Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Der Kummervogel singt

Das war eine merkwürdige Welt, wohin nun die Mena bei den Kröll-Leuten geriet. Die Kammer, die sie bewohnte, hatte ein Bett, eine Bank, ein wackeliges Tischchen, einen Ofen und eine alte Nähmaschine, deren Handhabung sie von der Kröllin erlernte. Unglaublich, wie da die Windeln und Hemdchen wie durch Zauber entstanden, und wie gut sie jetzt das Linnen, das sie am Kirchtag gekauft, brauchen konnte. Das neuartige Gefühl, für ein anderes, wenn auch noch nicht geborenes Wesen sorgen zu müssen, tat ungemein wohl. Mit einer Fröhlichkeit, die ihre ganzen Sinne durchdrang, saß sie Stunde für Stunde im Sonnenstreifen, der durchs Fenster fiel, säumte Windeln, nähte Jäckchen und Häubchen, aber all das kleine Zeug für das Wesen, das sie mit sich herumtrug, blieb immer nur ein armseliges Häuflein, und wenn sie an die Liste dachte, die das Wichtlweibl ihr erklärt, wurde ihr schwindlig. Die Ersparnisse anpacken, das war für sie das Böseste, was es gab. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, daß aus der lustigen Anschwellung ihres Kirchtagpacks eine ganz andere, viel größere hervorkommen würde, die sie, wenn sie beim Gehen allzusehr hin- und herschwankte, mit einer Anwandlung von Ausgelassenheit erfüllte. Mit Freude und Wehmut dachte sie an alles zurück, was sie auf dem Haginghof erlebt, an die wunderlichen Haushüter und die Abende mit ihnen, insbesondere aber an den Menscherlenarren, den Riesenhans, der ihr versprochen, mit ihr in die Dult zu reisen und ihr dort die Sieben Weltwunder zu zeigen; der sich aber dann, gleich einem andern Weltwunder, still und fromm in die dampfende Furche gelegt hatte.

Dann kam der Gang zur Kinderkathl. Die Kröllin wies auf ein schiefes Häuschen mit aufgeschichtetem Brennholz hin. Davor und daneben, auf einem grünwolligen Anger, lag blau und rot gewürfeltes Bettzeug, tummelten sich Kinder, vom kleinsten, das auf allen vieren kroch, bis zu vier- bis fünfjährigen, die sich mit der Betreuung von Säuglingen betätigten, die in Wiegen und Korbwaren 197 schrien. Dazwischen sah man ein Weiblein mit einem weißen Kopftuch geschäftig hin und wider laufen. Die Kröllin blickte auf die halbnackten, zappelnden Wesen, auf die glänzenden Augen, rosigen Fäustchen und Beinchen mit einer Miene, als ob sie von einem inneren Entsetzen gelähmt würde. Der Mena wurde lustig und frei zumut. Ihr dünkte, als ob alles, was in der Pfarre an sündiger Liebe entsprossen, hier vereinigt worden wäre. Die Kathl schien nur für das, was um sie herum zappelte und strampelte oder aus bauchigen Flaschen Milch sog, Sinn und Blick zu haben. Sie war erfindungsreich in Kosenamen für ihre Pfleglinge, der eine war ein »Saufbold«, der zweite ein »ewiger Prediger« und der dritte ein »kleiner Kujon«. »Ja, mein heiliger Gott«, rief sie, über Zwillinge gebeugt, aus, »der ›Kanonier‹, der schießt ja heut in einem fort, und der ›Trompeter‹ blast partu den Radetzkymarsch.«

Hier war alles ohne böse Gespenster, ohne Vorwürfe und Schande, hier schrien, tranken und schliefen die Kinder sich groß, wie Gott und das Schicksal es bestimmt hatten. Die Kinderkathl, die früher einmal Saukathl geheißen und beim Bräu eine Reihe von Ferkelgenerationen aufgezüchtet, päppelte die Kinder um lachhaft wenig Geld auf, und man sagte ihr nach, daß sie aufs beste gediehen.

Seit diesem Tage fing die Mena wieder an, allerlei Pläne für ein neues Leben zu hegen. Sie übernahm Gelegenheitsarbeiten, und es tat ihr wohl, wie sie merkte, daß man öfter nach ihr schickte und ihr überall geflissentlich die leichtere Arbeit überließ. Eine Bangigkeit freilich blieb ihr: das Wiedersehen mit dem Ähnl und den Geschwistern!

Eines Sonntags aber, nach dem Rosenkranz, raffte sie sich auf. Je näher sie dem Zuhause kam, desto mehr bemächtigte sich ihrer eine dunkle Angst: er wird übellaunig sein, er wird mich ausschelten. Er hat die letzte Zeit nichts von sich hören lassen; er wird krank sein. Gewiß haben Paul und seine Frau sich nicht um ihn gekümmert. Vielleicht konnte er nicht aufstehen; dann ist auch sein Zeisig im Käfig verhungert. – Sie sah in ihrer Phantasie, wie der Vogel ins leere Futternürschel pickte, noch ein paarmal seinen Schnabel wetzte und tot vom Sprießel fiel.

Aber der Anblick, der sich ihr bot, war das Gegenteil von diesen Befürchtungen. »Ja, Mena-Dirndl«, sagte er, »wo muß ich denn das 198 hinschreiben?« Er ging mit Kinderschritten voran und erschien ihr jetzt, wie er so lautlos Brot, Butter und Honig auftrug und kein Wort des Vorwurfs hören ließ, wie ein Geist, wie ein guter, heiliger Geist. Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen. Aber da dies im ungeschriebenen Kodex des bäuerlichen Benehmens nicht verzeichnet steht, saßen sich der Ähnl und das Enkelkind gegenüber und plauderten in der muntersten Art und Weise. Der Ähnl war der Mena schon immer als ein Rätsel erschienen. Bald war er so gut zu den Kindern wie ein lichter Sommertag, bald so finster und abweisend wie eine beißende Dezembernacht; bald so lustig wie ein Bajazzo, bald so ernst wie ein Nikolo, der den Krampus an seiner Kette führt. Sie erinnerte sich des Gedankens, der ihr einmal gekommen: keinen solchen Zeugen ihres Lebens mehr zu haben wie den Ähnl! Ihr war immer, als ob vom Ellenhub-Zuhause her, über Wiesen und Felder, scharfe Augen blickten, bis in ihre Kammer, bis in ihr Herz hinein. Und obgleich sie diesen vermaledeiten Gedanken aufs rascheste aus ihrem Gehege vertrieben, dagewesen war er doch.

Heut redete der Ähnl in Sprüchen, wie es auch sonst vielfach seine Gewohnheit war, die Gewohnheit eines Alten, der das Leben kennengelernt und seine Ergebnisse nach und nach in eine starke Essenz eingedampft hat, um sie jederzeit, als Stärkung oder heilsame Medizin, bereitzuhaben. »Laut sein«, sagte er, »singen und lustig sein ist gut; aber noch besser, still sein, still und fromm! Und das ist ein Hauptgesetz: das Gesetz von Köder und Angel. Auf jedes Ding, Mensch, Tier und Bild, muß der Mensch mit Mißtrauen schaun, und je lockender selbiges Bild, Tier oder Mensch ist, desto größer muß sein Mißtrauen sein. Denn so ist es ja: der Augenschein trügt! Und weil die Menschen das wissen, erzeugen sie den Augenschein absichtlich, um ihre Zwecke zu erreichen. Siehst du da draußen den Raben! – Siehst du, wie er sich den Brotrinden nähert, die ich ihm täglich hinauswerf? Warum geht er nicht gerad drauflos? Warum lugt er zwanzigmal nach links und rechts? – Weil ihm das große Mißtrauen im Blut steckt; das Wissen, daß jedes Geschöpf das Äußerste an Vorsicht und Klugheit aufwenden muß, um nicht Angel und Pfeil in den Leib zu kriegen. Der Verstand reicht nicht aus, der ist ein armer Esel; und wer's nicht im Blut hat, bekommt's nimmermehr.« 199

Die Mena wohnte von diesem Tag an geruhig im Kröllhaus. Gern nahm sie mit einer Handarbeit in der Schusterstube Platz und tat harmlos, während sie in Wirklichkeit auf alles, was um sie herum vorging, ein scharfes Auge hatte. Kröll saß auf seinem Schusterstuhl, inmitten eines Haufens schiefgetretener Stiefel und Stiefeletten, und vor sich, auf dem Fensterbrett, ein bauchiges Glas mit zwei winzigen Goldfischen. Diese Fischlein schwammen lässig in ihrem Element hin und wider; und wenn die Sonne drauffiel, stützte Kröll den Kopf in die Hand und betrachtete mit gerunzelter Stirne das kleine Farbenspiel. Sein Antlitz furchte sich dabei mehr und mehr, die Augen versanken in den grauen, buschigen Höhlen und eine grenzenlose Traurigkeit lagerte sich auf seinem verwitterten Angesicht. Dann brummte er unverständliche Worte vor sich hin, sprang plötzlich auf und lief zur Tür hinaus. Seine Ehefrau begleitete diese Szene mit stummen Gebärden und rief zum Schluß: »Der Satan, der leidige Satan regiert dich, du Elendshaufen!«

An solchen Tagen kam er berauscht heim und war dann zu Späßen geneigt. Er behauptete, Menas Anschwellung käme vom Biß einer Fledermaus. Er holte eine alte Scharteke, in wurmzerfressenes Leder gebunden, von einem Brett herab, das an den Dippelbaum der Stube genagelt war, und las laut vor: »Paragraph fünf, Absatz 28, den wütigen Fledermausbiß zu heilen. Nym sechs oder acht Maikäfer, so man im Mai gefangen und in Honig hat sterben lassen; ist nun die Gefahr da, so gibt man dem gebissenen Menschen ein oder zwei Käfer mit Haut und Haar zu essen!« Die Mena lachte darüber nicht wenig, was Kröll in ihrem Zustand für höchst gesund erklärte, während sein Weib wütend zu kollern anfing: »Du Esel, du kriminalistischer! Glaubst du wirklich, daß jemand so blödsinnig ist und deine Maikäfer schluckt?«

Auf jenem Brett lag noch ein zweites Buch, wahrscheinlich aus Urväterzeiten, ein halbvermodertes Gesangbuch. Auch das nahm er herab, blätterte darin und las Titelblatt und Eingang: »Chatolisches Gesangbuch auf alle hohe Feste, Sonn- und Feiertage, für Amt, heilige Meß, Prozession und Kinderlehre . . . Leitspruch, Psalm David 57, 8, 12: Getrost ist mein Herz, Gott! Singen will ich; und spielen auch meine Seele, auf Zither und Harfe; aufstehen will ich mit der Morgenröte; ich will dich preisen unter den Völkern, Gott, und dir spielen unter den Nationen.« Dann fing er an, eins der geistlichen 200 Lieder so laut zu singen, daß das Schusterhäuschen davon erdröhnte:

»Einen Zuruf hör ich schallen,
Brüder, wacht vom Schlummer auf!
Denn es naht das Heil uns allen,
Nacht ist weg, der Tag im Lauf . . .«

Der Mena war vieles unheimlich, am unheimlichsten das unaufhörliche Bibellesen und der Umstand, daß hier ein Vater und eine Mutter lebten ohne Kinder. Es war zwar noch ein Wesen im Haus, halb Kind, halb Jungfrau, eine überaus üppige Vollwaise, mit rotblondem Haar, der Zucht der Kinderkathl entsprossen und später von Kröll an Kindes Statt zu sich genommen. Er sprach zuweilen in Andeutungen von Plänen, die er mit diesem Mädchen vorhatte; einstweilen schickte er sie zu einer Schneiderin in die Lehre. Der Mena schien diese blühende Schönheit eine Art umgekehrte Haginghoferin, ein Gegenstück zur »frommen Statue«.

Lange hielt es die Mena gewöhnlich in der Kröllschen Stube nicht aus, besonders die regelmäßig wiederkehrenden Streitszenen widerten sie an. Sie packte dann ihre Siebensachen und zog sich in ihre Kammer zurück. Hier saß sie, über ihre Arbeit gebeugt, und versetzte sich im Geiste auf Ellenhub zurück. Wie in einem Guckkasten huschten Szenen aus ihrer Kindheit vorüber, Eltern, Geschwister, Arbeit, Spiel, Gelächter. Insbesondere trug sie Verlangen danach, jene Worte, Gespräche und Sprüche, woran die heimatliche Stube so reich gewesen, wieder aufleben zu lassen; ja ihre Seele schrie förmlich danach, was Vater und Mutter und Ähnl, im Guten wie im Bösen, im Frohen wie im Traurigen, geredet hatten. Zuweilen war es vorgekommen, daß sie sich ein paar Minuten mit Sprichwörtern und Gleichnissen, halb im Ernst, halb im Scherz, gleichsam bombardiert hatten. Diese kurzen und herben Sprüche, ohne Doppelsinn und Zweideutigkeit, hatten besagt: Handle so, und es wird dir so ergehn; handle anders, und es wird dir anders ergehen. Greif frisch zu, und dein Werk ist halb getan; versäum die Gelegenheit, und du wirst die Versäumnis unbarmherzig büßen müssen. Innerhalb dieser Sprüche war Helligkeit, außerhalb ein beängstigendes Zwielicht. Im übrigen konnte man sie in ein Halbdutzend Gruppen einteilen: die erste lautete gegen die Mannsbilder; sie stammten von 201 der Mutter. Die zweite gegen die Weibsbilder; sie waren Eigentum des Vaters und des Ähnls. Die dritte und vierte Gruppe umgrenzte das Gebiet Eltern und Kinder; Kinder und Eltern. Die fünfte bildete ein geschlossenes Karree gegen die gesamte Umwelt, die man, ohne dabei etwas Arges zu wollen, durchaus als etwas Feindliches zu betrachten hatte, und ein Häuflein Nachzügler beschäftigte sich mit Kaiser und Herrgott.

Aber wenn sich dann das neue Leben in ihrem unförmigen Leib regte, als wäre es ungeduldig, vom Dunkel ins Licht zu kommen, dünkte ihr, als ob sich über das Land ihrer Kinderjahre ein Schatten senkte; sie empfand eine Beklemmung, als ob sie träumte und erwachen müßte. Einst, in frommen Zeiten, glaubte man, der Himmel sende einen unsichtbaren Engel, die Betrübten zu trösten und die Verzweifelten aufzurichten, aber es wird wohl niemand leugnen und es jeder an sich selbst erfahren haben, wie in das höllische Chaos seiner Tage plötzlich etwas fiel, ein Lichtstrahl, der die tiefste Finsternis erhellte. Und er wird auch dieses erfahren haben, daß er niemals Klarheit darüber erlangen konnte, woher dieser Lichtstrahl kam, warum er sich nicht lieber gleich, um die Marter zu ersparen, am ersten Kummertag eingestellt. Diese sich immer wiederholende Auferstehung vom Tode, dieser Aufstieg zu Licht und Leben, was konnte anders die Ursache sein, als ein verborgener, in den Untergründen der Menschenseele sprudelnder Urquell, ein Gottesgeschenk, gegeben dem Letzten und Ärmsten, falls er ihn nicht selber in Bosheit und Wahnsinn verschüttete.

Eines Morgens, noch immer in der frohstarken Stimmung, bemerkte sie, daß die Vorübergehenden mit einem Lächeln am Kröllhaus hinaufsahen. Böses ahnend, ging sie hinaus. Knapp unter ihrem Fenster stak, in einem Astloch, ein glattpolierter Zwiesel, und sie wußte gleich, was dies zu bedeuten hatte: Zwei hängen an einer! – Sie kam vor Zorn außer sich, und es ist kaum zu glauben, ihre unerfahrene Seele schäumte wieder über, fast so stark wie damals, als sie auf dem Bett gesessen und an den Kalkbruchtümpel gedacht hatte.

Ein paar Tage empfand sie gegen die ganze Welt Haß. Sogar die Liebe zum Ähnl, zu ihren Eltern, zu den Geschwistern ging darin unter, wie eine Sonne untergeht; es war ein schreckliches Gefühl, eine Verstörung ohnegleichen. Und, seltsamerweise, statt sich 202 kräftig loszureißen und die Bosheit zu nehmen für das, was sie war, machte es ihr Lust, die Finsternis zu vertiefen und das Gefühl der Hilflosigkeit wieder ganz aufleben zu lassen.

Der Schuster Kröll und seine Ehehälfte bemerkten diese Verstörtheit, und es tat ihnen aufrichtig leid; so etwas Frohlustiges, wie die schwangere Mena von Ellenhub, hatten sie zeitlebens nicht in ihrem finsteren Loch gehabt. Das ging weit über die zwei winzigen Goldschwänzlein auf der Fensterbank und die etwas gewaltsame Lustigkeit Krölls, die stark nach Bier roch. Der Zustand der Mieterin ängstigte sie geradzu, und da diese öfter von ihrer »guten Freundin«, dem Wichtlweibl, gesprochen, verständigten sie dieselbe.

Das Wichtlweibl kam sogleich angerudert. Man sah an der sorgfältigen Kleidung und der ernsten Miene, daß sie auf ihre Mission stolz war. Sie setzte die Krücke fest auf den Boden, schlang den Rosenkranz mit den braunen Holzperlen um die dürren Hände und schnalzte energisch mit den blutleeren Lippen. »Mach dir nichts draus, Mena!« sagte sie. »Die Mannsbilder, und besonders die Jungen, sind die reinen Teufel! Und viel besser sind auch die Weibsbilder nicht. Aber, ob Mann, ob Weib, ob Jungfrau, ob Kind in der Wiege: der Herrgott straft die Bosheit in jedem Menschen unbarmherzig! Ja, der straft sie!«

In diesem Ton ging es fort. Wie sie aber schloß: »Heut gleich fang ich an; drei Vaterunser in der Früh, drei vorm Bettgehen, und so jeden Tag, einen Monat lang, für dich und dein Kind, kannst dich verlassen!«, flutete plötzlich in der Mena ein Strom von Rührung empor, und es war ihr sichtlich leichter. Vom Alter zur Jugend und von der Jugend zum Alter, und von Reich zu Arm, von Arm zu Reich gehen Ströme, deren Tiefe noch kein Senkblei gemessen hat.

Da aber die muffige Kammer sie noch immer bedrückte, schritt sie in der Abendsonne einen Weg hinüber, zwischen blumigen Wiesen. Am Rain stand ein Haus, das in seiner Schmuckheit einem Kinderspielzeug glich. Die Läden waren grün, die Wände weißgetüncht; in den Fenstern blühten Fuchsien und Nelken; davor war ein rotweißes Pflaster gelegt und blühende Oleander umschlossen eine bequeme Bank. Schon bei ihren Schulgängen hatte sie oft auf das Haus hingespäht und auf die zwei Leutchen, die bald in dieser, bald in jener Tür zum Vorschein gekommen waren. – Mein Gott, dachte sie, in diesem Haus ist kein Kummer. Die da wohnen, 203 lächeln immer freundlich und sind immer glücklich . . . Und wie sie das noch dachte, erschien im Eingang eine rundliche Frau und forderte sie auf, einzutreten. Wie alles nur so von Sauberkeit funkelte! Und wie still es überall war! – Die Frau öffnete eine Schublade und legte Kinderwäsche heraus, Hemdchen, dutzendweise gebündelt, Windeln, Häubchen, rein und weiß, nur an den Stellen, wo sie gefaltet waren, zeigten sich gelbliche Streifen. Eine Säuglingsausstattung, so reich, wie die Mena es sich niemals hätte träumen lassen. Dazu erzählte die Greisin, dies wäre noch die Kinderwäsche ihres einzigen Sohnes, der im Kriege gefallen war.

Der Mena war eigenartig zumut, als sie mit ihrem Geschenk heimging. Etwas Großes durchströmte sie: Güte! Eine Frau, eine gewesene Mutter, verdammte sie nicht, half ihr sogar. Es war inzwischen Nacht geworden, und der Himmel spannte sich wie ein glitzerndes Zelt über die Dorfstraße. Ihr dünkte, als ob sie mit dem Dorfe, der Kirche, den Höfen und den funkelnden Sternen darüber allein auf der Erde wäre, und sie fühlte, wie eine Ruhe und Anbetung ohnegleichen ihre Seele durchdrang.

In den folgenden Wochen blieb sie still in ihrer Kammer, die so niedrig war, daß ein Großgewachsener sich bücken mußte, um nicht an die Decke zu stoßen. Der Geruch, der den Möbeln entströmte, erzeugte manchmal eine gedrückte Stimmung, die aber stets sofort verschwand, wenn sie durchs Fenster in die ländliche Welt draußen sah und das Sensenklingen hörte. Eine neue Lebenssehnsucht regte sich in ihr, die sie wohl nicht beim Namen nennen konnte, die aber wie ein balsamischer Duft ihr Herz erfüllte. Die Seele war gleichsam schwerer geworden, war gewachsen und gereift. Sie schwamm in einem Lebenselement, das freilich nicht mehr das alte war, aber doch eben ein Lebenselement, in dem sich schwimmen ließ.

Wie ihre schwere Stunde sich näherte und die Schmerzen sich einstellten, bekam sie wieder Angst und betete heimlich zu ihren beiden Schutzpatronen, worunter sie Vater und Mutter verstand, die ihr inzwischen in der Erinnerung täglich heiligmäßiger geworden waren. Und als sie in den andrängenden Wehen nur mehr ein Stöhnen hervorbrachte, hauchten ihre Lippen: »Vater! – Mutter!«

Der Knabe, den man ihr dann an die Seite legte, war ein gesundes Kind. Kaum hatte er sein erstes Geschrei und sein erstes Bad hinter 204 sich, drückte er die geballten Fäustchen in die Augen und schlief ein. Die junge Mutter erfaßte, in seine Betrachtung versunken, Staunen und Entzücken: von den winzigen Gliedern, den goldig überhauchten Löckchen, von den leuchtenden Augen bis zu den rosigen Zehennägeln war alles Lieblichkeit, strahlte alles eine gebieterische Macht aus. Sie stellte sich das Glück vor, das ihre Eltern empfunden hätten, wenn sie jetzt zur Tür hereingekommen wären.

In dieser Stimmung schlief sie, nach so vielen Ängstigungen, den allerseligsten Schlaf, dessen sie sich je im Leben erinnern konnte, und hatte dabei einen Traum von solcher Klarheit, daß ihr beim Erwachen die kleinste Einzelheit in Erinnerung blieb. Sie empfand einen unerträglichen Kummer um den Verlust ihrer Eltern.. Die Ursache dieses Kummers glaubte sie darin zu finden, daß sie sich bei Lebzeiten gegen sie vergangen hatte. Im Grund wohl nichts besonders Böses; sie hatte nicht gehorcht, eine unschöne Antwort gegeben, kurz, es an der schuldigen Liebe und Ehrfurcht fehlen lassen. Und jetzt sah sie die beiden in einem finstern Höhlengefängnis sitzen, niedergebeugt, die Gesichter mit den Händen bedeckt, ein Anblick, der ihr das Herz zerriß. Plötzlich aber schwanden die Felsenmauern, eine Helligkeit tat sich auf; der Vater saß, in der Linken seine Pfeife, während er mit der Rechten, fröhlich schmunzelnd, eine Kurbel drehte, wodurch lautlos ein zierlicher, naturholzfarbener Schlagbaum auf und nieder gehoben wurde. Und die Mutter saß da, einen blühenden Nelkenstock in der Hand, während ihr Fuß eine rotgestrichene Wiege trat. Und je länger die Träumende auf dieses Bild hinsah, desto stärker wuchs in ihren Mienen der Zug von Schelmerei und Fröhlichkeit, der sie im Leben ausgezeichnet, und sie hörte, wie ihre Lippen stimmlos sprachen: Geliebte Tochter, sei fröhlich! Das Leben ist nichts als ein heiliges Traumspiel.

In den nächsten Tagen kamen die Geschwister, eins nach dem andern, und brachten zwar nicht Gold, Myrrhe und Weihrauch, aber immerhin jedes ein notwendig Ding oder ein Stück Silbergeld, wie es üblich war. Stundenweit gewandert, hatten sie an dem Kindlein mehr Freude, als die Mena selber. – Diese Finger! Diese rundlichen Backen! Und diese hellblauen Augen! Die Mena sah auf ihr Kind und dachte: Nein, aber nein! So ganz aus nichts geworden! Wie nur so ein zierliches Wesen entstehen kann? – Und ich bin seine Mutter, so wie meine Mutter meine Mutter war . . . Etwas von 205 jener Köstlichkeit kam über die Geschwister, die sie auf Ellenhub oft empfunden: das heilige Dach des väterlichen und mütterlichen Geistes überschwebte sie und versetzte sie in eine ausgelassene Stimmung. Nur bei Paul war es anders; und sie konnte sich der Frage nicht erwehren: Warum herrscht zwischen ihm und uns eine solche Frostigkeit?

Die größte Überraschung war die Haginghoferin! Wie die unzugängliche und strenge Bäuerin, genauso wie die Schwester Brigei und der Bruder Jörgei, das Kleine herzte, fing die Wöchnerin plötzlich hellauf zu weinen an. Die Folge war, daß die Besucherin sofort den Glassturz über sich stülpte, kühl geschäftig ihre Geschenke auspackte und zuoberst ein blaues, steif gebundenes Büchlein legte. »Da sind für das arme Kind dreihundert Gulden angelegt«, sagte sie, »das muß ihm verbleiben, bis es großjährig ist!«, und fort war sie.

Wenn die Mena nicht die Rolle Leinwand und das blaue Büchl hätte vor sich liegen sehen, würde sie geglaubt haben, zu träumen. 206

 


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