Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Der Wettlauf der Siebziger

Fraglos, das Ruhige und Altgewohnte war weg; das Leben hatte einen Riß bekommen, so bös und häßlich wie der Riß in der Turmmauer, der sich noch immer deutlich abzeichnete. Dorf und Tal glichen einem Gemach, ausgestattet mit Bildern und Gesetzen, aus dem Leben der Jahrhunderte gewachsen; bewegliche und unbewegliche, die Sonne, der blaue Himmel und die schwebenden Lerchen, die Nacht, der goldene Mond und die Sterne; der Morgengesang der Vögel und das Abendlied der Brunnen; und jene anderen Bilder und Gesetze, die der Kreis der Religion umschließt. Und nun hatte man ein solches singendes und klingendes Bild herausgenommen. Die Menschen in den Häusern zitterten; zu vieles war in der letzten Zeit über sie gekommen, als daß sie nicht das Äußerste befürchtet hätten.

Einige ältere und alte Männer versammelten sich beim Postwirt. Sie saßen in der Laube vor ihren Bierkrügen, sahen zum Kirchturm empor, sahen die zackige Ausbruchstelle und schüttelten die Köpfe. Aus ihren Reden sprach die Besorgtheit, die Gemeinde möchte immer tiefer in das schwarze Loch der Kümmernis und Verdrossenheit hinabsinken. Es war ganz aus der Weise, was in diesen Tagen geschah. Überall ging die Rede, daß man die Achtzehn- und Neunzehnjährigen aushob, sie notdürftig gehen, stehen und schießen lehrte und sie dann nach Italien sandte. Eine allgemeine Entmutigung herrschte; aber was eigentlich dagegen zu tun wäre, fiel niemandem ein. Der richtige Kopf fehlte.

Besonders drei Gäste, der Alt-Wahrlander, der Alt-Haberger und der Alt-Oberhauser, die Nachbarn von Ellenhub, beredeten dies und kamen dabei auf den Unterschied zwischen dem Alt- und dem Jung-Ellenhuber. »Mein Gott«, sagten sie, »das wär ein Vergleich! Ja, du mein Lieber, so ein Wunder tät kein Mensch glauben, wenn man's nicht alle Tag mit eigenen Augen sehen könnt.«

Der Alt-Wahrlander sah aus wie ein Geist; abgemagert und leidensvoll. Der Sohn war weg: es half nichts mehr. Der Alt-Haberger 298 dagegen blickte mit weltlicher Fröhlichkeit in den Tag; er machte den Eindruck eines Fünfzigers, wohl daher, daß er frühzeitig übergeben und seit beinahe zwanzig Jahren das Leben eines Freiherrn führte, wie er es selber schmunzelnd bezeichnete. Der kurioseste unter ihnen war der Alt-Oberhauser. Sie sagten von ihm, er lebe »außer der Welt«, was in bezug auf sein Lehen seine Richtigkeit hatte. Es lag in der Einschicht, auf einer obstbaumbestandenen Kuppe, fast tausend Meter hoch. In einer solchen glasklaren Luft und Einsamkeit, näher dem Himmel als der Erde, werden die Menschen oft sehr eigen.

Endlich sahen sie den Alt-Ellenhuber kommen. »Bring es dir, Ellenhuber!« Sie hielten ihm die Krüge entgegen. »Ellenhuber, du gehst ja noch wie ein junger, so kerzengerad! Wie alt bist du denn eigentlich?«

»Zu Michaeli neunundsiebzig.«

Sie pfiffen durch die Lippen. »Du mußt wohl ein Wunderelixier haben. Möchtest du uns nicht das Rezept verraten?«

Er leerte ein Paket Ordinari, Dreikönig und Knaster auf ein Zeitungspapier, fuhr fingernd durch den Haufen gelben und braunen Krautes und lächelte: »Die Mischung ist die Hauptsach!« sagte er.

Sie sahen dem Stopfen und Feuerschlagen zu und lächelten ihrerseits, weil sie selber sich schon bis zu den Schwefelhölzern modernisiert hatten. Dann fragte einer: »Ellenhuber, was gibt's denn Neues in der Welt?«

»Schlecht steht's«, sagte er. »Die Welt kommt nimmer zur Ruh. In Wien kann der Teufel jeden Augenblick losbrechen. Ja, Männer, das sind Zeiten, böse Zeiten! Und die Leut tun heutigen Tags nichts als jammern; aber das hilft dem .Menschen nicht. Die bösen Zeiten müssen auch sein: die Mischung ist die Hauptsach.

Das wegen Italien und den jungen Leuten und der Großen Glock ist alles nicht so arg. Der Kaiser wird sich selber helfen; die jungen Leut, die wachsen schon wieder zu Hunderten heran, wie die Bäum im Jungwald; und die Große Glock: mein Gott, das ist auch nicht so arg. Sie gießen nach dem Krieg eine neue, und eine größere und schönere. Und wird's keine schönere und keine größere, wird's wenigstens eine andere. Und wenn das nicht wär, wenn die Glocken und die Häuser und die Menschen wollten tausend Jahr aushalten, ja, Männer, wo kämen wir da hin? – Die Leut hätten ja nichts 299 mehr zu tun, und es gäb keine Abwechslung mehr in der Welt. Ruhig hinnehmen, schön still mitten durchgehen: die Mischung ist die Hauptsach.«

Die Männer nickten. – Ja du, der Alt-Ellenhuber! Schön still mitten durchs Leben zu gehen, einen festen Schatz von Sprichwörtern alter, fast ewiger Erfahrung im Hosensack, dies dünkte ihnen das Beste und Klügste. Die Last, die jeder auf seinem jungen oder alten Buckel trug, lüpften sie jeweils, halb ärgerlich, halb lachend, in die Höhe, in der törichten Hoffnung, von der kein Mensch frei ist, sie möchte, wie ein lustiger Vogel, auf- und davonfliegen. Aber nie sprangen sie deswegen den Leuten, die scheinbar weniger oder nichts trugen, an die Gurgel; waren vielmehr fest davon überzeugt, daß der Herrgott allen die gleiche Last, ob so oder so, aufgebürdet hatte. Dies ging so weit, daß ihnen ein Mensch, der seine Lebensbürde nicht mit heiterem Gleichmut und einer Beimischung von Humor trug, schon als vom Teufel angekrallt erschien.

Daher war es begreiflich, daß sie der weiteren Rede des Alt-Ellenhubers lebhaft zustimmten. »Ich sag's alleweil: Was der Mensch an Glück und Unglück, an Glanz und Dumpfheit, an Leichtsinn und Trübsinn hat, ist richtig verteilt. Aber es ereignet sich wohl in gewissen Zeiten, daß die Waagschalen aus dem Gleichgewicht kommen. Ein Übermaß häuft sich; auf einem Hof, in einem Dorf, in einem ganzen Volk. Die Gewicht' stimmen nicht mehr. Dann müssen die Alten hinzugeben, wegnehmen, zum Exempel: den Leichtsinn nicht zur Narrheit, die Verzagtheit nicht zur Verzweiflung sinken lassen, kurz: austarieren, austarieren!«

Eine Welle von Heiterkeit lief um den Tisch. »Und so geht's, und niemand versteht's: ich verstünd's, aber mir glaubt's keiner! Ich sag euch, Männer: die Welt ist rund, und rund muß der Mensch sein. Sind die jüngeren Leut fort, und die Mittelschicht kleinlaut, müssen die Alten zeigen, daß sie auf der Welt sind. Ich schlag vor: wir schreiben ein Laufen aus, ein Wettlaufen der – Siebziger! Mit dem Bräu hab ich schon geredet; er zeichnet zwanzig Gulden. Was sagt ihr, Männer?«

Ja, das war einmal eine Rede, die ihnen gefiel. Alle waren mit Eifer dabei. Schon der Disput über das Um und Auf des Laufens verjüngte sie augenscheinlich. Sie schickten einen Boten an Peregrin und Mena. 300

Die Mena kam zuerst; wollte gleich wieder abpaschen, aber die Alten traktierten sie mit gesüßtem Rotwein und rafften alles, was noch vom Mannskerl in ihnen übriggeblieben war, zusammen, um ihr zu imponieren.

»Mena«, sagten sie, »du bist eine Spröde. Hast du denn nicht gehört, was die Alt-Retlin gesagt hat? – ›Die Zeit ist da, wo die Weibsbilder um einen Stuhl raufen, wo ein Mannsbild gesessen ist.‹«

Aber sie rief dagegen: »Ja, freilich! Das wär euch recht! Solche Zoch sind alleweil noch genug in der Welt.«

Sie lachten und erklärten ihr, welche Rolle sie beim kommenden Wettlauf zu spielen hätte. Da waren die Seidenbänder anzupfriemen, erster, zweiter und dritter Preis hineinzusticken, und die neuen Gulden und Halbgulden aufzunähen.

Der zottige Peregrinus kam indessen auch. Der Maler holte die Schuldentafel aus der Schank und skizzierte mit Kreide: »Am ersten Sonntag nach Bartlmä findet ein großes, denkwürdiges Laufen der Siebzigjährigen statt . . .«

Und die Zeichnungen, die er mit ein paar Strichen hinwarf, die galoppierenden Mannsbilder, einen Hund, einen Dackel, der auch ins Laufen gekommen, und einen verlorenen Tabaksbeutel schnappte, und ähnliches mehr. Sie schüttelten die Köpfe: Wie er das nur so hinzaubern konnte, so natürlich! Genau so wollten sie die Plakate haben. Peregrin begriff, was sie alle, im tiefsten Grund ihres Herzens wünschten, wonach sie Verlangen hatten. Er setzte nicht umsonst die Worte: »Ein großes, denkwürdiges Laufen . . .« Groß sollte es sein, und denkwürdig, wert, daran zu denken und es im Schrein der Erinnerung aufzubewahren. Denn wenig ist in unserem Leben denkwürdig, grau in grau webt die große Weberin das Band unserer Tage, und dem Menschen ist stets zumut, als ob alles, was durch ihn und um ihn geschieht, der Beachtung und Betrachtung kaum würdig wäre.

Die Aussicht auf dieses Wettlaufen, die Zeichnung, das starke Bier und vielleicht auch die Anwesenheit der Mena versetzten die Alten in eine übermütige Stimmung. Die Mena sah dem Ähnl zu, wie er rasch den Maßkrug leerte; allerlei, was mit einer solchen Veranstaltung verbunden, fiel ihr ein, und sie fragte ängstlich, ob er denn das Mitlaufen nicht andern überlassen wollte. Wegen der paar Gulden, meinte sie, seine Gesundheit aufs Spiel setzen! 301

Aber da kam sie schön an. »Wegen der paar Gulden«, fuhr er auf. »Es geht nicht um Geld; es geht um die Ehr!« Und er blieb bei seinem Übermut. »Mena«, rief er, »stimm an dasselbige Lied: ›Bin i ah nimmer der Jüngstö, oh mei . . .‹« Sie wollte ablehnen, aber die Grau- und Weißköpfe setzten ihr derart zu, daß sie ihnen die Liebe tat. Nach jeder Strophe fielen die schon etwas brüchigen Stimmen in ihr Diriehallia ein.

»Bin ich auch nimmer der Jüngste, oh mein,
Tut mich das Leben doch sakerisch gfreun.
Solang mir der Herrgott die Gsundheit noch schenkt,
Wird an kein Alter, kein Griesgram nit denkt.
Diriehallia . . .«

Wird ein Fest gefeiert, muß der Herrgott ein Einsehen haben und einen blauen Himmel über die Erde wölben, die Sonne scheinen und die Vögel singen lassen; und der Herrgott hatte ein solches Einsehen.

Am Morgen des Festtags war der Himmel wie ausgekehrt: Der Tau an den Gräsern funkelte, und die Sonne vergoldete alle Dinge. Die Menschen gebärdeten sich, als ob sie einen Rauschwein getrunken hätten. Sie riefen sich schon von weitem Morgengrüße zu; und trafen sich zwei Feinde, so gingen sie aneinander mit verlegenen Mienen vorüber. Und der wäre als ein Auswürfling erachtet worden, dem es eingefallen, die Festfreude durch seine persönlichen Angelegenheiten zu stören.

Die Waldbauern stiegen von den Höfen. Da die Sonne heiß brannte, hatten sie die Feiertagsröcke über die Schulter gehängt und rote Nelken hinterm Ohr stecken. Jeder der Weißköpfe war von einer Schar junger Burschen umgeben. Etwas vom Jubel der Jugend rührte sich in ihren Herzen, und es dünkte ihnen, daß auch das höchste Alter noch so viel Lust und Schönheit in sich trüge, um das Leben lebenswert zu machen. Für die jungen Leute waren die alten Lebensläufer ein unwiderleglicher Lobgesang auf das Leben; so wünschten sie selber zu leben und fröhlich auszudauern bis ans Ende. Unter dem Druck ihrer frischen Kräfte fühlten sie sich als verteufelte Kerle, verglichen sich mit den Alten und genossen doppelt ihre Jugend; während die Alten, insgeheim wahrhaft froh, dem 302 Narrenspiel entronnen zu sein, sie ihrerseits als dumme, junge Hunde bezeichneten, womit sie auch nicht weit fehlgingen.

Der Alt-Ellenhuber hatte einen Haufen solcher Übermütiger um sich. Von ein paar vorlauten Kiebitzen geführt, schwankten sie zwischen Respekt und Frechheit, stellten zweideutige Fragen, aber mein Gott und Herr, da war eben der Unterschied: reden, antworten und gar noch witzig, das war schwer, das war viel schwerer, als auf dem Acker fahren, eine Dirn im Tanz drehen, ihr ein Kind machen oder mit dem Schlageisen dreinhauen. Man sah es ihnen an, wie sie den Gehirnkasten abplagten, aber die Worte des Alten waren gesalzen und gepfeffert, und er hatte die Lacher auf seiner Seite.

Die Mena, als Preisverteilerin, kleidete sich noch sorgfältiger als sie es gewohnt war. Man merkte ihr das Bemühen an, ihr Äußeres immer genauer, abgezirkelter zu machen; jede Welle im Haar, jede Falte im Ärmel, die Silberkette und das Samtmieder, alles mußte wie auf einem Bild sitzen. Sie fing an, in den Sommer ihres Lebens zu treten und braun und reif zu werden. Wenn auch der eigentliche Jugendglanz verschwunden war, die kastanienbraunen Zöpfe, die großen, schönen Augen strahlten noch immer ein Gemisch von Mut und Lebensfreude aus. Aus diesen Augen, aus diesen Linien der starken Nase, des energischen Munds, aus diesem ganzen Frauenantlitz sprach ein wunderseltsamer Ernst, mit etwas Horchendem und Wartendem verbunden. Das ganze Gebilde war eine Blutwelle, sorgfältig umhegt und umschlossen, und durch einen heiligen Impuls fort und fort getrieben, bald zur Klarheit, Form und Vollendung, bald zur Verwirrung, Not und Tod.

Lambert rief aus: »Ich vermein, du wärst der schönste erste Preis! Wenn ich den gewinnen könnt, da tät ich mitlaufen.« Er versuchte, sie ein wenig abzutappen, aber sie wies ihn grob ab. Sie strahlte, als sie, ihr Körbchen am Arm, das Haus verließ.

Auf dem Wege begegnete ihr der Schuster Kröll. Er sah sie starr an. Dann hob er den Zeigefinger, etwa wie ein Vater ihn hebt, um das Kind zu warnen. »Mena, denk dran! Das alles, was du siehst, was du an dir trägst, ist Gaukelei. ›Siehe, ein fahles Pferd wird kommen, und seines Reiters Name ist Tod. Und ihm war eine Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten Menschen und Tiere, durch Feuer und Schwert, Hunger und Pest!‹« – Und 303 zuletzt: »Wir sind unser viele . . . Der Bund wächst . . . Harmagedon naht!«

Etwas Unheimliches griff ihr für einen Augenblick ans Herz. Aber sie war fröhlich und wollte es bleiben.

Das Dorf hatte sich prächtig herausgeputzt. Die Fenster blitzten vor Reinlichkeit; die Nelken und Pelargonien entfalteten ihre schönsten Blüten; jede Gasse und jedes Gäßchen war reingefegt, und aus den Gärten leuchteten die Birnen und Äpfel, so frisch und rotwangig wie einst im Paradies.

Vorm Postwirt hatten sich Gruppen von Zuschauern gebildet; die Musikanten standen herum, und sooft ein alter Wettläufer anmarschiert kam, gab es ein Hallo. Große Verwunderung, wenn sie einen sahen, den sie schon im Jenseits glaubten, und ein Lachausbruch, der nicht enden wollte, wenn Gestalten sich meldeten, deren Knie arg schlotterten. Jeder von ihnen wurde umringt und einer peinlichen Befragung ausgesetzt, die bei Äußerlichkeiten nicht stehenblieb, sondern, je nach Person und Rang, bis ins Gröbste ging. Da war eine Gestalt, der Alt-Wegmacher, der durchaus mitlaufen wollte, wie windschief er auch auf seinen krummen Beinen stand. Es wurden Gulden und Halbgulden auf ihn gewettet, ob er den letzten oder gar keinen Preis gewänne, und dann unterzog man ihn einem scharfen Verhör. »Kannst du noch einen vollen Maßkrug austrinken? Kannst du noch über einen Sessel springen? Kannst du noch deine Alte verprügeln?« Und zuletzt die Frage aller Fragen, weil ohne deren Beantwortung die Welt nicht fortbestehen könnte. »Kannst du noch ein Kind machen?«

Besonderes Interesse erregte der Alt-Haberger, gerührig und lebendig, mit listig lachenden Augen; der Wahrlander, mit schneeweißem Haar, ernst und bedächtig; nicht zu vergessen die beiden »Ernsthaften Brüder«, die Lichtmeßberger, die ihr väterliches Gut gemeinsam bewirtschafteten; der Alt-Ellenhuber und andere angesehene Siebziger.

Die Reichsstraße, dort, wo sie ins Dorf mündete, eignete sich trefflich für den Zweck, dem sie heute diente; ja, sie schien eigens dafür gebaut. Sie war schnurgerade, mit einer Böschung, fünf bis sechs Meter hoch. Sie hatte bereits ein ansehnliches Alter hinter sich, denn die Legionen der Römer waren hier vor zweitausend Jahren durchmarschiert. 304

Über ihre ganze Breite wurde ein Streifen frischgelben Strohes geschüttet. Die Läufer entledigten sich ihrer Röcke und Schuhe, blieben barfuß oder zogen Socken über und gingen so die Straße hinauf, deren Ränder bereits mit Zuschauern besetzt waren. Auch die Musikkapelle begann schon zu spielen; denn der Protektor der Veranstaltung, der Bräu, kam. Die Grüßgott schollen laut, und allerwärts wurden die Hüte gelüftet.

Den Bräu umgab ein Schwarm Männer, der sehr verschieden zusammengesetzt war. Ein Teil davon glich in Körperfülle dem Bräu selber, und man sah es ihnen deutlich an, daß sie sich, trotz des frühen Morgens, bereits ausgiebig mit Speisen und Getränken gefüllt hatten, und überdies mit Menschenverachtung, die wohl auch eine gewisse Fülle und Kraft zu erzeugen vermag; denn alles an ihnen, ihre Haltung, ihre seidenen Halstücher, ihre schweren Uhrketten und goldenen Ringe, sprach zu ihrer Umgebung: Arme Teufel!

Ein zweiter Mittelpunkt war eine kleine, mit rotweißen Tüchern geschmückte Tribüne, wo die Mena eben die Preise ordnete. Die blauseidenen Bänder mit den neuen Silbergulden glänzten in der Sonne; und Menas Erscheinung paßte vortrefflich in das farbige Bild.

Die Geschwister, Gang und Naz ausgenommen, fanden sich ein und lachten mit dem ganzen Gesicht, als sie so die »Mutter Mena« hoch oben, wie auf einem Predigtstuhl, paradieren sahen. Sie stellten sich knapp darunter auf. Und es machte die Mena besonders stolz, daß jedes, wie arm es auch damals von daheim fortgegangen, heute aufs beste ausstaffiert war. – Du mein Herr und mein Gott, dachte sie, ich dank dir, daß alle tüchtig sind und dem Ellenhuber-Namen keine Schande machen!

Inzwischen hatten die Läufer sich auf einem Wiesenkeil gesammelt, der in der Reichsstraße dort hereinstieß, wo eine Votivtafel aufragte, die in Schrift und Bild, nach Peregrins Manier, bezeugte, daß hier ein Mensch nächtlicherweise dem Mordstahl zum Opfer gefallen war. Die Weißköpfe sahen einander lachend an, fragten nach Alter und Befinden, und immer wieder hörte man den Ausruf: »Ah, du lebst auch noch?« Dabei konnten manche nur schwer der Versuchung widerstehen, sich älter zu machen, als sie waren. Durch ein paar Jahre Zugabe bekamen sie etwas, was ihnen bisher immer 305 gefehlt, den Seltenheitswert. Aber, zu ihrer Ehre sei es gesagt, wenn schon, so brachten sie diese Lüge mit einem Lachen über die Lippen, um sie dem Spaß anzunähern. Einer von ihnen war schweigsam: der Alt-Ellenhuber. Sein Gesicht hatte einen geistesabwesenden Ausdruck; er schien gedankenlos in die blaue Himmelsdecke zu starren, die sich über die Hohlstraße wölbte.

Bum! Der erste Böllerschuß donnerte. Er lockte ein hundertfältiges Echo aus allen Gassen und Winkeln. Ein Rauschen ging durch die Menge. Sie glaubte, es finge schon an; aber die Buben, die alles genau wußten, schrien: »Drei! Drei!« Und richtig, da war auch schon der zweite, da war der dritte, und das Laufen begann . . .

Auf der sonnenbeschienenen Straße kamen ungefähr zwei Dutzend Bauerngestalten gelaufen, einzelne, zu zweien und dreien, in Gruppen; und wieder einzeln, in Hemdärmeln, barhäuptig, weißhaarig, bloßfüßig oder weißbesockt. Sie liefen verschieden. Es waren einige darunter, die suchten sich durch spaßhaftes Wesen im voraus vor der Schande einer Niederlage zu sichern. Aber so schlau sie dies auch anstellten, man durchschaute sie sofort. »Da ist kein richtiger Ernst dabei«, sagten die Leute, unwillig darüber, daß man sie zum besten halten wollte. Nur Kinder, Halbwüchsige und blöde Weiberleute, die in einer krankhaften Sucht immer lachen wollten, blieben ihnen noch ein Eichtl treu. Die andern suchten für ihre Anteilnahme ein würdigeres Objekt. Was nun den Ernst anbelangte, den die Bauern so lieben und rühmen, der fehlte bei den vier oder fünf Läufern nicht, die sich von einem größeren Haufen absonderten und darangingen, sich die Führung streitig zu machen. Schneller, als man glaubte, war der Augenblick da, wo das Laufen interessant wurde.

Wie die Bräugruppe, gewohnt, jede Minute mit einem kurzweiligen Spiel oder Spaß auszufüllen, sah, daß der Spitzenschwarm hervortrat und sich immer schiefer abstutzte, fing sie an, zu wetten; um einen Gulden, um einen Doppelgulden, ja sogar um einen Kronentaler.

Ein lauter Jubel drang von der Straße herein. Alles reckte die Köpfe, und am meisten die Wettenden; es ging um ihre Gulden, und wenn sie schon am frühen Morgen verspielten, war das ein schlechtes Zeichen. Die Kinder, die Halbwüchsigen und die Weiberleute schrien im Chor: »Der Haberger! Der Haberger 306 gewinnt's!« Er war tatsächlich um gut zwei Pferdelängen voraus. Ihm am nächsten lief der Alt-Wahrlander, und dann kamen zwei Brüder, Zwillinge; sie hielten sich so knapp nebeneinander, als wären sie noch immer durch die Nabelschnur verbunden. Endlich der Alt-Ellenhuber; er hatte also nicht weniger als vier vor sich, aber, so schätzten die meisten, ganz ohne Preis würde er auch nicht ausgehen.

Der Alt-Haberger schien also den ersten Preis schon im Sack zu haben. Freilich, er ließ es sich auch etwas kosten. Seine Brust atmete wie ein Blasebalg. Der Alt-Wahrlander folgte in einem gleichmäßigen Tempo. Sein Gesicht war gerötet; er preßte die Hand auf die Herzseite, und sein festgeschlossener Mund sagte: Ich muß dich überholen, Haberger, und wenn ich in der nächsten Sekunde tot hinfall! – Hinter ihm liefen die Zwillinge. Sie schienen zu begreifen, daß sie die Vordermänner nicht mehr schlagen konnten, waren aber sichtlich entschlossen, ihre Linie zu behaupten und untereinander keiner dem andern den Vorrang zu lassen. Zog der eine stärker an, tat es der andere auch, und ihre Mienen sprachen: Plag dich nicht, Bruder! Nachgeben tu ich um keinen Preis!

Bei dieser Sachlage war es verständlich, daß die Zuschauer anfingen, die Preise zu verteilen. Man sah es schon deutlich: der Haberger bekam den ersten. »Haberger, tauch an!« schallte es die Hohlstraße entlang. Jedoch es gab einige wenige, die blieben gelassen; für sie war nichts sicher, sie wußten, daß der Augenschein trügt, und hefteten forschend ihre Blicke auf den fünften Läufer, der einzeln und höchst eigenartig lief. Er machte keine besondere Anstrengung, wollte sie auch nicht machen, wie es schien, trabte vielmehr unentwegt in einer Art maschinenmäßiger Gleichförmigkeit daher, als ob er nie angefangen, aber auch, als ob er niemals aufhören würde; während auf seinem faltigen Gesicht eine Mischung von unverwüstlicher Heiterkeit und fröhlicher Hoffnungslosigkeit lag.

In der eingetretenen Spannung ließ sich eine Stimme vernehmen: »Herr Bräu, was gilt's? – Der Alt-Ellenhuber wird erster!«

Die Leute brachen in lautes Gelächter aus. Der Bräugruppe schief gegenüber stand die Ewig-Gerechtigkeit und fuchtelte aufgeregt mit den Händen. Der Bräu stellte sich auf die Fußspitzen, aber der Alt-Ellenhuber war von seinem Standpunkt aus noch gar nicht zu sehen. »Zehn Gulden gegen einen!« rief er. 307

Die Mena, hoch oben auf der Tribüne, und die Geschwister unter ihr, erschraken. Vielleicht war ihm ein Malheur passiert. Die Mena reckte sich höher und konnte nun den Ähnl sehen. Ihr Herz schlug laut. Sie suchte sich mit aller Macht ein gelassenes Aussehen zu geben; aber es gelang ihr nur halb.

Der Bräu hat gewettet auf den Alt-Ellenhuber, zehn Gulden gegen einen! Das ging wie ein Lauffeuer die Menschenmauer hinauf, und jedes Auge war auf die Läufer gerichtet, die sich bereits bis auf hundert Klafter dem Ziel genähert hatten. Der Alt-Haberger, als nächster, der Wahrlander, die Zwillinge, der Alt-Ellenhuber wurden durch laute Zurufe angefeuert, obgleich über den Ausgang wenig Zweifel mehr bestand.

Aber plötzlich geschah etwas Unerwartetes: an der straßenseitigen Hauswand, wo das Wichtlweibl logierte, fünfzig Klafter vom Ziel, hing, wie schon früher erwähnt, ein überlebensgroßer Herrgott, und an dieser Stelle ging der Alt-Ellenhuber in eine völlig neue Laufart über; er überholte die Zwillinge und setzte gegen den Alt-Wahrlander an.

Die Bräuin warf einen spitzbübischen Blick auf ihren Mann. Sie hielt in ihrer schönen, gepflegten Hand ein Spitzentüchlein, schwenkte es hoch und rief: »Fünf Gulden auf den Ellenhuber!«

Der Bräu lachte. »Fünfzig gegen fünf! Der Haberger gewinnt.«

Jetzt wurde es die ganze Bahn hinaus still. Der Alt-Ellenhuber lief mit steigender Schnelligkeit. Der Wahrlander stürzte. Eine Sekunde ging etwas wie eine Welle von Mitleid durch die Menge, aber schon war sie wieder gespannt.

Der Alt-Ellenhuber lief nur mehr ein paar Schritte hinter dem Alt-Haberger, und wieder mit jener Gleichmäßigkeit, um nicht zu sagen Gleichgültigkeit, von früher, so daß es schien, als ob er am Ende seiner Kräfte wäre. Der Hut des Bräu mit dem berühmten Fünfhundertgulden-Gemsbart schwankte hoch über den Köpfen, und die dünne Stimme seines Besitzers rief: »Haberger, halt aus!« Aus den Menschenzeilen kam es wie ein Echo: »Halt aus! Halt aus!«

Das seidene Spitzentüchlein der Bräuin flatterte, und ihre helle Frauenstimme war weithin vernehmbar. »Ellenhuber, tauch an!«

Und als ob die Leute plötzlich verrückt geworden wären, immer lauter, immer heftiger schollen die Rufe: »Haberger, halt aus! – Ellenhuber, tauch an!« 308

Die Mena zitterte. Und den Geschwistern ging es nicht besser. Sie schwankten hin und her, als bewegte der Erdboden sich unter ihren Füßen. Der Ähnl lief, im Angesicht von einigen tausend Menschen; sein Haar flatterte im Wind, es war weiß, wie frischgefallener Schnee, und ebenso weiß waren die Hemdärmel und das Leibhemd, über dem das schwarze Riemenwerk auf- und niederhüpfte. Die Wangen waren gerötet, das Lächeln drauf spitzbübischer geworden; aber zugleich hatten sich die Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln doppelt so tief eingegraben. Der Mena erschien er wie ein Fremder. Sie hatte bisher von dem, was man Ehre nennt, keine Ahnung gehabt; nun begriff sie alles: Oh, du heiliger Gott, laß doch den Ähnl erster werden!

Übrigens hielt der Großteil der Zuschauer nach wie vor am Alt-Haberger fest, und sie betrachteten den Angriff des Alt-Ellenhuber für abgeschlagen. Nur lief der designierte Sieger etwas unsicher, und auch die immer wieder einsetzenden Zurufe schienen keinerlei Eindruck mehr auf ihn zu machen. Er hatte die letzten Reserven bereits ausgegeben. Man hörte nichts mehr, als das Klatschen von vier nackten Sohlen, die nur noch zwanzig Klafter vom Ziel entfernt waren. Sie hatten ihre Mitläufer weit hinter sich gelassen.

In diesem Augenblick geschah ein Wunder. Der Alt-Ellenhuber setzte ein neues Tempo ein, augenscheinlich das letzte Quantum aufgesparter Kraft. Er schoß mit einer Art Ansprung an seinem Rivalen vorüber und lief, zwei bis drei Ellen voraus, über das Strohband . . . Der Jubel war ungeheuer.

Der Haberger wurde zweiter; die beiden Zwillinge dritter und vierter, und so fort.

Der Alt-Ellenhuber trat vor die Bräugruppe hin. Er mußte zwischen jedem Wort Atem schöpfen. »Ich bußl Euch die Hand, Frau Bräuin!« sagte er. »Seid Ihr zufrieden mit dem alten Wettläufer?«

Die Bräuin drückte ihm herzlich die Rechte. »Mehr als zufrieden!« sagte sie. »Ihr seid gelaufen wie ein junger.«

Der Bräu jammerte: »Mehr als zufrieden? – Und ich hab alle meine Wetten verloren! Ellenhuber, du bist ein Mirakel.«

Die Bräuin fuhr lachend fort: »Zum Andenken spendier ich das Seidentüchlein, womit ich Euch zugewinkt hab.« Sie stopfte es in seine obere Rocktasche, wo sonst immer die gelben Halme der Virginierzigarren herauslugten. 309

Auf der Fahrbahn liefen vereinzelte Nachzügler. Man schaute und schaute, und wollte es nicht glauben, daß die herrliche Augenweide zu Ende sein sollte. Wirklich kam noch ein letzter dahergetrabt, der Alt-Wegmacher. Seine komischen Bewegungen erregten großes Gelächter. Es lachte alles, die Krüppel, die Siechen, die Gichtkrummen und die alten Hutzelweibchen, aber am allermeisten die Kinder; sie hüpften vor Vergnügen hoch in die Luft oder bogen sich wie die Faßreifen.

Bei der Preisverteilung stand der Alt-Ellenhuber wie ein verlegener Schulbub. Er warf einen kurzen Blick auf die Enkelkinder, insbesondere auf die Mena. Sie hielt glückstrahlend das seidene Band mit den Silbergulden hoch.

Die Stimme des Bräu rief laut: »Den ersten Preis, zwanzig Gulden in Silber: Josef Jakob Ellenhub – neunundsiebzig Jahre!«

Die Musik schmetterte einen Tusch, und die Menge rief: »Vivat, hoch!«

Wieder tönte die dünne Stimme des Bräu: »Den zweiten Preis, zehn Gulden am seidenen Band: Vitalis Haberger – zweiundsiebzig Jahre!« Und wieder folgte ein Tusch und ein Vivat! Es kamen noch vier oder fünf kleine Preise, die Vivatrufe wurden schwächer, auch der Tusch schien nur mehr aus halber Lunge geblasen, es setzte sogar schon eine Bewegung gegen das Gasthaus hin ein, von woher der Duft der Bratwürste und des frisch angeschlagenen Bieres kam. Aber die Stimme des Bräu hielt sie noch zurück: »Den letzten Preis, ein herrliches Zuchttier, hat gewonnen: Virgil Kumetschneider, vulgo Alt-Wegmacher – achtzig Jahre!«

Und schon war auch der Preis selber da, ein prächtig bebänderter Geißbock. Aber dieser begriff wohl nicht, was er inmitten des Menschenhaufens für eine Rolle spielen sollte, vielleicht erschreckte ihn auch das Gelächter und Geschrei, kurz, er setzte zu Sprung und Stoß an, und der letzte Preisträger, der ohnehin unsicher auf den Beinen stand, lag auf dem Rücken. Programmgemäß blies die Musik das Vivat. Noch mehr als die Musik dröhnte das Bauernlachen, ganz gewaltig und immer gewaltiger, denn der preisgekrönte Läufer wollte natürlich wiederum aufstehen, weil liegend nicht leicht ein Mensch seine Würde behaupten kann, was aber das Vieh noch eine ganze Weile verhinderte.

Hoch über dem Spektakel, auf der Tribüne, von den 310 Geschwistern umdrängt, stand die Mena. Sie hörte alles wie aus weiter Ferne und sah alles wie durch einen Nebel. Sie hörte den Namen: Ellenhub, und dann wieder: Ellenhub! Die Fernstehenden riefen ihn sich zu; er lief über den Platz und hinein in die Gassen und Gäßchen. Sie stürzte hinab, um den Ähnl zu suchen; und die Geschwister tummelten hinterdrein. Endlich fanden sie ihn und taten alle ganz verliebt.

Der Ähnl lächelte nur und war im übrigen so frischlebig, daß sie ihre helle Freude an ihm hatten. Sie konnten nicht genug staunen, besonders die Mena.

Die Enkelkinder fragten: »Ähnl, wie hast du's nur zuweggebracht?«

Er lachte listig. »Ich hab mir gesagt, zuerst laufst du, als ob dich das ganze Laufen nichts anging. Dann, beim großen Herrgott, schaust du zu ihm auf und denkst: In Gottes Namen! Und so müßt ihr's auch machen: bei jedem Laufen kommt es auf die letzten zehn Klafter und auf die letzten zehn Atemzüge an.« 311

 


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