Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Abschied von der Liebe

Der Brandnacht folgte ein schöner Morgen. Die Sonne kam strahlend die Waldkämme herauf, gleichmütig lief der Dorfbach zwischen den Häusern und Ruinen, schossen die goldgetupften Forellen von Stein zu Stein und zogen die Schwalben ihre Kreise. Selbst die um diese Jahreszeit durchziehenden Viehherden blieben nicht aus; und die Schulbuben waren einigermaßen in der Klemme. Sollten sie auf den Brandstätten mitarbeiten oder sich die Geißelstecken aus Jungtannen schneiden und die Rinder begleiten. Das Dorf stank nach Rauch, und den Leuten schmeckte das Essen nicht. Überall lag Hausrat herum; man mußte achtgeben, um nicht auf Sensen oder Gabeln zu treten. Besonders arg war es, wenn man sich dem Bräuhaus näherte.

Des Erzählens war kein Ende. An erster Stelle stand der Tod des armen Malers. Man suchte nach seinen Überresten, fand aber nur verkohlte Knochen, Eisenbeschläge, wohl von seinen Schuhen, und in der Vertiefung eines Quaders, wo sich Pfützenwasser angesammelt hatte, ein ledernes Etui mit einem Lichtbild. Gries beschaute es lange. Die verblaßte Schrift auf der Rückseite sagte ihm, wen das Frauenbildnis darstellte: Meinem lieben Sohne Peregrinus . . . Weiterhin drehte sich alles um die Frage, wie der Brand entstanden wäre. Es gab mehrere Meinungen, schließlich obsiegte eine: er ist gelegt worden; und man flüsterte auch einen Namen: aber dann drückten sie die Lippen fest aufeinander und gingen weiter.

Die Männer hatten das Bedürfnis, beim Postwirt, weit genug von Rauch und Gestank, einen Krug Bier zu trinken. Aller Rede war: Was wird der Bräu für Augen machen?

Am Nachmittag rollte sein Landauer, mit zwei braunen Juckern bespannt, die Hohlstraße herein. Die Gesichter der Männer wurden lang. Sie standen genau an derselben Stelle, wo damals, beim Laufen der Siebziger, so viel gelacht worden war. Heute zog der Bräu eine böse Miene, als der Haginghofer die Pferde zum Stillstand brachte. Er liebte es nicht, wenn die Späße von einer anderen Seite als von 421 ihm selber ausgingen. Aber wie er in die ernsten Mienen sah, erschrak er etwas und auch die Bräuin. Sie fragte schnell: »Gott im Himmel, Herr Vorstand, ist ein Unglück geschehen?«

»So ist es«, sagte der Vorstand langsam. »Wir haben eine Feuersbrunst gehabt, Frau Bräuin.«

Die Gesichtsfarbe des Bräu veränderte sich. »Bei mir?« fragte er.

Die Männer nickten. Die Bräuin fragte: »Ja, wo denn? Das Gasthaus? Die Ökonomie? Die Stallungen? Die Villa?«

»Alles!« sagte der Haginghofer. »Alles – ist verbrannt! Ganz und gar alles.«

Der Bräu und seine Frau saßen wortlos, bis der Haginghofer wiederum redete: »Ich glaub, es ist das beste, wenn die Frau Bräu ins Schulhaus geht, und der Herr Bräu zuvörderst alles besichtigt, damit die Aufräumung in Schwung kommt.«

Die Bräuin war aber fast böse. »Ich bleib bei meinem Mann«, sagte sie und stieg auch schon aus.

Der Bräu ging mit zappelnden Schritten an den Brandstätten vorüber; stieg über Schutthaufen und Wasserlachen, über zerbrochene Möbel und zerschlagene Bierfässer; warf einen Blick in seine Kanzlei, die völlig unversehrt geblieben, und in das Schlafzimmer, wo auch alles in Ordnung war. Bei den Ställen fragte er: »Das Vieh ist gerettet?«

»Das eigene schon«, sagte der Vorstand. »Aber aus dem Fremdenstall sind nur zwei Küh und zwei Kälber herausgebracht worden.«

Der Wind wehte eine Rauchfahne herab, und die Bräuin griff nach dem Spitzentuch. Der Geruch des verbrannten Fleisches war fürchterlich.

Trotzdem traten beide in den Fremdenstall. Hier lagen in zwei Reihen, links und rechts, achtzehn tote Kühe; die Beine ausgestreckt, schwarz gebraten, während in den offenen, glasigen Augen noch die Todesangst zu glühen schien.

»Schauderhaft!« sagte der Bräu.

Und seine Begleitung wiederholte: »So was ist freilich schauderhaft!«

Plötzlich entdeckte der Bräu den Vorgeher und die Knechte. »Ihr seid mir Schöne!« schrie er, und seine hohe Stimme überschlug sich. »Die Leut werden sagen, das eigene Vieh hat er gerettet, das fremde umkommen lassen.« 422

Der Haginghofer legte sich ins Mittel. Er sprach wie immer mit zäher, trockener Stimme: »Mit Verlaub, Herr Bräu, es war keine Möglichkeit! Es war durchaus keine Möglichkeit! Heu und Stroh haben gebrannt wie Zunder.«

»Wer hat denn dann meine Küh gerettet? – Von selber werden sie wohl nicht herausgelaufen sein?« schrillte die Stimme wieder.

»Das wohl nicht«, sagte der Vorstand und hob die Pfeife hoch über seinen Kopf, als wollte er in diesem Moment einen noch größeren Herrn grüßen, als der Bräu selber war. »Die – Mena! – Das hätt ich ihr selber nie zugetraut; wenn ich auch gewußt hab, daß sie eine Tüchtige ist! Sie hat auch die fremden Küh retten wollen. Wohl an die hundert Buben, herzhafte Kerl sonst, sind herumgestanden, aber – es hat keine Maus mehr in den Stall hineinkönnen! Und so sind alle verbrannt – bis auf zwei! Auch eine schöne Scheckin, die in ihrer Todesangst ausgeschüttet hat; ihre zwei Kalberl sind gerettet worden.«

»Von wem denn?« fragte der Bräu.

»Vom Krämer Lambert!«

Der Bräu lief so schnell, daß seine Begleitung kaum folgen konnte, zwischen den Brandmauern einen Anger hinauf, wo die Zimmerleute schon an der Fertigstellung eines Notstalles hämmerten. Dichte Gruppen von Bauern sahen der Früharbeit der Melkerinnen zu. Zwar gab die eine oder andere Kuh weniger Milch, aber im ganzen und großen ließen sie wie immer den weißen Strahl in die Zinneimer schießen.

Die Mena dachte an die schöne Scheckin, an ihren Kasten, an ihre Wäsche und die vielen Andenken; und das Weinen stand ihr nahe. Sie hörte das Geblök der beiden Kälbchen und schob sie an die Zitzen einer Kuh. Sie standen mit komisch gespreizten Beinen und saugten mächtig.

Da vernahm sie die dünne Stimme des Bräus. »Der Vorstand hat dich eben über den grünen Klee gelobt«, sagte er. »Er meinte, ohne dich wären alle Küh verbrannt. Ist das wirklich wahr? – Wir werden noch drüber reden. Geben sie Milch? Habt ihr genug Grünfutter?« Wie immer wartete er keine Antwort ab und lief weiter.

Am nächsten Tag wurde die Mena in die Kanzlei gerufen. Der Brauherr saß an seinem Schreibtisch, vor Banknotenstößen, gestaffelten Geldrollen und Briefen. »Ich hab keine Zeit«, sagte er, »daß 423 ich mit dir reden könnt, wie ich wollte: du bist von heut an Großdirn bei mir.«

Sie wollte sich bedanken, aber er sagte schnell: »Ist schon gut! Ist schon gut!« schüttelte ihr die Hand, faßte mit der linken ein dickes Banknotenbündel, drehte es mit seinem weißen Daumen fächerartig auseinander und schlug immer zehn und zehn so schnell herab, daß die Augen kaum folgen konnten. – Das ist auch eine Kunst, dachte sie mit tiefem Respekt und ging durchs Gastzimmer ins Freie.

An diesem Tag, der kein Feiertag war, besuchte sie die Kirche. War das dieselbige Straße, dieselbigen Häuser, derselbige Himmel? – Wie der Pfarrer bei feierlichen Prozessionen unter seinem »Himmel«, so schritt sie unter dem ihren. Er war seidenblau, die ganze Welt lachte und jubilierte, und ihr Herz lachte mit.

Nach dem Gottesdienst wollte die neue Großdirn rasch davonrauschen, aber da zupfte das Schicksal sie wieder am Ärmel. »Für dich liegt ein Brief auf dem Postamt.«

Dieser Brief enthielt die Botschaft, daß der Bruder Silvester verwundet im Spital der Barmherzigen Brüder in Wien läge.

Sie fand die halbe Nacht keine Ruhe. Kaum hatte sie sich ein wenig von dem Schrecken des Brandes erholt, kam dies. Sie fing an, zu begreifen, daß es im menschlichen Leben nichts Festes gab und nur eins Bestand hatte: der Wechsel.

Nach der Stallarbeit ging sie in die Kanzlei. Der Bräu fragte: »Mena, wo fehlt's denn? – Willst etwa heiraten? – Wär kein Wunder, bei deiner Tüchtigkeit.«

Kaum hatte sie ihr Anliegen vorgebracht, als er über die Regierung, den Hof und die ganze niederträchtige Polizeiwirtschaft zu schimpfen begann. »Die vergießen ja Menschenblut«, schrie er, »als ob's Pfützenwasser wär. Freilich mußt du reisen. Wenn du deinem Bruder nicht beistehst, wer soll ihm denn beistehn?«

»Aber, Herr Bräu, meine Arbeit?«

Er lachte. »Findet sich schon eine Stellvertreterin. Du hast dir einen Urlaub verdient. Hier nimm, und die schönsten Grüß an deinen Bruder!«

Die Mena hielt eine Hundertguldennote in der Hand. So sehr ihr auch die Freundlichkeit des Brauherrn und seine Freigiebigkeit schmeichelte, war ihr doch, in Anbetracht der weiten Reise, bänglich zumute, bis sie erfuhr, daß des Tischlers Sohn, Franz Bineider, 424 zu den Grenadieren einberufen, in den nächsten Tagen nach Wien abging.

An einem frischklaren Oktobermorgen fuhren sie und ihr Reisegefährte mit der Bahn ab. Bineider war ein gar lustiger Kauz. Über alles, was er sah, machte er seine spaßhaften Bemerkungen, so daß die Mena zuweilen die ernsthafte Ursache, die ihrer Reise zugrunde lag, vergaß. Er hatte keinen Funken Ernst in sich. Wenn sie ihm zuhörte, schien die Welt ein ganz anderes Aussehen zu bekommen.

In der Wienerstadt war sie anfangs wie betäubt, und es wäre ihr schlecht ergangen, wenn sie nicht den unbekümmerten Landsmann gehabt hätte. Für ihn gab es keine Verlegenheit. Er schob sie in dem Menschengewirr bald vor sich her, bald hielt er sie zurück; er zeigte ihr tausend Dinge, riß Witze und packte sie endlich in einen Stellwagen, so daß sie nach kurzer Zeit vor der Tischlerherberge in der Rauhensteingasse landeten.

Von hier führte er sie in ein billiges Quartier; nämlich zu einer Base, der Witwe eines Schmieds, der vor Jahren aus dem Dorf in die Stadt übersiedelt war.

Die vielen Menschen, die engen Stiegen, die vielen Türen, alles das kam ihr höchst sonderbar vor.

Als sie die Wohnung betraten, sah sie im Winkel, bei einem trüben Licht, eine Frau sitzen, die Garn abspulte und die Besucher erst gewahrte, als der Tischlergesell einen Wortschwall losließ. Dieses Frauenwesen, das die Mena als rotbackige Schmiedin gekannt, die überaus gern gesungen und gelacht, machte den Eindruck eines kranken, halbblinden Huhns, das durch irgendein Giftkraut in diesen Zustand versetzt worden war. Als der Name des Heimatdorfs fiel, war es nicht anders, als ob ein Blitz in das jammervolle Menschenbündel geschlagen hätte. Sie lief von einem Winkel zum andern, durchstöberte den Geschirrkasten nach Kaffee, alle Häfen nach Milch, gestand endlich händeringend, ihre Börse verlegt zu haben, und so ihre Gäste nicht bewirten zu können.

Die Mena beruhigte sie mit einem Gulden Vorauszahlung, und die Schmiedin kochte Kaffee und überzog das Bett mit frischem Linnen. Es war rührend, daß sie die eigene Liegerstatt abtrat. Die Schmiedin forschte eifrig nach den näheren Umständen ihrer ländlichen Verwandten und Bekannten, wobei sie tat, als ob das Dorfleben wie etwas Dummes und Lächerliches, weit hinter ihr läge und 425 sie hier von feinen und sehr unterhaltlichen Dingen umgeben wäre. Die Besucherin blickte mit Verwunderung auf die arme Frau, die es zuwege brachte, sich über ihr handgreifliches Elend hinwegzutäuschen. Sie hatte selber immer arm gelebt, die meisten Leute ihrer Heimat waren arm, aber jene Armut war ein kühler Tau gegen diese hier.

Die Mena konnte in dieser Nacht die Eindrücke nicht losbringen. Nicht nur die licht- und luftlose Wohnküche der Schmiedin hatte ihr die Brust beklemmt, auch die dumpfen Stiegenaufgänge, die düsteren Gassen, ja sogar die Parfüms der Herren und Damen, die in ihre Nähe gekommen.

Am nächsten Tag kam sie sich sehr tüchtig vor, als sie sich bis zum Krankenhaus durchgefragt hatte. Es glückte ihr auch, bis zum Bruder Silvester selber zu kommen.

Er lag auf einer besonnten Terrasse, von der aus man einen Teil der Stadt übersehen konnte. Seine Wunde war fast geheilt. Sie ihrerseits kam nicht aus dem Staunen und tat Fragen, die ihn ungemein belustigten. – Ob es denn möglich sei, gegen den Kaiser aufzukommen? Ob er nicht eines Tages zurückkehren und die Rebellen hart strafen würde?

Sie sahen über der Stadt Rauchsäulen aufsteigen und hörten den dumpfen Ton von Gewehrsalven. – »Und diese Brände und diese Schüsse sind in der Stadt?« So groß ist sie, also noch viel größer als die Heimatstadt, wo sie die Dult besucht hatte? – Sie war verwundert. In der Stadt kämpfte man, und hier, in den Gärten der Villen, arbeitete man; in den Straßen liefen Bäckerjungen mit ihren Körben, fuhren Milchwagen und hatten die Kaufleute ihre Auslagen geöffnet.

Silvester lachte und sagte: »So groß ist sie, daß alles in ihr Platz hat, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, vom Herrlichsten bis zum Schmutzigsten.« Er freute sich über ihre Naivität, über ihre Freude an den schönen Kleidern, den rollenden Kutschen, den eleganten Reitern und prächtigen Offizieren, daß er sogar seine bitteren Reden vergaß.

Als sie den Bruder verlassen, wandelte sie eine große Lebenslust an. Sie wollte sich auf eigene Faust die Stadt ansehen, damit sie dann daheim, abends beim Spinnrad, erzählen konnte: Ja, als ich damals in der Wienerstadt gewesen bin, anno 1848 . . . 426

Sie bestieg einen Stellwagen, mit der Aufschrift: Schönbrunn; denn das hatte sie sich schon immer gewünscht, das Schloß mit eigenen Augen zu sehen, wo der Riesenhans Wache gestanden und der Kaiser gewohnt. Die Fahrt war ein Vergnügen. Sie schaute zum Fenster hinaus, und ihr hingebungsvolles Gaffen fiel den Fahrgästen auf.

Vor dem kaiserlichen Lustschloß schaute sie mit ehrfürchtigem Staunen auf die beiden prächtigen Soldaten, die von einem Schilderhaus zum andern schritten. Die Oktobersonne beschien den weiten Platz. Taubenschwärme pickten Körner auf, Sperlinge balgten sich, und von zwei klaren Teichen sprangen Wasserstrahlen hoch in die Luft und zerstäubten in tausend silbernen Tropfen. Sie war ganz glücklich, weil sie genau das vor sich sah, was sie erwartet hatte. Nur die feinen Herren und Damen fehlten. Sie schaute unentwegt auf den Balkon, wo der Kaiser heraustreten würde, aber es rührte sich nichts.

Am nächsten Tag wurde sie in ein Gasthaus bestellt, nahe beim Praterstern. Da die ganze Stadt in Aufregung war, zauderte sie, marschierte aber endlich doch los.

Auf allen Straßen und Plätzen lagerten Bewaffnete; ihre Bajonette waren mit Blutkrusten bedeckt und ihr Äußeres ließ erkennen, daß sie Stunden schwerer Kämpfe hinter sich hatten.

Sie fand den Bruder, erkannte ihn aber fast nicht mehr in seiner Uniform als Offizier der Nationalgarde. Er lachte über ihre Komplimente und riet ihr, sofort abzureisen, bevor die Stadt von der Außenwelt völlig abgeschlossen werden würde. Sie saß ihm etwas verwirrt gegenüber. Sie konnte von dieser Mannswelt nichts begreifen; von diesen Männern, denen das Leben des Alltags schal erschien, wie ungesalzene Brühe, und denen Streit und Kampf alles waren. Wenn sie die schmucken, jungen Leute sah, die Studenten, in ihren Legionsuniformen, schien ihr, als ob die Revolution nichts anderes wäre, als eine Art gefährlichen Spiels, das die Männer aus reinem Übermut ersonnen, um Abwechslung in ihr Leben zu bringen, und daß sie dieses Spiel gern mit ihrem Blute bezahlten.

Am andern Morgen reiste sie ab. Die letzten Tage hatten sie so ganz aus ihrem Lebensgeleise gebracht, daß sie nur mehr eins dachte: O Herrgott im Himmel, schnell heimkehren!

Das ganze großstädtische Leben gefiel ihr nicht. Mit einem Male 427 war eine unübersteigliche Wand zwischen ihr und diesen Städtern aufgerichtet. Es wurde ihr klar, daß diese Stadt, nach der sie sich so oft heimlich gesehnt und mit dem Gedanken gespielt hatte, sich hier zu verdingen, nichts für sie wäre. Sie würde zwischen diesen Häuserwänden, in diesem Getümmel, in diesen schlechten Gerüchen ersticken. Es fiel ihr der Ähnl ein, der stets, wenn jemand von der Brauerei in die Stadt gewollt, gesagt hatte: Wer wird denn in die Sklaverei gehen?

Sie warf sich ganz auf die Arbeit, und daran war, Gott sei Dank, kein Mangel. Der Neubau der Brauerei gab an allen Ecken und Enden zu tun. Auch die Sorgen gingen ihr nicht aus. Ein Brief aus Italien, der meldete, daß Gang seit der Schlacht bei Santa Lucia verschollen war; eine Botschaft von der schönen Lena, ihre Scheidung betreffend; und eines Sonntags, als sie zum Hochamt ging, ein Anschlag, ein Steckbrief, der wegen Aufruhr und Hochverrat keinen andern suchte, als den Schindertoni. Sie vermeinte, der Boden wiche unter ihren Füßen. Der Bruder in Italien, die Schwester, der Toni . . . Sie empfand plötzlich alle Bande als etwas Quälendes, die des Blutes und die der Liebe. – Muß sich ein jeder selbst helfen, sagte sie sich und setzte eine harte Miene auf. Derselbige Mensch ist am besten dran, der ganz für sich selber lebt.

Bevor sie zu Bett ging, zündete sie vor ihrer kleinen Madonna das Öllicht an und betete für jedes der bedrängten Geschwister und den Geliebten fünf Vaterunser. Dann schlief sie ein.

Aber ein Klopfen weckte sie. Ein schiefgebogener Mensch stand draußen, das Gesicht vom Filzhut verdeckt; mit der Nachtluft strömte eine Wolke von Pech und Tabak herein. »Mußt nicht erschrecken, Mena«, sagte eine rostige Stimme, »Räuber bin ich keiner und auch kein Gaßlbub. Ich bring eine Botschaft.«

Es war ein Holzknecht und er brachte die Nachricht, daß der Toni in einer versteckten Waldhütte wohnte, verwundet wäre und Hilfe brauchte . . .

Zum Glück war der nächste Tag ein Sonntag. Sie machte sich auf, einen bauchigen Henkelkorb am Arm, und schritt zwischen den schneebedeckten Feldern bergan. Sie hielt sich möglichst abseits von den Höfen und begegnete keinem einzigen Menschen. Ab und zu fielen schwere Schneelasten von den Tannen und Fichten, und zaghaft irrten Rehe durch die verschneiten Waldlichtungen. Einmal 428 bekam sie einen tüchtigen Schreck. Aus einem Jungmais trat der Förster Purgstaller, tat aber, als wär es das Selbstverständlichste von der Welt, daß er sie um diese Jahreszeit hier traf. »Wohin geht die Reise?« fragte er.

»Ja, mein Gott, Herr Förster«, jammerte sie, »über die Waldschneid muß ich. Die Hartinger Base ist wieder krank.«

Als sie die Hütte betrat, erschrak sie. Der Toni lag im Heu. Sein Gesicht war bleich und abgezehrt. Er war es und war es nicht. Er glich einem Menschen, der eine furchtbare Krankheit hinter sich hat und den Genesungsschlaf herbeisehnt. Er sagte: »Hast du dich doch getraut zu mir heraufzukommen?«

Sie nickte nur und machte Feuer. Dann packte sie Linnen und Salben aus, zog ihm das blutige Hemd herab und verband ihm die Brustwunde. Zwischendurch betrachteten sie sich mit scheuen Blicken. Seine strahlende Jugend war geschwunden; geheime Schmerzen und geheimer Gram hatten sie verzehrt. Auch sie war magerer und eckiger geworden; aber eine beruhigende Wahrheit herrschte in ihren Zügen und ihren Bewegungen. Er redete davon, wie in den letzten Wochen alle seine Hoffnungen zuschanden geworden wären. »Ich habe Stunden«, sagte er, »wo ich denke, daß alles ein Irrtum war. Wo ich mich frage, wie kommt's, daß mein ganzes Leben zunicht wurde?«

Die Mena sagte: »Das ist recht traurig, Toni. Aber es müssen auch wieder bessere Tage kommen. Schau mich an: ich hab mein ganzes Leben lang nichts gehabt, als ein paar Hände zum Arbeiten, und bin immer lustig gewesen.«

Toni sprach kein Wort, aber seine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Ihre resolute Art schien seine Lebensgeister noch einmal zu heben. Er pries mit einem ironischen Unterton seine Hütte, ihre Lage, die Quelle in der Nähe und die schöne Aussicht. Er erläuterte mit sachlichem Ernst sein Prachtbett aus Waldheu und Seegras, wohlriechendem Speik und Arnika.

Das war noch einmal der Toni, der Kühne, den die Jäger und Bräuknechte gefürchtet, der mehr als einmal die Wirtsstuben ausgekehrt, der lachend auf der großen Sternbarrikade in Wien gekämpft – und der so viele Jahre ihr Liebhaber gewesen war. Sie setzte sich an sein Lager; er suchte ihre Hand und ihre Augen. So saßen sie in einem tiefen Schweigen, als zwei Menschen und doch einer, 429 durchströmt von Gefühlen, die halb noch aus dem Diesseits, halb aber schon aus dem Jenseits der Welt stammten. Nichts rührte sich im kleinen Hüttenraum, als das Rascheln einer Waldmaus, die neugierig aus dem Heu guckte, bis eine gebrochene Mannsstimme redete: »Schad ist es doch . . . wir hätten vielleicht heiraten können . . . einen Hausstand gründen . . . Kinder aufziehen . . .«

Wie einst der Toni, von der Fronfeste kommend, in ihrer Kammer geschluchzt, so schluchzte jetzt sie. Und wie sie so mit ihrem Taschentuch wischte und wischte, sah sie mit einem tiefinneren Erstaunen, wie sich auf dem Antlitz Tonis eine feine Helligkeit zeigte, die sich zu einem schwachen Rot verstärkte. Er blickte sie ununterbrochen starr an und sagte dann mühsam: »Einmal möcht ich noch den Wald sehen . . . die Fichten und Tannen . . . die Sonne und den blauen Himmel . . .«

Die Mena legte ihm sorgsam einen alten Militärmantel um die Schultern und öffnete die Hüttentür. Nur ein kleiner Ausschnitt der Erde war sichtbar: eine Waldschneise, mit jenen phantastischen Gestalten, die Baumstümpfe, Himbeerstauden und Jungtannen in ihren gewaltigen Schneemänteln und Schneehauben zu bieten pflegen. Und weiter hinab, im grellen Licht der Wintersonne einzelne Bauernhöfe, das Dorf, der Kirchturm und das eisglitzernde Schindermoor.

Eine flüsternde Stimme unterbrach die Stille: »In der Schulfibel . . . da steht zu lesen . . . ›das Leichentuch des Winters‹ . . . So ist es . . . der Völkerfrühling ist tot . . . die Freiheit liegt im Grabe . . . viel, viel Zeit wird vergehen . . . bis sie wieder einmal aufersteht, Mena!«

Sie erschrak. Die Züge des Geliebten verfielen. Schatten breiteten sich darauf aus . . .

Hundegebell schreckte sie auf; der kaiserliche Revierförster Purgstaller kam quer den Abhang herüber. »Du bist hier, Mena?« Im Hütteneingang blieb er stehen und nahm seinen Hut ab. »Da stirbt ein Mensch«, sagte er leise. 430

 


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