Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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30.

Das gnädige Fräulein.

Draußen im Schlosse Wendelsheim war es ein trostloses, ödes Leben, denn mit dem Hinscheiden des jungen Baron Benno schien es fast, als ob dem alten Platz auch der letzte freundliche Lichtblick genommen sei, der ihn bis dahin doch wenigstens auf Momente erhellte. Benno mochte wohl immer krank, recht krank gewesen sein; aber sein mildes, liebreiches Wesen, das er auch dem niedrigsten Tagelöhner gegenüber bewahrte, hatte doch allen wohlgethan, die mit ihm in Berührung kamen, und flackerte sein junges Leben zu Zeiten – wo die Krankheit auf Tage, ja auf Wochen oft gänzlich zu weichen schien – wieder einmal auf, dann belebte er durch seine kindliche Heiterkeit den ganzen Platz und glättete selbst – was sonst unmöglich schien – für kurze Zeit die Stirn der harten, stolzen und herzlosen Tante.

Jetzt war auch er dahingegangen und hinten im Park, neben der kleinen Kapelle, wo das Erbbegräbniß derer von Wendelsheim stand, beigesetzt worden. Aber mit ihm schied der letzte freundliche Stern des alten, öden Herrenhauses. Die Tante zeigte sich unnahbarer als je, und der alte Baron ging die nächsten Tage nach der Beerdigung wie in einem wilden, wüsten Traum umher. Wenn ihn der Verwalter nach irgend einem die Wirthschaft betreffenden Gegenstand fragte, winkte er ihm rasch und hastig mit der Hand fort, und Stunden lang konnte er allein draußen im Park auf und ab gehen, mit den Händen in der Luft herumfechten und laut und heftig dazu mit sich selber sprechen. Aber Niemand durfte dann in seine Nähe kommen, selbst nicht Kathinka, gegen die er sich noch am freundlichsten oder wenigstens am stillsten zeigte; denn er duldete, daß sie ihm das Essen auf sein Zimmer brachte, ihm den Stuhl nachher zum Fenster rückte und den Kaffee auf den kleinen Tisch daneben stellte. Aber er sprach auch nicht mit ihr. Nur manchmal war es, als ob er sich zu ihr wenden, sie um etwas fragen wolle; aber er seufzte dann immer tief auf, schüttelte den Kopf und versank wieder in sein altes Brüten. – Die Tante durfte sein Zimmer gar nicht betreten und kam auch von selber nicht, schien aber jede Gelegenheit abzulauern, wo sie über das arme Mädchen herfallen und sie auszanken konnte, und sagte ihr dabei oft die härtesten, grausamsten Sachen.

Bruno war bis jetzt jeden Tag herausgekommen, um nach dem Vater zu sehen, dessen Zustand ihn in der That besorgt machte; aber der alte Baron verkehrte auch nicht mit ihm. Er nickte ihm wohl zu, wenn er in's Zimmer trat, und duldete es, daß der Sohn seine Hand nahm und drückte; aber dann war es auch jedesmal, als ob er danach zusammenschaudere, und das Gesicht in den Händen bergend, stöhnte er wohl: »Mein Sohn, mein Sohn!« und sank bleich und vor sich niederstarrend in den Lehnstuhl zurück.

Bruno suchte ihn zu trösten; er hatte nie geglaubt, daß der Verlust des Knaben den Vater so furchtbar ergreifen würde. So natürlich es auch dabei schien, daß er in dem andern Sohn Ersatz für den verlorenen suchen solle, so wenig wandte er sich dem zu, und wenn er ihn auch nicht von sich stieß, so duldete er doch nur gewissermaßen seine Gegenwart, und schien befriedigt, wenn er ihn wieder verließ.

Mit der Tante verkehrte Bruno gar nicht: er grüßte sie, wenn er sie im Hause traf, aber er suchte sie nie auf, und doch schien gerade sie seit Benno's Tode freundlicher gegen ihn geworden zu sein, als sie es je gewesen. Sie sorgte sogar, woran sie früher nie gedacht, Morgens, wenn er kam, für sein Frühstück und schickte die Knechte von der Arbeit fort, um nach seinem Pferd zu sehen.

Die Leute im Schlosse lachten darüber, denn die Ursache lag auf der Hand. Der alte Baron war so auffallend geistesschwach geworden, daß er der Leitung des ganzen Anwesens nicht einmal mehr vorstehen konnte, und der junge Baron bekam jetzt in wenigen Wochen die große Erbschaft ausgezahlt, wo er denn doch von selber Herr des Ganzen wurde. Ihre Macht hatte dann aufgehört, wenn sie sich nicht selber gut mit ihm stellte, und sie wunderten sich nur, daß sie nicht schon lange gegen ihn eingelenkt und ihn sich zum Freund gewonnen hatte. Sie kannten den Charakter ihres verbissenen, keiner Zuneigung fähigen Wesens noch viel zu wenig, sie wußten nicht, welche furchtbare Gewalt sie sich selbst diesem Wenigen gegenüber, zu dem sie sich zwang, anthun mußte. Bruno nahm aber selbst das Wenige dankbar an; sie hatten ihn im Schlosse wahrlich nicht verwöhnt, und durch den Tod des Bruders ohnedies weich gestimmt, sehnte sich sein Herz nach einem freundlichen Wort und Blick.

Allerdings hatte er heute noch Manches mit dem Vater besprechen und ihm zugleich mittheilen wollen, daß er den gesuchten Abschied, und zwar als Hauptmann, erhalten habe; aber es war mit dem alten Mann nicht zu sprechen, und sowie er nur davon beginnen wollte, winkte er nur mit der Hand; er wollte nicht gestört sein und malte nur in einem fort mit einem Bleistift wunderliche Zeichen auf ein Stück Papier.

Bruno hoffte allerdings, daß sich diese geistige Schwäche, wenn nur der erste Schmerz überwunden wäre, geben würde, sah aber auch, daß er vor der Hand auf jede ernste Besprechung mit ihm verzichten müsse. Er ließ also sein Pferd satteln und wollte eben zurück zur Stadt reiten, als Kathinka zu ihm trat und mit leiser, zitternder Stimme sagte: »Ach, Herr Baron, erlauben Sie mir eine Frage . . .«

»Ja, Kathinka,« sagte der Officier freundlich; »was ist es?«

»Es gehen hier so böse Gerüchte im Schloß,« fuhr das junge Mädchen fort – »und die Tante hat es nur bestätigt – daß nämlich der junge Herr Baumann, der immer so gut mit Ihrem seligen Bruder war und ihn so lieb hatte, einen Mord begangen habe und jetzt im Gefängniß sein Urtheil erwarte – ist das wahr? – Die Tante,« fuhr sie scheu fort, als Bruno noch schwieg und sie nur aufmerksam betrachtete, »meint sogar, er sei ein recht böser, heuchlerischer Mensch, der jetzt seine verdiente Strafe erleiden würde.«

Bruno hatte sie wirklich staunend angesehen, denn das junge, scheue, gedrückte Wesen des Mädchens hatte ihn, wenn er wirklich einmal herauskam, sie eigentlich nie beachten lassen. Sie war fast immer auswärts beschäftigt gewesen, und traf er sie einmal, als sein Bruder noch lebte, in dessen Krankenzimmer, so verließ sie dasselbe gewöhnlich immer, sobald er es betrat. Jetzt stand sie vor ihm, die großen, bittenden Augen in Angst und Mitleid fragend zu ihm erhoben, die Wangen leicht geröthet, als sie dem überraschten Blick des jungen Mannes begegnete. Wie schön sie war – und welche trübe Jugend verbrachte sie hier in den öden Mauern des alten Schlosses!

»Ist das wahr, Herr Baron?« fragte das junge Mädchen noch einmal und schlug den Blick jetzt scheu zu Boden.

»Nein, Kathinka,« sagte Bruno herzlich, »das ist nicht wahr. Fritz Baumann ist allerdings durch zufällige Umstände in den Verdacht gekommen, bei jener dunkeln That betheiligt gewesen zu sein, aber der wirkliche Mörder jetzt entdeckt, und wie ich heute Morgen hörte, hat er bereits ein volles Geständniß über seine That abgelegt, nach dem Baumann entweder schon freigelassen ist oder jedenfalls in der allernächsten Zeit freigelassen wird. Er hat mit der Sache nicht allein nichts zu thun gehabt, sondern sogar, aller Wahrscheinlichkeit nach, durch sein plötzliches Erscheinen den Dieb verjagt und verhindert, den alten Mann völlig umzubringen.«

»Gott sei Dank!« flüsterte Kathinka leise. »Es würde mir recht weh gethan haben, so Böses von ihm zu glauben – auch Ihnen dank' ich für das gute Wort!«

Bruno wollte noch etwas erwidern, aber der Tante keifende Stimme rief sie fort, und wie ein gescheuchtes Reh floh sie über den Hof hinüber nach dem Schlosse zu.

Bruno stieg seufzend in den Sattel und ritt langsam zum Thor hinaus. Wozu nur das ewige Schelten und Keifen – wozu der ewige, unausgesetzte Unfriede daheim, der Jedem das Haus zu einer Hölle machte?

Dicht vor dem Thor, und noch mit seinen trüben Gedanken beschäftigt, begegnete er dem Staatsanwalt Witte, der eben in das Schloß wollte. Der Staatsanwalt fuhr in einem Einspänner und ließ halten, so daß Bruno sah, er wünsche ihn zu sprechen. Er zügelte deshalb sein Pferd ein und ritt an das kleine Fuhrwerk heran.

»Ach, lieber Baron,« sagte Witte nach der ersten Begrüßung, und es kam Bruno fast vor, als ob der sonst so ruhige und seiner Sache stets sichere Mann in einer Art von Verlegenheit sei – »ist Ihr Herr Vater wohl zu Hause und könnte ich ihn sprechen?«

»Mein Vater ist allerdings zu Hause,« seufzte Bruno, dessen Gedanken rasch wieder abgeleitet wurden, »aber ich glaube kaum, daß Sie ihn sprechen, wenigstens keinesfalls etwas mit ihm besprechen können, wenn Sie zu dem Zweck herausgekommen sind.«

»Ist er krank?«

»Nein; er befindet sich körperlich wohl, aber geistig so niedergedrückt, daß er an nichts Antheil nimmt und besonders auf keine Frage antwortet. Ich fürchte, der Tod meines Bruders hat ihn so angegriffen, und er wird einer langen Zeit der Ruhe bedürfen, bis er sich wieder vollständig erholt. Ich würde Sie jedenfalls dringend bitten, nicht über Geschäfte mit ihm zu reden.«

»Hm, das thut mir herzlich leid – Gemüthsbewegung also,« sagte Witte sinnend – »aber Ihre Fräulein Tante ist zu sprechen?«

»Wenn sie erledigen kann, was Sie abzumachen haben – gewiß. Sie ist daheim; sie verläßt das Schloß selten oder nie.«

»Doch nicht auch etwa von Gemüthsbewegung afficirt?« fragte Witte, denn der Charakter der Dame war in Alburg gut genug bekannt.

Bruno lächelte. »Von keiner wenigstens, die sie untauglich zu Geschäften machte. Sehen Sie, wie Sie mit ihr fertig werden – à propos! haben Sie etwas Näheres über Fritz Baumann's Freilassung gehört?«

»Ich komme gerade daher: sie ist eben erfolgt. Der alte Salomon hat selber so dringend für ihn gebeten und so entschieden verneint, daß auch nur die Möglichkeit eines Einverständnisses mit seinem Onkel sei, daß, nach Heßberger's vollem Geständniß, das Gericht ihn wohl freigeben mußte.«

»Das freut mich – dann bitte, sagen Sie es doch Kathinka, dem jungen Mädchen, das Sie im Hause finden – meines verstorbenen Bruders Krankenpflegerin. Sie kennen sie ja wohl – es wird sie freuen.«

»Allerdings; ich werde es ausrichten.« Und dem jungen Mann freundlich zunickend, gab er seinem Pferd die Peitsche und fuhr in das Schloß hinein, wo er aber eine Zeit lang warten und knallen mußte, bis Jemand kam, der ihn der Sorge für das Thier enthob.

»Zieht das Pferd einen Augenblick in den Stall, lieber Freund,« sagte er zu dem Mann, »ich habe etwas mit dem gnädigen Fräulein zu reden. Was ist denn das für ein furchtbarer Skandal da oben?«

»Was wird's sein,« sagte der Mann mürrisch, »das tägliche Elend – sie hat's wieder mit dem armen Ding, der Mamsell. Vorhin war sie um den Finger zu wickeln, sie fraß ordentlich aus der Hand – jetzt, nun der Baron fort ist, scheint der Teufel wieder loszugehen!«

»Mit wem hat sie's?«

»Mit der Fräulein Kathinka, die ihr thut, was sie ihr an den Augen absehen kann – nun wird's aber bald ein Ende haben, sie hat ihr eben angekündigt, daß sie heute über acht Tage das Schloß verlassen soll – das arme junge Blut! Nun muß sie zu fremden Menschen dienen gehen, denn sie hat nichts, als was sie auf dem Leibe trägt – aber immer noch lieber bei fremden Menschen als bei dem Drachen!«

Der Staatsanwalt hatte den geschwätzigen Mann ruhig reden lassen und nur dabei nach dem Schloß hinüber gehorcht, von dem noch immer die keifende Stimme der Alten herübertönte. »Und sollte es denn gar nicht möglich sein, den Drachen zahm zu machen?« sagte er nach einer Weile, indeß der Mann das Pferd noch ausschirrte. »Was meint Ihr?«

»Den?« rief der Mann und sah den Staatsanwalt verwundert an. »Und wenn der Teufel selber aus der Hölle käme und eine ganze Compagnie kleiner Teufel mitbrächte, von der müßt' er die Finger lassen und machen, daß er wieder in seinen Pfuhl käme! Die zeigt's ihm!«

»Na, versuchen kann man's ja immer,« lachte Witte, »den Hals wird sie Einem doch nicht gleich umdrehen.«

»Hören Sie,« sagte der Mann ernsthaft, »wenn Sie auf so einen Versuch aus sind, dann möchte ich das Pferd lieber gleich wieder einschirren und den Wagen umdrehen und vor's Thor fahren, damit Sie nachher gleich hineinspringen und auskneifen können. Sie ist heute gerade in der Laune.«

»Nun, es muß nicht gleich sein,« lächelte Witte; »aber wunderlichere Dinge sind schon in der Welt passirt. Gebt nur indessen dem Pferd ein Maul voll Heu, sonst beißt es Euch die Krippe zu Schanden; es hat sich das so angewöhnt.« Und damit legte er seine Peitsche in den Wagen und ging langsam dem Portal des Schlosses zu, wo er noch immer die zankende Stimme des gnädigen, oder vielmehr sehr ungnädigen Fräuleins hörte. Er ließ sich aber nicht dadurch abschrecken, und während ihm der Knecht ganz verwundert nachschaute – denn von ihnen kam ihr bei solcher Gelegenheit Niemand freiwillig in die Nähe –, betrat er das Schloß selber und stieg die Treppe hinauf.

Auf der halben Treppe kam aber Kathinka schon dem Staatsanwalt bleich und mit rothgeweinten Augen entgegen und erschrak sichtlich, als sie einen Fremden erblickte. Sie schämte sich jedenfalls, so von ihm gesehen zu werden, und stand einen Moment unschlüssig, als wenn sie nicht wisse, ob sie an ihm vorbeieilen oder die Treppe wieder hinaufflüchten solle. Witte ließ ihr aber keine Zeit, weder das eine noch das andere auszuführen.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »laufen Sie nicht vor mir davon – ich bin ein alter Mann und kenne die Verhältnisse hier im Hause gut genug – wo kann ich denn wohl Fräulein von Wendelsheim antreffen, denn ich höre merkwürdiger Weise ihre Stimme nicht mehr oben?«

»Sie wird in ihrer Stube sein,« sagte Kathinka, sich scheu und hastig die Thränen trocknend. »Sie entschuldigen mich wohl . . .«

»Den Augenblick – nur noch einen Auftrag habe ich an Sie auszurichten.«

»An mich?«

»Der junge Baron gab ihn mir draußen; er erfuhr von mir, daß der Mechanikus Baumann freigesprochen und seiner Haft entlassen ist, und bat mich, Ihnen das zu sagen.«

»Ich danke Ihnen,« flüsterte Kathinka, ließ sich aber jetzt nicht länger halten, sondern eilte, so rasch sie konnte, die Treppe hinab.

Witte sah ihr kopfschüttelnd nach; aber andere Dinge gingen ihm im Kopf herum, und die Treppe hinansteigend, traf er oben ein Dienstmädchen, das Fenster putzte. »Können Sie mir sagen, liebes Kind, wo ich das gnädige Fräulein von Wendelsheim treffe?« fragte er dieses.

»Jawoll,« sagte das Mädchen, »gleich da drin ist sie.«

»Schön,« erwiderte Witte, indem er seine Brieftasche vorholte und eine Karte herausnahm, die er dem Mädchen hinhielt. »Möchten Sie dann wohl so gut sein und diese Karte zu dem gnädigen Fräulein hineintragen und ihr sagen, der Herr, dessen Name darauf stehe, sei hier draußen und wünsche mit ihr zu sprechen?«

»Jawoll,« entgegnete das Mädchen wieder, aber ohne die Hand nach der Karte auszustrecken, »das möchten Sie woll, nicht wahr? Ne, einmal gemacht und nicht wieder. Wenn Sie mit ihr sprechen wollen, gehn Sie selber hinein – ich aber nich.«

Witte lachte. »Das gnädige Fräulein,« sagte er, »scheint sich hier sehr in Respect gesetzt zu haben – beißt sie?«

»Ne, aber sie kratzt,« sagte die Magd.

»In der That? Nun, dann werd' ich mein Glück auf eigene Hand versuchen!« Und damit schob er Karte und Brieftasche wieder zurück, ging dann auf die bezeichnete Thür zu und klopfte herzhaft an.

Ein scharfes, zorniges »Herein!« wurde fast augenblicklich gerufen, und der Staatsanwalt, der nur noch sah, daß das Mädchen ihr Fensterputzen unterbrochen hatte und neugierig hinübersah, um wahrscheinlich Zeuge des Empfanges zu sein, trat auf die Schwelle und sagte:

»Mein gnädiges Fräulein, ich konnte Niemanden finden, der mich anmelden wollte – Sie entschuldigen, daß ich Sie störe . . .«

»Was wollen Sie?« lautete die kurze, barsche Gegenfrage.

»Nur Sie sprechen – ich bin der Staatsanwalt Witte,« sagte dieser, indem er die Thür wieder hinter sich zuzog.

»Und was wollen Sie von mir?«

»Um Ihnen das zu sagen, bin ich ganz besonders von Alburg herausgekommen,« erwiderte der Staatsanwalt, stellte seinen Hut auf die nächste Commode und zog sich die Handschuhe aus, die er hineinwarf.

»Aber woher wissen Sie,« fragte Fräulein von Wendelstein, empört über die Freiheit, die sich der Fremde nahm, »daß ich überhaupt jetzt Zeit und Lust habe, Sie anzuhören?«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte aber Witte trocken, »die Sache ist viel zu wichtig, um lange vorher mit Worten um eine Form zu streiten. Ihres eigenen Selbst wegen müssen Sie mich anhören, um sich einen Weg vor das Gericht zu ersparen.«

»Mir?« rief die Dame empört. »Habe ich etwas mit den Gerichten zu thun?«

»Bitte, nehmen Sie Platz,« erwiderte Witte, der fest entschlossen schien, sich nicht einschüchtern zu lassen, indem er sich selber einen Stuhl zum Tisch rückte. »Wir werden nicht sogleich fertig sein; ich komme in der Erbschafts-Angelegenheit – oder vielmehr in der Sache der Erbfolge.«

»Und weshalb gehen Sie da nicht zu meinem Bruder?«

»Ihr Herr Bruder ist, wie mir der junge Baron vorhin sagte, geistig so abgespannt, daß er mir augenblicklich nichts helfen kann, denn was ich jetzt mit Ihnen zu reden habe, erfordert einen klaren und ungetrübten Verstand. Wir können doch nicht behorcht werden?«

Fräulein von Wendelsheim sah ihn staunend an; der Mann trat aber so entschieden und bestimmt auf und machte so entsetzlich wenig Umstände mit ihr – er mußte einen wichtigen Grund dafür haben, oder er war einer der unverschämtesten Menschen, die ihr im ganzen Leben vorgekommen.

»Nein,« sagte sie, ihn staunend betrachtend, »rechts und links sind unbewohnte Zimmer.«

»Das Mädchen auf dem Vorsaal wird horchen.«

»Das wagt Keine von meinen Dienstboten – aber ich wüßte auch nicht, welches Geheimniß wir Beide mit einander zu besprechen hätten.«

»Haben Sie gar kein Geheimniß, mein gnädiges Fräulein?« sagte der Staatsanwalt und sah sie dabei starr an. »Bitte, besinnen Sie sich.«

»Und wenn ich es hätte,« sagte finster die Dame, »wer gäbe Ihnen ein Recht, danach zu fragen?«

»Gut,« fuhr Witte ruhig fort, »dann setzen Sie einmal den Fall, daß ich Mitwisser desselben geworden wäre.«

Fräulein von Wendelsheim faßte fast krampfhaft die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand, und Witte täuschte sich wohl nicht, wenn er zu bemerken glaubte, daß sie erbleichte, als ihr Blick dem fest auf sie gehefteten Auge des Juristen begegnete. Aber Fräulein von Wendelsheim hatte keine schwachen Nerven, und während schon im nächsten Moment ein trotziges, verächtliches Lächeln um ihre Lippen spielte, sagte sie scharf: »Sie haben eine merkwürdige Art und Weise, sich bei einer Dame einzuführen; da Sie aber einmal da sind und mein Bruder in der That nicht wohl ist, so reden Sie. Doch muß ich Sie bitten, sich kurz zu fassen, denn ich habe weder Lust noch Zeit zu einer langen Unterredung. Also was ist es?«

Witte machte eine leise Verbeugung, und während sie sich selbst auf das ihm gegenüber stehende Sopha setzte, sagte er: »Ich werde mich sehr kurz fassen. Die Sache bedarf auch keiner weiteren Vorrede. Sie wissen, daß heute über vierzehn Tage die Erbschaft für den männlichen Leibeserben der Familie Wendelsheim fällig ist und an dem Tage mit den zu dem Capital geschlagenen Zinsen, einige unbedeutende Verwaltungskosten abgerechnet, ausgezahlt werden wird.«

»Sind Sie deshalb gekommen, um mir das zu sagen?« fragte das gnädige Fräulein kalt.

»Ich sage, Sie wissen das,« fuhr Witte ruhig fort; »aber der eigenthümliche Fall besteht dabei, daß Sie nicht wissen, wer der wirkliche Erbe des Wendelsheim'schen Vermögens ist.«

»Mein Herr!« fuhr die Dame von ihrem Sitz empor.

»Bitte, behalten Sie Platz, mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte trocken; »ich bin noch lange nicht fertig, und Sie mögen Ihr Erstaunen für einen späteren Punkt meiner Auseinandersetzung aufsparen.«

»Wenn ich erstaunt bin,« sagte Fräulein von Wendelsheim mit einer Stimme, die genau so klang wie der grollende Donner vor Ausbruch eines Sturmes, »so war es nur über Ihre Unverschämtheit!«

»Bitte, mein Fräulein,« entgegnete Witte, »soll ich Sie vielleicht daran erinnern, daß das Kind der Baronin von Wendelsheim unmittelbar nach der Geburt mit einem andern vertauscht wurde?«

Die Dame stand dem Staatsanwalt gegenüber; ihre ganze Gestalt zitterte, ob vor Aufregung und Schreck, oder verhaltener Wuth, ließ sich freilich kaum bestimmen; aber gewaltsam faßte sie sich – sie mußte erst hören, was der Mann noch zu sagen hatte – und nur mit vor Zorn bebender Stimme zischte sie: »Das faule Märchen, das damals im Mund des Volks war, aber als erbärmliche Lüge verstummen mußte!«

»Man hatte keine Beweise,« sagte Witte, »und die Sache schlief die langen Jahre. Das Wunderbare aber dabei ist, daß selbst Sie den wahren Thatbestand nicht kannten. Ja, mein gnädiges Fräulein, wenn Sie auch noch so höhnisch lächeln, ich bestehe doch auf meiner Behauptung. Sie glaubten nämlich damals, daß die Baronin von Wendelsheim eine Tochter geboren habe, die wenige Tage oder Wochen später gestorben sei; die Thatsache aber ist, daß sie einen Sohn geboren hat, der bis zu dieser Stunde noch lebt und wohl und gesund ist, und jenes nichtswürdige Weib, die Heßberger, nur den Tausch vollbrachte und Ihnen einen andern Knaben unterschob, um sich den reichen, in Aussicht gestellten Gewinn nicht entgehen zu lassen.«

Die Wirkung, welche diese Worte auf das Fräulein von Wendelsheim machten, war merkwürdig. Ihr Gesicht nahm eine fast erdfahle Färbung an, die Augen traten ihr aus den Höhlen, ihre Lippen öffneten sich, und den magern rechten Arm, der wie in Fieberfrost hin und wieder flog, vorstreckend, stand sie so für einen Augenblick dem Staatsanwalt gegenüber. Endlich stammelte sie: »Eine Lüge – eine schändliche – teuflisch erfundene Lüge!«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Witte, »ich bin nicht besonders empfindlich und verzeihe Ihnen in der jetzigen Aufregung gern ein hartes Wort, aber Sie werden auch einsehen, daß Sie dadurch Ihre Sache nur verschlechtern, nie verbessern können. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen einfach zu sagen, weshalb ich hergekommen bin, und seien Sie versichert, daß ich Ihnen nichts mittheile, was ich nicht durch lebende Zeugen beweisen kann. Ich verlange von Ihnen vor der Hand kein Eingeständniß des Geschehenen, und bitte Sie nur, die Thatsache im Gedächtnisse zu behalten, daß der Familie Wendelsheim ein wirklicher, leiblicher Erbe lebt und der bisherige Baron, Bruno von Wendelsheim genannt, ein untergeschobenes Kind ist. Ich kenne Sie als Frau von klarem, ruhigem und sehr scharfem Verstand, und bin einzig und allein deshalb hier herausgefahren, um mit dem Baron und Ihnen – oder unter den jetzigen Umständen mit Ihnen allein – zu überlegen, wie und auf welche Art der wirkliche Erbe am besten wieder in seine Rechte einzusetzen und der vermeintliche auf irgend eine zu arrangirende Art zu entschädigen sei, ohne dabei Ihren Namen zu compromittiren. Ich muß Ihnen dabei gestehen, daß ich selber um einen Ausweg verlegen bin; aber ich möchte, wenn es irgend möglicher Weise anginge, den Eclat von Ihrem Hause abwenden. Sie sehen daraus, daß ich nicht als Feind, sondern als Freund zu Ihnen komme.«

Witte hatte sich in der Frau vollständig verrechnet. Er war ihr mit der festen Ueberzeugung gegenübergetreten, daß er sie mit den nach einander aufgehäuften Thatsachen jedenfalls zerschmettern und augenblicklich zu einem Bekenntniß ihrer Schuld bringen würde, wenn er sie eben um gar nichts frage, sondern ihr im Gegentheil zeige, daß er schon Alles wisse. An wen Anders konnte sie sich dann nachher um Hülfe anklammern, wenn er selber ihr die Hand dazu bot? Aber er hatte in seiner Berechnung einen Factor zur Geltung gebracht, der in dem Nervensystem des gnädigen Fräuleins gar nicht existirte: das Gewissen – und darum stimmte das Facit nicht.

In den Zügen des Fräuleins war schon, während er noch sprach, eine auffallende Veränderung vorgegangen; das erst vor Schreck und Ueberraschung weitgeöffnete Auge hatte sich wieder zusammengezogen, der Mund geschlossen; aber die rechte Hand blieb noch wie krampfhaft geballt, und erst als er geendet, sagte sie, aber jetzt mit ruhiger, wie spöttischer Stimme: »Und war das Alles, was mir der Herr Staatsanwalt mitzutheilen hatte?«

Witte erschrak; er glaubte schon Grund gefaßt zu haben, und fühlte jetzt, daß ihm der Boden wieder unter den Füßen wegging. »Nein, mein gnädiges Fräulein,« sagte er rasch, »denn Sie scheinen noch immer an meinen Worten zu zweifeln; aber Sie wissen vielleicht nicht, daß das Heßberger'sche Ehepaar hinter Schloß und Riegel sitzt und . . .«

»Wollen Sie etwa behaupten,« fuhr die Dame auf, »daß jenes Weib etwas gegen mich aussagt? Aber,« setzte sie plötzlich kalt und höhnisch hinzu, »wie ich eben so gut weiß, daß das unmöglich ist, so sehe ich auch an Ihrem Gesicht, daß es nicht geschehen ist! Sie selber spielen dabei jedoch eine klägliche Rolle, Herr Staatsanwalt, wie Sie wohl einsehen werden, und fallen mit Ihrem Versuche, einer Familie ein Geheimniß aufdrängen zu wollen, in der gar keins besteht, sehr traurig ab – ich glaube, Ihr Geschäft ist jetzt hier erledigt.«

»Und verlangen Sie nicht einmal den Namen des rechtmäßigen Erben, Ihres eigenen Neffen, zu wissen?« sagte Witte, wirklich ganz durch diese starre Ruhe außer Fassung gebracht.

»Es wird sich gleich bleiben,« erwiderte Fräulein von Wendelsheim, selbst nicht einmal die Schwäche der Neugierde verrathend, »ob Sie beabsichtigten, uns einen Schuster oder Schneider unterzuschieben. Ich will nichts weiter von der Sache hören und ersuche Sie jetzt ganz ernstlich, mich zu verlassen.«

»Auch noch hinausgeworfen für meinen guten Willen – versteht sich!« lachte Witte bitter vor sich hin, indem er von seinem Stuhl aufstand und seinen Hut nahm. »Aber, mein gnädiges Fräulein, Sie haben sich jetzt auch die Folgen selber zuzuschreiben – ich hatte gehofft, die Sache . . .«

»Da mich Ihre Hoffnungen nicht im Mindesten interessiren, Herr Staatsanwalt,« sagte die Dame, »so ersuche ich Sie, das Gespräch draußen fortzusetzen – ich habe Ihr Geschwätz jetzt satt.«

»Sehr schön, mein Fräulein!« rief Witte, dem das denn doch zu arg wurde, indem er sich aber vorsichtiger Weise nach der Thür zurückzog, denn der in diesem weiblichen Unhold schlummernde Drache schien sich zu regen. »Von meinem Geschwätz sollen Sie nicht länger belästigt werden, aber vielleicht gefällt Ihnen dann eine Vorladung vor Gericht besser, die . . .«

Die Dame fuhr mit so zornsprühenden Augen auf ihn ein, daß er es für das Beste hielt, das Zimmer zu verlassen; denn er hielt sie in ihrem jetzigen Zustand, gereizt und zum Aeußersten getrieben, auch zu Allem fähig. Er mochte aber dabei die Thür wohl etwas rascher auf- und wieder zugemacht haben, als das in der gewöhnlichen gesellschaftlichen Form die Sitte erheischt, und als er draußen ausblickte, sah er durch den einen Fensterflügel durch, den sie in der Hand hielt und gerade abputzte, in das vergnügt grinsende Gesicht der Magd, die etwas Anderes gar nicht erwartet zu haben schien.

»Na, war's hübsch!« flüsterte das boshafte Geschöpf auch noch, als er, ohne sie weiter zu beachten, an ihr vorüberschreiten wollte; aber er hielt es natürlich nicht der Mühe werth, ihr eine Antwort zu geben, und eilte, so rasch er konnte, die Treppe hinunter und auf den Stall zu, wo er sich augenblicklich sein Pferd einschirren ließ. Der Knecht schien sich gern in ein Gespräch mit ihm einlassen zu wollen, um zu erfahren, wie es oben abgelaufen. Witte fühlte sich aber nicht in der Stimmung, drückte ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand, setzte sich auf und fuhr in einem scharfen Trab zum Thor hinaus. Er war dabei sehr unzufrieden mit sich selber, denn er hatte bei dem ganzen verunglückten Versuch, die Sache durch einen entscheidenden Schritt zu erledigen, nicht allein nichts erreicht, sondern vielleicht eher Schaden angerichtet, und gar nicht zu seiner besonderen Erbauung fiel ihm in dem nächsten Augenblick der Major und Rath Frühbach ein, die etwa in ähnlicher Weise von Vollmers abgezogen waren. Jene handelten freilich nur auf einen Verdacht, er selber aber auf die Gewißheit der Thatsachen hin; doch was halfen ihm die, so lange es ihm an Beweisen dafür fehlte, und mit denen sah er sich vollständig auf den Sand gesetzt.

Heßberger, total gebrochen und eingeschüchtert, hatte allerdings Alles, was man von ihm wollte, gestanden, die Heßberger selber aber, bei welcher er dann, aber auch noch ganz privatim, den Versuch gemacht, um eine Zustimmung von ihr zu erhalten, kalt und höhnisch erwidert, sie wisse von nichts, und als er ihr endlich das Zeugniß ihres Mannes vorhielt, geantwortet, dann erledige sich die Sache von selber. Möglich, daß die verstorbene Frau Baronin die Absicht gehabt habe, einen solchen Tausch zu machen, falls ihr eine Tochter geboren würde – sie könne es nicht sagen und die Frau ich nicht mehr fragen, denn sie wäre todt; dann hätte sich das aber auch natürlich durch die Geburt eines Sohnes unnöthig gezeigt und jede Mutter ihr eigenes Kind erzogen.

Dabei blieb sie, und dagegen würde selbst Heßberger's Zeugniß nichts geholfen haben. Durch diesen konnte allerdings der Versuch eines Betrugs constatirt werden, aber nie die Ausführung desselben und der wirkliche Tausch. Die Kinder waren ihm im Dunkeln überliefert worden, und er selber hätte nie im Leben beschwören können, ob er dasselbe Kind oder ein anderes dafür zurückgetragen.

Aber jetzt half es nichts mehr; er war schon zu weit gegangen, um noch zurück zu können. Auf der einen Seite drängte ihn der alte Baumann selber, die Sache zum Abschluß zu bringen, auf der andern war er jetzt der Gefahr ausgesetzt, daß dieses entsetzliche Fräulein von Wendelsheim sogar eine ähnliche Klage gegen ihn richtete, wie die Frau Müller gegen den Major. Bis zu diesem Augenblick hatte er Alles allein auf eigene Faust und im Stillen betrieben, nun ging das nicht länger; er mußte selber die Anzeige beim Gericht machen. Ueberdies war auch der Termin der Erbschafts-Auszahlung so nahe herangerückt, daß er sich hätte die größte Verantwortung zuziehen können, wenn er eine derartige ihm gemachte Anzeige über denselben hinaus verheimlichte. Er durfte eben nicht länger zögern und das Ganze auf die eigenen Schultern nehmen, und mit dem Entschluß wurde er auch wieder ruhiger und zufriedener. Sein Pferd fühlte die Peitsche, und der leichte Wagen rollte rasch der Stadt entgegen.



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