagte Witte trocken; »aber Eine ist Ihnen sicher. Doch wir vergeuden unsere Zeit. Was führt Sie zu mir?«

»Weiter nichts, als die Bestätigung aus Ihrem Munde zu hören, daß nicht vielleicht nur ein irrer Wahn, eine Einbildung meine Mutter zu dem Geständniß getrieben hat, und wenn das nicht der Fall wäre, mit Ihnen zu berathen, wie wir ihr helfen, wie sie retten können.«

»Da ist vor der Hand gar nichts zu thun,« sagte der Staatsanwalt, »als dem Gesetz eben seinen Lauf zu lassen; von ihrer Untersuchungshaft kann sie kein Mensch, und wenn es der Justizminister wäre, befreien.«

»Doch was soll jetzt geschehen?«

»Ja, das ist eben die Frage,« nickte Witte still vor sich hin, »und ich gäbe selber viel darum, wenn ich sie richtig beantworten könnte. Geschehen kann sehr viel; aber daß das Richtige zuerst geschieht, das ist der Hauptpunkt, und der Teufel weiß, was das Richtige ist – ich nicht.«

»Sie glauben nicht, daß meiner Mutter Zeugniß allein genügt?«

»Gott bewahre – kein Gedanke daran! Die Erbschafts-Commission würde sich nie davon bestimmen lassen, denn eine solche Behauptung könnte am Ende jede Mutter aufstellen, um ihrem Kind eine Erbschaft von nahezu einer halben Million zuzuwenden.«

»Und der arme Bruno von Wendelsheim? . . .«

»Der arme Bruno von Wendelsheim?« meinte Witte. »Sagen Sie lieber: die armen Leute, die dem armen Bruno von Wendelsheim auf seine Erbschaft hin die vielen Tausende geborgt haben!«

»Er wird sie bezahlen.«

»Er denkt gar nicht daran, denn seinen ›guten Willen‹ kann er nicht wechseln lassen. Ich bin fest überzeugt, daß er über dreißigtausend Thaler Schulden hat – wenn das reicht.«

»Das wäre allerdings viel, aber er wird sie doch bezahlen,« sagte Baumann bestimmt – »er oder ich, wer nun die Erbschaft antritt.«

»Wollten Sie das wirklich?«

»Würden Sie nicht das Nämliche an meiner Stelle thun? Denn war er mehr schuldig an dem Tausch, als ich selber? Aber welchen nächsten Schritt beabsichtigen Sie – darf ich ihn wissen?«

Der Staatsanwalt war aufgestanden und ein paar Mal in seiner kleinen Stube auf und ab gegangen.

»Ich war heute in Wendelsheim,« sagte er, »und kam gerade zur rechten Zeit, um einem heftigen Auftritt Ihrer Fräulein Tante mit dem jungen Mädchen da draußen – wie heißt sie doch gleich?«

»Mit Kathinka?«

»Ja, mit Kathinka – beizuwohnen. Dann hatte ich eine Unterredung mit der Dame selbst; ich wollte sie zu einem Geständniß bringen, aber es mißlang gründlich.«

»Die Baronin von Wendelsheim hat also nie um den Tausch gewußt?«

»Es scheint nicht so; aller Vermuthung nach hat Fräulein von Wendelsheim die Kleinigkeit, jedenfalls unter Mitwissen Ihres Vaters, besorgt.«

»Sie leugnete?«

»Sie ließ sich nicht einmal herbei, zu leugnen, denn damit hätte sie sich auf der Defensive halten müssen, sondern sie ging augenblicklich, wie ein tapferer Feldherr, zur Offensive über, und ich gebe Ihnen mein Wort, sie leistete darin Außerordentliches. Von der Dame ist auch nie ein Geständniß zu gewärtigen; eher verräth der Stuhl da, wo der Baum gestanden hat, aus dem er einst geschnitten wurde.«

»Und wäre es denn nicht möglich, die ganze Sache zurückzuziehen? Oh, Gott ist mein Zeuge, ich verlange den Reichthum nicht, und ehe so großes Elend über so viele Menschen kommt . . .«

»Das ist zu spät, mein junger Freund,« sagte Witte, »und zwar nicht allein der Gerichte, sondern vorzüglich Ihres eigenen Vaters – des Schlossermeisters wegen, wollte ich sagen; denn dessen Schädel ist härter als das Eisen, das er schmiedet. Aber es ginge auch überhaupt nicht, die Sache ist schon zu weit gediehen; wir könnten nicht mehr zurück, selbst wenn wir wollten. Aber wir wollen auch nicht,« setzte er hartnäckig hinzu, »und es ist eine Art von Zweikampf daraus geworden, den ich schon ehrenhalber mit Ihrer Fräulein Tante auszufechten habe.«

»Und meine arme Mutter?«

»Sorgen Sie sich nicht um sie. Ihre Pflegemutter hat allerdings gefehlt und wird dafür gestraft werden müssen; aber stellt sich die Untersuchung so heraus, wie ich vermuthe, so wird die Strafe nicht überhart ausfallen. Nicht so günstig möchte freilich das Urtheil für den Baron lauten, der mit voller, ruhiger Ueberlegung dabei gehandelt haben muß und nur von der noch schlaueren Schustersfrau überlistet wurde.«

»So wäre Benno mein Bruder gewesen!« seufzte Fritz. »Und oh, wie lieb hab' ich den Knaben gehabt, ohne es zu wissen, wie manche lange Stunde an seinem Bett gesessen und ihm in die guten, klugen Augen gesehen! Jenes arme Mädchen aber, das jetzt von dem gnädigen Fräulein so hart behandelt wird, war seine treue Pflegerin, und Benno hing mit solcher Liebe an ihr!«

Witte stand am Fenster und trommelte an den Scheiben, »Es ist eine ganz verfluchte Geschichte,« sagte er endlich, »und es wird uns nichts übrig bleiben, als den Stier bei den Hörnern zu fassen, wie man zu sagen pflegt, und der Stier ist dieses Mal kein Anderer, als die gnädige Tante.«

»Ich habe kein Mitleiden mit ihr,« sagte Fritz.

»Ja, es ist nur das Schlimme, daß sie das auch gar nicht verlangt. Sie zeigt die Zähne, und wenn wir die Sache, wie sie jetzt steht, vor die Geschworenen bringen, deren Sitzungen in nächster Zeit beginnen, so ist es undenkbar, daß sie sich hindurchfinden.«

»Aber wäre es nicht möglich, weitere Zeugen aufzutreiben?«

»Nein; das Frauenzimmer, das damals der Frau Heßberger hülfreiche Hand geleistet hat, und dessen Aussage jetzt allerdings von der größten Wichtigkeit wäre, ist, wie ich von Ihrer Mutter, der Frau Baumann, gehört habe, leider in der Zeit gestorben. Lieber Gott, es sind vierundzwanzig Jahre her, und die erst später hinzugerufene Amme des jungen Barons – die Geschichte kenn' ich genau – weiß von nichts und kann von nichts wissen, denn als sie eintraf, war die ganze Sache abgemacht.«

»Kennt der Lieutenant von Wendelsheim schon die Gefahr, die seinen Ansprüchen droht – seine wirklichen Eltern?«

»Nein – wird ihm auch eine angenehme Ueberraschung sein; aber wie bis jetzt Alles liegt, schwebt er noch nicht einmal in übergroßer Gefahr, sie zu verlieren, denn ich fürchte fast, wir fallen durch.«

»Und dann wird die Mutter wieder freigegeben?«

»Ich glaube nicht, daß dann eine Veranlassung sein kann, sie länger festzuhalten; denn daß eine Täuschung beabsichtigt wurde, sind wir im Stande zu beweisen, und wenn die übrigen Theilnehmer derselben frei ausgehen, kann die Frau Baumann allein nicht dafür gestraft werden.«

»So mag es denn gehen, wie Gott will,« sagte Fritz Baumann; »läge es in meiner Hand, durch Verzichtleisten auf die Erbschaft die Mutter zu befreien, mit Freuden thät' ich es den Augenblick und gäbe Ihnen dazu jede Vollmacht; ist es aber nicht möglich, dann freilich muß ich dem Schicksal seinen Lauf lassen, und hoffe nur, mit Allem nichts zu thun zu haben, bis es vorüber ist.«

»Auch selbst das kann ich Ihnen nicht versprechen,« sagte Witte; »der einzige, wenn auch schwache Beweis, den wir vielleicht haben, liegt in der Familienähnlichkeit der verschiedenen betheiligten Personen, und vor den Geschworenen kann der allerdings wichtig werden. Dann müssen Sie aber sowohl als Lieutenant von Wendelsheim vor den Schranken erscheinen.«

Fritz Baumann seufzte tief auf. »Ich kann's nicht ändern!« und dem Staatsanwalt die Hand reichend, verließ er langsam das Zimmer.

Wie er die Thür hinter sich zudrückte, kam die Frau Staatsanwalt in einem schwerseidenen Kleide über den Vorsaal gerauscht, gerade auf die Thür des Arbeitszimmers zu.

»Ist mein Mann zu Hause?« wollte sie den Fremden fragen, als sie ihn plötzlich erkannte und, bei den ersten Worten kurz abbrechend, ihn mit einem so hochmüthigen, verächtlichen Blick über die eine Schulter ansah, daß Fritz kaum ein Lächeln unterdrücken konnte. Es hat immer etwas Komisches, wenn eine Dame künstlich vornehm aussehen will, denn die wirklich vornehme Dame ist in ihren ganzen Bewegungen stets einfach und natürlich und denkt gar nicht daran, den Kopf so weit zurück zu werfen.

Frau Staatsanwalt Witte rauschte aber stolz, wie ein Schwan auf stiller Fluth, und majestätisch an dem jungen Mann vorüber und tauchte in das Bureauzimmer ein, wo die sitzenden Schreiber von ihren Stühlen emporfuhren und die stehenden sich bückten.

»Mein Mann in seinem Zimmer?« fragte sie.

Der Eine deutete mit seiner Feder in achtungsvoll bejahender Antwort nach der nächsten Thür, und die Dame, Sand, Papierschnitzeln, gebrauchte Stahlfedern und was sonst noch auf der Erde lag, hinter sich drein kehrend, verschwand in ihres Gatten Zimmer.

»Was wollte der Mensch wieder bei Dir?« war hier die erste Frage, die sie that.

»Welcher Mensch, mein Kind?«

»Der Herr Baumann, wenn Dir das besser klingt.«

»Ah, der junge Baumann; er hatte Einiges mit mir zu besprechen.«

»Und wagt der noch, nach dem, was vorgefallen, unser Haus zu betreten?«

»Liebes Kind,« sagte der Staatsanwalt, der seit der letzten Ueberraschung bei Heßberger angefangen hatte sich zu emancipiren, und dem das hochmüthige Wesen der Gattin, dem eigenen schlichten Charakter gegenüber, höchst fatal war – »wenn Du bei seiner Tante einen Besuch machst, wird er mir den doch erwidern dürfen!«

»Witte,« rief die Frau mehr empört als erschreckt, »Du weißt, daß ich dazu nur durch die Räthin Frühbach verleitet wurde; es ist niedrig und unwürdig von Dir, mir das vorzuwerfen!«

»Was wünschest Du, mein Schatz? Ich bin gerade im Begriff, auszugehen.«

»Ich wollte Dich in etwas um Rath fragen,« sagte die Frau, rasch abbrechend, denn ihre Gedanken liefen allerdings in dem Augenblick auch auf Anderes hinaus. »Der junge Baron von Weldern – Du kennst ja den alten Baron von Weldern mit dem reizenden Rittergut am Vorberge – hat uns heute Morgen seinen Besuch gemacht, und ich wollte Dich fragen, ob Du es nicht vielleicht für passend hieltest, wenn wir ihn für morgen Abend zu einer Tasse Thee bäten? Ich hatte mir gedacht . . .«

»Ich will Dir etwas sagen, mein liebes Kind,« unterbrach sie der Staatsanwalt, »und ich bitte, Dich für die Zukunft danach zu richten: ich verbiete Dir also hiermit auf das Strengste, von heute ab weder zu Thee, noch Kaffee, Mittag- oder Abendessen je wieder einen Adeligen, einen Baron oder Grafen, oder welchen Titel die Herren sonst führen mögen, einzuladen!«

»Aber Witte!« rief die Frau und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

»Du hast mich doch verstanden?«

»Du bist wohl wahnsinnig geworden?« rief seine zärtliche Gattin.

»Ich war noch nie so voll bei Verstande, als in diesem Augenblick,« entgegnete der Staatsanwalt und griff nach seinem Hut, denn er wünschte diese Scene doch soviel als möglich abzukürzen.

»Aber unsere Stellung im Leben . . .«

»Ist eine höchst ehrenvolle,« erwiderte Witte, »so lange wir uns auf dem Boden derselben bewegen, und – es werden uns nachher solche Demüthigungen erspart werden, wie wir sie jetzt erfahren müssen.«

»Welche Demüthigung?« fragte die Frau erstaunt.

»Das ist eine kleine Ueberraschung, liebes Herz,« sagte Witte, »die Dir noch vorbehalten bleibt; Du magst Dich aber immer darauf gefaßt machen. Du nimmst es mir nicht übel, daß ich Dich verlasse, ich habe dringende Geschäfte.«

»Aber ich werde doch als Frau vom Hause einladen dürfen, wen es mir beliebt?« rief die Frau, empört über diese rücksichtslose und ganz ungewohnte Behandlung.

»Doch nicht, mein Schatz,« sagte Witte, der heute gerade in der Stimmung war, seinen einmal geäußerten Willen durchzusetzen, »oder Du könntest in die unangenehme Lage kommen, daß weder ich noch Ottilie bei Deiner Festlichkeit erschienen; und ich weiß, daß Du zu verständig bist, Dir eine solche Blamage öffentlich aufzuladen!« Und damit griff er seinen Stock aus der Ecke auf und schritt mit den Worten: »Ich gehe auf die Polizei!« durch seine Schreibstube hin und die Treppe hinunter, seine auf's Aeußerste empörte Frau heute sich selber überlassend.

Unten auf der Straße sah er nach der Uhr – es war noch zu früh; er hatte noch über eine halbe Stunde Zeit, ehe er den Polizei-Director sprechen konnte, denn die auf heute anberaumte Sitzung war, wie er recht gut wußte, noch nicht aus. Aber er zog es doch vor, seine Zeit lieber auf der Straße abzuwarten, als nach der letzten Erklärung die Scene mit seiner Frau zu verlängern. Er konnte ja indessen eine kleine Promenade durch die Anlagen der Stadt machen; in jetziger Tageszeit fand er wenig oder gar keine Menschen dort, und vielleicht kam er dabei auf einen guten Gedanken, die Sache, die ihm jetzt vor allen anderen am Herzen lag, in der richtigen Weise anzugreifen und zu beenden. Aber es fiel ihm nichts ein; welche Mittel er auch ersann, überall traten ihm mit eiserner Stirn die beiden Frauen – die Heßberger und das gnädige Fräulein – entgegen, und er sah keinen Ausweg aus diesem Labyrinth.

»Ah, mein lieber Staatsanwalt!« hörte er da eine Stimme, fühlte, wie sich zu gleicher Zeit ein Arm in den seinigen schob, und als er sich etwas überrascht danach umdrehte, erkannte er das dicke, gutmüthige Gesicht des Raths Frühbach, der ihm freundlich über seine Brille zunickte.

»Ah, mein lieber Rath!«

»Auch auf einem Spaziergang, lieber Freund? Ja, das ist auch meine einzige Arznei, schon meiner Verdauung wegen. Ich sage Ihnen, wenn ich mich Nachmittags recht in eine gesunde Transspiration gelaufen habe, befinde ich mich Abends noch einmal so wohl. Aber was ich gleich sagen wollte, wissen Sie nichts davon, was ist denn das für eine Geschichte? Als ich vorhin an der Polizei vorüber ging, sagte mir der eine Polizeidiener, dessen Frau einen kleinen Obstgarten hat und uns immer Obst und etwas Gemüse bringt – ich bin dadurch mit dem Mann bekannt geworden, und Sie wissen, die Polizei muß man sich immer zu Freunden halten – daß sie eben die Baumann, die Schlossersfrau und die Schwester der Heßberger, eingesperrt und auf Numero Sicher gebracht hätten.«

»Der Polizeidiener hätte auch etwas Gescheiteres thun können, als aus der Schule zu schwatzen,« sagte Witte.

»Aber mir, bester Freund,« sagte Frühbach, »mir kann er es doch sagen; er weiß ja recht gut, daß ich mit keinem Menschen darüber rede. Jedenfalls steht das mit der Diebesgeschichte in Verbindung und die beiden Schwestern haben gemeinschaftlich gearbeitet. Das war doch ein Glück, Staatsanwalt, wie? daß ich damals gleich auf einer Haussuchung bestand und Ihnen die Vollmacht ausstellte? Wir wären der Bande sonst im Leben nicht auf die Spur gekommen.«

»Allerdings nicht, lieber Rath, allerdings nicht,« sagte Witte, der sich indessen nur auf einen Ausweg besann, um von seinem lästigen Begleiter loszukommen, denn er schwatzte nicht allein jede Unterhaltung, sondern auch die Gedanken selber todt.

»Da fällt mir dabei eine ganz ähnliche Geschichte aus Schwerin ein,« fuhr der Rath fort, der jetzt mit geblähten Segeln in seinem Elemente schwamm und noch einmal so breit und aufgedunsen zu werden schien. »Da hatten wir auch ein Dienstmädchen, eine ganz brave, ordentliche Person, wie wir glaubten, und deren Schwester kam manchmal auf Besuch zu ihr; aber es fehlte uns immer etwas, bald ein Löffel, bald eine Serviette, bald auch einmal etwas schmutzige Wäsche – meine Seele dachte aber nicht an das Mädchen oder ihre Schwester, denn es waren gar so ordentliche Personen. Mein Frauchen aber, das darin außerordentlich scharf ist – ich sage Ihnen, Staatsanwalt, die Frau würde zu einem Untersuchungsrichter passen, so genau kommt sie der Sache immer auf den Grund, und die Heßbergers hat sie schon lange in Verdacht gehabt – was wollte ich denn gleich sagen – ja, meine Frau sagte eines Tages zu mir: Du, Männi, sagt sie, der Pauline trau' ich nicht, mit der ist's nicht richtig! Nun denke ich schon 'was Anderes und sage: Ih bewahre, liebes Kind, die Pauline muß ja schon wenigstens sechsundvierzig Jahre alt sein! Aber meine Frau sagt: Ih, Gott bewahre, das mein' ich gar nicht, ich meine wegen der silbernen Löffel! Ja so! sag' ich, und nun fällt mir auch so Manches ein, das mir verdächtig vorkommen konnte. Zuerst wollte die Pauline eine kleine Erbschaft gemacht haben, und ich traute der Sache nicht, aber wir konnten ihr auch nicht beweisen, daß es nicht wahr wäre.«

»Hm,« sagte Witte und sah den Rath an.

»Und dann,« fuhr dieser fort, »steckte sie immer mit ihrer Schwester so durch. Nun hatte die Pauline eine böse Eigenschaft, das wußte ich: sie horchte. Wenn ich mich manchmal mit meiner Frau vertraulich unterhielt und von Dem und Jenem sprach, dann hatte sie immer das Ohr am Schlüsselloch. Damit dachte ich sie denn auch zu fangen, daß sie sich einmal selber verrathen sollte; und wie ihre Schwester wiederkam, rief ich sie herein, ich hätte ihr 'was zu sagen, und fragte sie dann nach einer Pauline Weber, die gar nicht existirte, und sagte ihr, daß uns die Pauline früher so bestohlen hätte, und fing nun an, etwas lauter auf die Pauline zu schimpfen, was das für ein schlechtes Frauenzimmer wäre und uns silberne Löffel und Servietten und Wäsche und was sonst noch weggenommen hätte. Auf einmal geht die Thür auf, und die Pauline stürzt herein, und ich denke, sie soll mich und meine Frau in Stücke reißen, so wüthend war sie. Wir konnten sie auch wirklich kaum beruhigen, daß wir gar nicht sie, sondern eine ganz andere Pauline gemeint hätten, denn sie drohte in einem fort mit der Polizei. Aber es war auch ein Glück, daß ich nichts weiter gesagt hatte, denn wie sich später herausstellte, war sie's auch gar nicht gewesen, sondern eine Aufwärterin, die wir manchmal im Hause hatten und die bei einer andern Dieberei erwischt wurde und Alles eingestand.«

»Sonderbar, sonderbar,« sagte Witte und schüttelte in einem fort mit dem Kopf, »man sollte es nicht für möglich halten . . .«

»Nicht wahr?« sagte Rath Frühbach, nicht wenig durch die Anerkennung geschmeichelt. »Ja, es passiren wirklich wunderbare Sachen auf der Welt; aber man muß nur einen Blick dafür haben. Ich sage Ihnen, da begegnete ich eines Tages dem Regierungs-Präsidenten Hesse, einem alten Freunde von mir, auf dem Markte . . .«

»Sie entschuldigen mich gewiß, lieber Rath, ich muß hier abbiegen,« unterbrach ihn Witte, dem eine Fluth von Gedanken durch den Kopf schoß.

»Das macht nichts,« sagte Rath Frühbach freundlich, »ich habe gar nichts zu versäumen; ich begleite Sie. Also der Präsident . . .«

»Aber ich biege hier gleich in das nächste Haus ab; ich habe dort Jemanden in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Sie erzählen mir die Geschichte ein ander Mal, wie?«

»Gewiß, mit dem größten Vergnügen,« sagte Frühbach; »sie ist übrigens gar nicht lang, und wenn Sie . . .«

»Hier ist das Haus – ich danke Ihnen, lieber Rath. Auf Wiedersehen!« Und damit ging Witte in ein vollkommen fremdes Haus, in dem er keine Menschenseele kannte, und stieg dort, nur in dem Gefühl, den sonst nicht abzuschüttelnden Rath los zu werden, und ganz in Gedanken eine Treppe nach der andern hinauf, bis er sich plötzlich unter dem Dache vor einer schmalen, mit einem Vorhängeschloß versehenen Bodenthür fand und nun nicht weiter konnte.

»Herr Du mein Gott,« sagte er hier, ordentlich erstaunt, »wo bin ich hingerathen? Die verdammten Treppen! Aber hierher ist er mir doch nicht gefolgt – jetzt kann ich nur machen, daß ich wieder hinunter komme.«

Ganz unbemerkt sollte das aber nicht geschehen; denn die Treppe war steil und unbequem zu gehen, er hatte dabei etwas Geräusch nicht vermeiden können. Wie er in der dritten Etage wieder ankam, öffnete sich eine Thür, und eine Frau fragte, den Kopf herausstreckend: »Zu wem wollen Sie?«

Witte mochte nicht sagen, daß er nur auf gut Glück hier hinaufgelaufen sei, und nach dem ersten, besten Namen, der ihm einfiel, fragte er: »Können Sie mir nicht sagen, liebe Frau, ob hier der Schneider Müller wohnt?«

»Ja wohl, der wohnt hier,« nickte die Frau, die Thür jetzt aufmachend; »bitte, wollen Sie nicht näher treten?«

»Das ist Pech!« brummte Witte leise vor sich hin und las jetzt wirklich zu seiner Ueberraschung auf einem an der Thür angehefteten Schild die zierlich geschriebenen Worte: »Karl Müller, Schneidermeister.« Es half aber nichts, nach der Frage mußte er hineingehen und wußte auch in der ersten Verlegenheit wirklich nicht, was er anders thun sollte. Er hätte aber kein Advocat sein müssen, wenn er um irgend einen Ausweg verlegen gewesen wäre, und kaum betrat er deshalb auch die kleine, entsetzlich dumpfige Werkstätte, wo ein bleich genug aussehender junger Mann mit zwei Lehrjungen arbeitete, als er auf diesen zuging und sagte: »Ach, mein lieber Herr Müller, ich bin der Staatsanwalt Witte und suche einen Schneider Müller mit dem Vornamen Chrysostomus, kann ihn aber im ganzen Adreßkalender nicht finden. Wären Sie vielleicht im Stande, mir Aufklärung zu geben und zu sagen, wo ich ihn treffen kann?«

Der arme Schneider, dessen Gesicht sich ordentlich aufgeklärt hatte, als er, wie er glaubte, einen neuen Kunden eintreten sah, schien etwas niedergeschlagen, erwiderte aber doch, er bedauere, nicht dienen zu können. Er selber sei noch nicht so sehr lange hier ansässig und kenne keinen Chrysostomus Müller.

Witte sah sich in der Stube um; sie war unendlich sauber gehalten, aber auch unendlich ärmlich und enthielt kaum das Nothdürftigste von Möbeln. Neben dem Meister lag sein Vesperbrod, und in der That nicht mehr, als um was er wahrscheinlich täglich bat, sein »täglich Brod«, eine harte Kruste, ohne Butter oder andere Zuthat. Witte war schon im Begriff zu gehen, als er noch auf der Schwelle stehen blieb und sagte: »Ich bin mit dem Meister, der meine Kleider macht, nicht recht zufrieden und möchte gern einmal wechseln; haben Sie Zeit, so kommen Sie morgen früh um acht Uhr zu mir, aber nicht später, um mir Maß zu nehmen. Wenn Sie ordentlich arbeiten, bekommen Sie nicht allein einen guten Kunden, sondern ich werde Sie auch noch weiter empfehlen – hier haben Sie meine Karte.« – Und mit dem Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben, stieg er die Treppe wieder hinab.

Er hatte den Schneider aber schon vergessen, ehe er nur das Haus verließ, denn andere Dinge gingen ihm jetzt im Kopf herum: die Erbschaft der Frau Heßberger! Daß er daran auch noch gar nicht gedacht! Da war ein Anhaltspunkt, denn er zweifelte keinen Augenblick, daß die Heßberger darüber, wo sie das Geld damals erhoben, keine genügende Auskunft würde geben können, und dann – nun, wenn er ein Mittel fand, die Heßberger zum Reden zu bringen – des Raths Erzählung, wenn sie auch, wie alle seine Geschichten, einfach im Sande verlief, hatte eine wahre Fülle von Ideen in ihm wach gerufen, und er brauchte Zeit, um die zu verarbeiten.

Vor allen Dingen mußte er noch eine Besprechung mit der Frau Baumann haben, und raschen Schrittes eilte er jetzt auf das Polizeigebäude zu.



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