Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Ein großes Amulett

Menas Leben war auf einer Art Hügelkuppe angelangt, ähnlich denen, wie sie das Dorf umgaben, und von wo aus man, in der lieblichsten Abwechslung, die Gemeinde und noch fremde Pfarreien einsehen konnte. Recht fremdscheinende Nachbarpfarreien waren ihr in der letzten Zeit heimisch geworden, wenn auch auf eine so ganz andere Weise, wie sie sich das vorgestellt hatte. Viele Irrtümer waren geschwunden, und besonders einen hatte sie begriffen; daß es vernünftiger war, weniger am Leben teilzunehmen und es mehr zu beschauen. Sie spürte etwas in sich wachsen, konnte es aber nicht mit Namen bezeichnen; und es war doch nichts anderes als der beginnende Läuterungsprozeß, der zu einem gewissen Zeitpunkt bei jedem gutgearteten Menschen eintritt. Ihre Seele, die nicht mehr so arg vom Geschlechtswirbel herumgetrieben wurde, lag gleichsam rastend still inmitten von ländlicher Reinheit, Sonne und Farben, und hub zu schauen an; die Dinge und die Menschen untereinander zu vergleichen, suchte sich ihre Beziehungen zu erklären, und je mehr sie dem nachhing, desto mehr wuchs in ihr der Drang dazu. Es war, als ob eine Flamme, die bisher in ihr nur geglimmt, hell zu brennen anfinge. Denn auf Erden sucht jedes Element sich auszudehnen und über alle andern Herr zu werden, das Feuer und das Wasser, die Wärme und die Kälte, die Tyrannei und die Freiheit, bis es vom Gegenspieler in seine gottbestimmten Grenzen zurückgewiesen wird.

Dieser Zustand wurde durch die Veränderungen im Dorf begünstigt. Es war an Sonn- und Feiertagen nicht mehr so schreierisch und strittig in den Wirtshäusern; es lag auf allen Dingen und Menschen ein Dämpfer. So vieles, das Unruhe und Lärm gemacht, war verschwunden, Menschen, die bisher unbeachtet gewesen, wurden beachtet, die früher achtlos aneinander vorbeigegangen, ließen sich in ein Gespräch ein, und Feindschaften verwandelten sich in Gleichgültigkeit, bisweilen in Freundschaft. Die Ströme, die alles Leben auf Erden halten und tragen, hatten sich verändert, zogen 281 neue Bahnen und wühlten den untersten Boden allen Daseins auf: Blutsliebe, Heimatssehnsucht und Gottesfurcht.

Die stärkste Wirkung ging von den Soldatenbriefen aus. Sie trugen Poststempel mit den Namen Mailand, Mantua und Legnago, und die Mena kam mit diesen Schriftstücken in eine gewisse Verbindung.

Seit dem Abgang ihres Kindleins schrieb sie fleißiger an ihre Geschwister, besonders an den Bruder in Wien, dessen Antworten ihr schmeichelten. War es nicht zum Verwundern, daß ein wirklicher Herr und Gelehrter es der Mühe wert fand, ihr, einer Magd, mochte sie immerhin seine Schwester sein, seitenlange Briefe zu schreiben? – Sooft die Leute nach ihm fragten, ging ein stolzer Zug über ihr Gesicht. »Ja, mein Gott«, sagte sie, »der ist so gescheit geworden, daß wir dagegen alle nur arme Waisenkinder sind.« – Sie schrieb auch an die Brüder im Feld. Dieser Briefwechsel, in dem abgelegenen Bauerndorf an sich ein Unikum, sprach sich herum. Und da es bei den Älteren und Alten im Lesen und Schreiben haperte, traten an Sonntagen, nach dem Hochamt, Bauern und Bäuerinnen an sie heran mit der Frage, ob sie ihnen nicht an den Sohn in Italien schreiben möchte. Gewiß, sie hätten auch zum Gemeindeschreiber gehen können, aber das war ihnen nicht heimlich genug. Die Mena freute sich, daß sie den Leuten helfen konnte, und dankte dem guten Zauner, daß er sich ihrer so sehr angenommen hatte. Manchen Sonntag stellten sich gleich mehrere solche Briefbitter ein.

Trotz ihrer ernsten Stimmung drängte der alte Frohsinn, die Natur der Ellenhuberischen Waldbauern, die von ihren Höfen Jahrhunderte auf das närrisch-lustige und närrisch-ernste Leben und Treiben der Welt herabgesehen hatten, wieder nach oben. Ganz ohne ihr Zutun kam er über sie; nur zuweilen hie und da erschüttert durch die Frage: Ist meine Lustigkeit eine Sünde oder nicht? Die Welt war so schön, die Hausgärten voll duftender Gewürze, bunter Blumen und farbiger Glaskugeln, der Himmel blau und der Dorfbach klar, daß es eine Lust war, in diesem reinen Element hinzuschwimmen.

Alle Dinge sind nicht für jeden; soviel Menschen, soviel kleine Welten; bald langsam, bald reißend schwimmen sie dahin, reiben sich gegenseitig oder sondern sich voneinander ab und segeln in den 282 Höhen, einsam und selig, den Sternen zu. Die Mena fühlte diesen Vorgang, fühlte, daß ihr eigenes Leben das Allereinzigste und Allerheiligste war, was sie hatte, ein anderes Tabernakel, das mit Vorsicht und Scheu, seiner Bestimmung gemäß, zum Altar der Vollendung getragen werden mußte.

An einem dieser Abende zerschnitt sie einen großen Weinapfel mit ihrem Taschenfeitel, der noch immer aus ihrer glückseligen Hirtenzeit stammte, in acht gleichmäßige Spalten. Das Lamberthaus stand erhöht, und sie hatte das Dorf vor sich und jenseits die Hausfront des Postwirts. Aus den offenen Fenstern kam Hochzeitsmusik; und das wahnsinnige Jauchzen der Hochzeitsbuben scholl in die Stille. Die Nacht mit den schwarzwolligen Feldern und Wäldern glich einem finsteren Rachen, worin sich geheime, unsagbare Dinge vorbereiteten. Die Hügel, Bäume und Büsche glichen menschlichen Gestalten mit ungeheuerlichen Formen, zeigten krause Mannsbärte, gestiefelte Füße; die nächtliche Erde selber war ein Mann, wild und groß, mit einer Brust voll schwarzer, zottiger Haare, und das Musikgedröhn, das Jauchzen und Gestampfe seine unartikulierte Lustsprache, die alle Erden und alle Himmel durchdrang.

Die Mena schalt sich ob dieser heidnischen Phantasien und sah sich nach einer Zuflucht um. Aber sie mußte erfahren, daß von diesem Bilde eine unheimliche Macht ausging, eine Macht, die Mann zu Weib, Weib zu Mann mit noch viel größerer Kraft schleudert als die wildeste Tanzmusik. Sie spürte das erbarmungslose Wirken dieser Kraft, öffnete ohne zu wissen, was sie tat, den Mund und gab einen röhrenden Laut von sich, den sie selber vielleicht gar nicht hörte. Sie rief sich selbst beim Namen, rief auch ihre beiden Heiligen, Vater und Mutter, aber es half nichts. Ein Fieber durchrieselte sie, bald warm, bald kalt; sie hielt die Hände vors Gesicht und seufzte: »Ich fühl mich so einsam! Hab gar nichts mehr, was ich gern haben könnte.«

Plötzlich schrak sie auf; vom Holzstoß unter ihrem Fenster fielen Stücke auf die Erde und im nächsten Augenblick wurde der Vorhang zurückgeschoben. Sie sprang auf; aber es war schon zu spät. »Nur ein bißl ausschnaufen möcht ich mich bei dir, Mena!« bettelte eine Stimme.

»Aber Toni«, sagte sie, »muß denn das gerad bei meinem Kammerfenster sein?« 283

»Freilich, Mena, freilich! Wo denn sonst? – Teufelsmäßig müd bin ich! Drei Stunden bin ich gelaufen!«

»Wo kommst du denn her?«

»Aus der Fronfeste!«

Sie erschrak. »Armer Mensch!« sagte sie. »Setz dich ein wenig her! Mußt aber brav sein wie ein Kind, sonst kann ich dich nicht brauchen.«

Der Schinderbub setzte sich gehorsam auf den Sesselrand und fragte unsicher: »Wie geht's denn deinem Kindl?«

»Mein Kindl liegt auf dem Friedhof«, gab sie zur Antwort. »Ich hab jetzt wirklich gar niemand mehr auf der Welt.«

Der Toni seufzte. Dann war es eine Weile still in der Magdkammer. Nur der messingene Pendel der Wanduhr tickte laut.

»Wie ist's dir denn immer ergangen?« fragte sie endlich.

Der Toni tat einen tiefen Atemzug, so ganz von unten herauf.

Und wieder war es still; bis die Mena etwas hörte, das sie den Atem anhalten ließ; der Schindertoni weinte! – Er streckte beide Hände gegen den Ölstock aus Messing hin, den er ihr an jenem Kirchtag gekauft hatte, und sagte: »Die verdammten Fesseln haben mir die Händ blutig gerieben, das hat sich nun entzündet. Wenn das so fortgeht, kann ich wochenlang keinen richtigen Schuß abgeben.«

»Jesus, Maria!« sagte sie. »Du armer Mann!« Holte altes Linnen und verband sorgfältig das wunde Gelenk.

Wie sie mit der Schere die Enden abschnitt, rutschte er plötzlich vom Sessel auf den Boden und wühlte seinen Kopf zwischen ihre Knie. Sie lachte, suchte ihn abzuwehren; aber er riß sie mit einem halbunterdrückten Schrei in seine Arme und trug sie durch die Kammer.

»Du bist mein!« sagte er. »Was glaubst du, was in der Fronfeste meine drei höchsten Wünsch gewesen sind? – Einmal wieder einen Sechzehnender schießen, einmal wieder den Tanzboden auskehren und einmal wieder bei dir – schlafen!«

Die halbe Nacht balgten sie sich wie zwei junge Hunde und brachen dabei öfter in so heftiges Gelächter aus, daß sie sich die Polsterzipfel in den Mund stecken mußten. Vom nahen Egelsee kam der Gesang der Unken; es schien, als ob, wenn der Toni die Mena fester in die Arme nahm, auch gleichzeitig der Unkenchor mächtig 284 anschwoll, glühender, um dann wieder in eine laue, süße Wollustmüdigkeit zu versinken.

»Du schönes Weiberleut, du!« sagte er leise.

Und auch sie redete im Flüsterton: »Du schönes Mannsbild, du!«

Dabei fiel ihr ein viereckiges Ding aus dem Hemd, das der Toni blitzschnell an sich brachte. Es war ihr Amulett. Der Stoff war mürbe geworden, und an einigen Stellen schimmerte es weiß durch. Der Toni wollte es öffnen, aber sie hinderte ihn daran.

»Es ist hochgeweiht!« sagte sie.

Er nestelte jedoch so lang, bis ein gefaltetes Papier mit brüchigen Rändern zum Vorschein kam. Auf der einen Seite war das Bildnis einer Madonna zu sehen, mit Kind, Krone und Stab, und auf der andern eine Handschrift: die ihrer Mutter. Nichts dünkte ihr wunderlicher, als daß die Mutter einmal, wohl in jungen Jahren, diese Zeilen selber, wahrscheinlich aus einem Versbuch, abgeschrieben hatte.

Wie zwei Kinder, die das Lesen erlernen wollen, lasen beide, zum Öllicht gebeugt, Wort für Wort, Vers für Vers, und es schien ihnen, als ob ein Strom sie, hoch über allem Menschendasein, forttrüge. Und als ob von der Gewalt dieses Stroms selbst die toten Eltern auf dem Friedhof noch einen Nachhall verspüren müßten . . .

Das süßeste Glück vom Himmel mir kam,
Als einst ich mit meinem Bräutigam,
Teilte das Ehbett zum erstenmal
Und er mich küßte sonder Zahl.
Als Mann und als Weib verbunden auf Erden,
Wollten wir fast einem Gotte gleich werden.
Geschrieben an dem Tage nach meiner Hochzeitsnacht. 285

 


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