Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Wallfahrt der Soph

Die Mena ging ihre neue Stellung ziemlich verwandelt an. Was die Arbeit anbelangte, war alles beim alten. Sie war darin von klein auf geübt und: frisch gepackt ist halb getan, ihr Leib- und Lebensspruch. Mochten die Arbeiten anfangs das schlimmste Aussehen haben, sie ging drauflos, ohne Zögern, wie ein braver Soldat auf den Feind. Nur daß die Arbeiten öfter gar so rasch aufeinanderfolgten, verstimmte sie zuweilen. Aber sie beruhigte sich schnell wieder: Honigschlecken wäre freilich lustiger; aber hätt man alleweil zum Schlecken, wäre man bald voll Überdruß. Was aber ihr persönliches Leben anbetraf und ihr Verhältnis zur Außenwelt, so war eine starke Änderung eingetreten. Sie war gewitzigt. Hatte sie bisher in den Tag hineingelebt, so waren ihr in den Leidenswochen die Augen aufgegangen, und ihre Rede und ihr Lachen hatten einen anderen Ton bekommen. Mit viel größerer Aufmerksamkeit als früher suchte sie sich über Haus und Menschen, über Nachbarn und Dorf klar zu werden. Der Hauptzug, der ihr auffiel, war der Zug nach dem Geld. Es war, als ob jemand giftigen Mehlstaub in die Luft gestreut hätte, der einem den Atem benahm. Ihr Staunen war nicht verwunderlich: der Bauer liebt das Geld nicht, geschweige denn, daß er es anbeten würde. Er achtet es, geht sparsam damit um wie mit einem starken Heilkraut, das man ab und zu für Gesundzwecke braucht; seine Blutsweisheit sagt ihm, daß im Geld ein dunkles Unheil schlummert, dem man sorgfältig aus dem Weg gehen muß.

Dann war die Krämerfamilie da. Die Krämerin arbeitete bei offener Stubentür im Laden und packte mit Hilfe ihrer halbwüchsigen Mädchen Kisten aus; während der Mann in seinem Lehnstuhl saß, seinen Krug Wein, seine drallgefüllte Schweinsblase, mit blauem Band gesäumt, vor sich, und seine Pfeife rauchte. Er war im Alter weit voraus, da ihm sein erstes Weib gestorben; ein guter Fünfziger, aber von vollkommener Rüstigkeit. Es schien schwer, wenn nicht unmöglich, ihm böse zu sein. Er war von einer seltenen 213 Liebenswürdigkeit; war's einer Dorfgröße gegenüber, die er mit Ernst und aufrichtiger Hochachtung grüßte, oder waren es Kinder, Krüppel und Narren, mit denen er sich in ein spaßhaftes Gespräch einließ, oder endlich die düsteren Gesichter der ausgehungerten, frierenden Straßenmusikanten, Landstreicher und Bettler, die er durch große Keile Hausbrot, warme Suppen, kindskopfgroße Speckknödel und reichlich gespendete Kupferkreuzer erhellte.

Er kritisierte alles, was an seinem Fenster vorüberging, zum Beispiel Gemeindeausschüsse, und jonglierte mit dem Worte »Ausschuß«, das zugleich den Abfall, das Minderwertige bedeutete. Er nannte die Sonntagsjäger Hasenschinder, die Austragmänner Lehenfresser, die Geistlichen Hokuspokus, aber letzteres immer so, als ob ein anderer sie so genannt hätte, und schloß gewöhnlich mit dem Satz: »Ist das aber ein langweiliges, gottverdammtes Saunest!« Wenn sich aber gar keine Neuigkeiten boten, sang er allerlei bäurische und städtische Lieder. Im Wohlgefühl seines siegreichen Krämerdaseins, als ein Mann, der die härteste Lebensschule hinter sich hatte, wie er sich ausdrückte, variierte er sein Lieblingslied in mehreren Melodien wohl ein dutzendmal.

»Zu Lauterbach hab ich
Mein Strumpf verlorn,
Strumpf verlorn;
Aber ohne Strumpf
Geh i nit hoam . . .«

Mein Gott, welche Vorstellungen hatte die Mena sich von ihrem Dienstgeber gemacht, zu einer Zeit, wo sie nicht mehr als sein Augenbild und den allgemeinen Ruf über ihn gekannt hatte. Es war zum Lachen! Wie aber nichts im Leben die allzugroße Nähe verträgt, und Verehrung und Bewunderung auf die Ferne berechnet sind, was schon mancher wirkliche König erfahren hat, so erging's auch dem Butterkönig. Sie sah ihn täglich in der allernächsten Nähe, besonders abends. Er rauchte seine Pfeife, trank seinen Tiroler Wein und war unerschöpflich in der Erzählung von Begebenheiten, die seine früheren Drangsale, im Vergleich von heute, illustrieren, den Neid aus dem Feld schlagen und beweisen sollten, daß er mit vollem Menschen- und Gottesrecht sich sein Leben schmecken 214 ließ. Er sprudelte vor Heiterkeit, seine Augen blitzten, er rückte seine Samtkappe bald über das eine, bald über das andere Ohr, und es war, als ob ein geheimnisvoller Hebel alle Lustschleusen des alternden Mannes noch einmal geöffnet hätte. Er schwelgte in Erinnerungen, rief, soweit dies anging, seine Frau als Zeugin auf, gab Aussprüche und kurze Reime von sich, die keinen weiteren Sinn hatten, als anzudeuten, daß sein Körper und seine Seele zur Stunde in einem Element irdischen Wohlseins dahinplätscherten. Er nahm die Passanten aufs Korn, vom Pfarrer angefangen bis zum Maler Peregrin und zum Staatsschuldenmann, über jeden wußte er Spöttisches, Kritisches, Boshaftes, und gegen die Einwendungen seiner Frau verteidigte er sich damit, daß, so wie er es mit den Leuten, diese es mit ihm machten, und ein Spaß, der niemandem schadete, keine Sünde sein konnte. Gewöhnlich machte er eine Handbewegung gegen die Mena hin und sagte: »Ich hab genug gearbeitet im Leben! Wenn die andern aufgestanden sind, hab ich schon gerastet!«

Er erzählte eine Reihe kleiner Erlebnisse, die dartun sollten, wie das Leben früher mit ihm umgesprungen, und wie er ein Anrecht hätte, sich seiner jetzigen Tage zu freuen. Diese Triumphstimmung leitete ihn auf seine Widersacher und Konkurrenten und wie er sie durch seine Schlauheit da und dort hineingelegt hatte. Über diese Streiche konnte er so lachen, daß es durchs Haus schallte, und bei den schüttelnden Bewegungen des starken Mannes war zu befürchten, der ächzende Lehnsessel ginge in Trümmer. Der Ausbruch dieser Lachkraft wirkte verschiedenartig: Die Mena lachte herzlich mit, während die Familie auch lachte, aber nicht so ganz froh und von innen heraus. Zwischen diesem fröhlichen Manne, der seine Lustigkeit zur Schau trug, wie andere ihre Leiden und Gebrechen, und seinen Angehörigen bestand eine Kluft. – Sie lieben sich nicht, dachte die Mena. Wie ist das nur? – Es war immer etwas wie ein Gewölk zwischen ihnen. Wenn er von drastischen Vergleichen und derben Witzen übersprudelte, erschien auf den Mienen der Frau und der Kinder ein sonderbarer Mißmut; eine Unfreude, als ob sie ihm diese Fröhlichkeit neideten; oder wenn schon dies nicht, so konnte man etwas Lauerndes gewahren, ein Versteckenspiel und Augenzwinkern. Die Ursache hiervon war zum Teil wohl die: Frau und Kinder wurden fast immer, als noch ganz und gar unfertige 215 Menschen, von allerlei Seelenläusen geplagt, während Lambert, durch seine vieljährigen, bitteren Erfahrungen, davon längst befreit war.

Eine dieser Seelenläuse, zum Exempel, die nicht nachgab und immer wieder biß und biß, war der Wunsch, daß das Haus herabgeputzt werden sollte. Im Augenblick aber, wo sie diesen Wunsch äußerten, verfinsterte sich Lamberts Miene. Er hatte sein Haus selbst gebaut. In der Nähe war ein Tuffsteinbruch, eine Gesteinsart, die man mit einer starken Säge in Würfel schneiden kann. Aber woher die Zeit nehmen? – Im Verfolg der Erkenntnis, daß der Arme, um vorwärts zu kommen, das Doppelte des Gewöhnlichen leisten müsse, begann er sein Tagwerk im Sommer schon um drei Uhr früh. Er schnitt in diesen Stunden die Bausteine zurecht und schaltete die erste Rast ein, wenn die Nachbarn ihre Läden aufstießen und sich den Schlaf aus den Augen rieben. Und so, ohne sich in Schulden zu stürzen, die er fürchtete wie höllisch Feuer, kam er zu einem der schönsten Häuser im Dorf. Aber die Außenseite hatte er roh gelassen; und dies war seiner Frau und den Kindern ein Dorn im Auge. Aber er blieb fest. »Außen hui, innen pfui!« sagte er. »Von einem schönen Haus kann man nichts abbeißen.« Und je mehr sie ihn drängten, desto mehr verweigerte er es. Vielleicht rief ihm der Anblick der rohen Hauswand die bösen Jahre ins Gedächtnis, wo er noch in einer alten Kaluppe gehaust hatte. Auch dazu wollte er Menas Zustimmung haben. Sie aber, klug, meinte, davon verstünde sie nichts. Sie wußte bereits, wie wichtig es unter den Menschen war, Beifall und Mißfallen sorgfältig abzuwägen, wie Safran; denn leicht gab man ein Quentchen zu viel, und schon hatte man ein Übel gestiftet, das oft lang nicht mehr zur Ruhe kam.

Was nun das Kind der Mena anbelangte, so besuchte sie es regelmäßig jeden Sonntag. Das Kind war nun freilich noch zu klein, um jene Liebesäußerungen von sich zu geben, die dem mütterlichen Herzen so wohl tun; doch gedieh es, und sie empfand eine reine Freude, wenn sie es auf ihrem Schoß hielt und ihm die Milchflasche leertrinken ließ. Das zartrosige Fleisch, die wundersame Lebensfrische, die Hilflosigkeit, die aus ihm sprach, und wiederum die strampelnde Lustigkeit, die drollige Nacktheit, die winzige Männlichkeit und die ewig greifenden Patschhändchen, die sich mit den eigenen Zehen spielten, reizten sie immer wieder, es zu tätscheln und 216 abzuschmatzen. Freilich, es blieb etwas Dunkles, ein Abstand: du bist eine Mutter und bist doch keine! sprach eine Stimme in ihr, und am Ende ging sie jedesmal traurig fort.

Was die Mannsbilder anbelangte, wollte sie nichts mehr von ihnen wissen. An den Toni dachte sie manchmal; aber daß er lauter solche Sachen machen mußte, die ihn ins übelste Gerede und ein Jahr in die Fronfeste brachten, war doch unbegreiflich.

Daß Lambert, der Herr, ihr heimlich den Hof machte, nahm sie als Spaß.

Am liebsten war ihr die Feldarbeit, besonders am Morgen, wo der Tau an den Gräsern funkelte, und sie, kaum bekleidet, mit ihrem braunweiß gefleckten Ochsen zum Eingrasen fuhr. Der Ochse war ein prächtiges Tier, und sie liebte ihn geradezu. Lambert hatte ihn kürzlich gekauft und ihn, war es nun Zufall oder Spitze, Toni getauft. Und so konnte sie, in einem fröhlichen Übermut, oftmals des Tags ausrufen: »Hüah, Toni, hüah!«

Nach alledem war es begreiflich, daß sie glaubte, ihr Leben würde nun immer schön im Gleichgewicht beharren und verfließen. Aber sie täuschte sich, wie der Mensch sich eben immer täuscht, weil er es liebt, von seinem kleinwinzigen Ich aus sich und die Welt zu betrachten. Alles Leben ist im Fluß, und so war's auch hier.

Gerade wie sie so fröhlich in ihrem neuen Element dahinlebte, kam eine Botschaft: die Soph sei krank. Es blieb ihr also nichts übrig, als am Sonntag loszumarschieren. Ein solcher Marsch, an einem schönen Sommertag, ganz allein, zwischen Wiesen und Feldern, vorbei an Höfen und Weilern, hatte stets zu ihrem besonderen Vergnügen gehört. Aber heute konnte die Freude nicht aufkommen. Sie bemerkte, daß hie und da in den offenen Tennen eine Gestalt sichtbar wurde, die mehr oder minder laut ihren Namen den andern erklärte: »Die Ellenhuber-Mena!« Das Weitere ergänzte sie sich selber – Magd beim Krämer Lambert. Hat ein lediges Kind. Niemand weiß, wer der Vater ist. Der Haginghofer-Lix oder der Schindertoni . . .

Als sie auf dem Hof des sehr weitschichtigen Vetters, wo die Soph seinerzeit untergebracht worden war, ankam, war alles wie ausgestorben. Auf der Hausbank davor saß mit einem getupften Kopftuch ein Weiblein in der warmen Sonne. Es hatte ein Gebetbuch 217 auf den Knien vor sich liegen und schien zu lesen oder zu schlafen. Plötzlich hob es den Kopf, und die Mena erschrak: es war das Totenweibl, ein Wesen, das ihr seit der Kindheit jedesmal, wenn es plötzlich aufgetaucht, einen Schrecken eingejagt hatte.

Es deutete jetzt auf ein Fenster, wo hinter Pelargonien und Nelken ein weißer Vorhang zugezogen war, und redete im Flüsterton. »Schon seit Wochen ist deine Schwester liegerhaft; ja, ja, und wird's wahrscheinlich nicht mehr lang machen. Der Tod hat sie schon gezeichnet!«

Der Mena war einen Augenblick, als ob sie ersticken müßte.

Aber das Totenweibl fuhr unbarmherzig fort: »Ist aber nicht das, was der Doktor sagt, die Auszehrung; ist auch nicht das, was der Bauer sagt, daß sie schon immer eine Friedhofpflanze gewesen, nein, nein – ist der Gram! – Den sie um jeden Preis hat haben wollen, der hat heimlich eine andere geheiratet! Der Gram greift den Grund im Menschen an und wär er auch härter wie Stahl und Stein. Er zermürbt ihn, er zerbröckelt ihn. Gesundheit und Krankheit wachsen aus dem inwendigen Kern, ja!«

Die Mena ging den Gang zurück und blieb unschlüssig stehen, bis plötzlich eine zerbrechliche Stimme rief: »Mena!« Jetzt stolperte sie hastig über die Schwelle. Sie stand in einer kleinen Kammer, und in einem reinlichen Bett lag die Schwester vor ihr, kalkweiß, mit eingefallenen Wangen. Da sie, von diesem Anblick wie gelähmt, kein Wort hervorbrachte, fuhr die dünne Stimme in einem singenden Tonfall fort: »Schwester Mena, grüß dich Gott! Komm her zu mir! – Schau, wie viele schöne Sachen ich bekommen hab.«

Der Mena war, als nun zwei magere Arme sich ihr entgegenstreckten, als ob der Tod selber sie umarmen wollte, und ein grenzenloses Mitleid erfüllte ihr Herz. Sie dachte: Es ist so, der Tod schaut ihr aus den Augen!

Aber die Kranke war voll Heiterkeit. Auf dem Tisch lag ein Album, ein Wachsstock, Kämme, mit Glasperlen verziert, und anderes mehr. Die Mena staunte alles gehörig an und fand nun auch den Mut, ihre Geschenke auszupacken. Damit, und mit lustigen Erinnerungen an die Kinderzeit, schien auch ein Teil jenes Glücks auf Ellenhub in die Schlafkammer der Kranken eingekehrt zu sein. Die Schwestern lachten über alles, und das Totenweibl steckte den Kopf zur Tür herein und schlug verwundert die Hände zusammen. 218

Die Soph fing an, zu phantasieren. Die Krankheit würde bald vorbei sein; sie habe heimlich eine Wallfahrt gelobt und freue sich schon unsinnig drauf. Die Bäuerin hätte bereits ein neues Kleid in Auftrag gegeben. Die Mena horchte lächelnd zu, streichelte ihr die Hand, gewahrte aber dabei mit unheimlicher Klarheit, daß die arme Soph bereits auf einer Reise begriffen war, wovon es keine Wiederkehr gab.

Wie sie endlich wieder ins Freie trat, marschierte sie schnell und schneller, mit fliegenden Röcken, als wollte sie möglichst viel Raum zwischen sich und den Ort bringen, wo sie eben geweilt hatte. Ein Apfelbaum mit schwellenden Früchten, der Wasserstrahl eines Brunnens, das Schlagen eines Finken und das Klingen eines Dengelhammers schienen ihr über alle Maßen köstlich und wunderbar. Die Lunge atmete in tiefen Zügen die Luft ein, und jeder Nerv und jede Faser schrien in ihr: Ich habe es nicht gewußt, was Leben heißt!

Als die Mena einige Wochen später mit dem Toni auf die Wiese fuhr und bereits alles so eingetroffen, wie sie es in ihrer Angst vorausgeahnt, wunderte sie sich, daß sie trotz alledem fröhlich ihrer Arbeit nachgehen konnte. Aber wie sie sich auch, in aufrichtiger Liebe zur Schwester, herabstimmen wollte, immer wieder sprang, angesichts der morgenfrischen Erde, die Lebenslust in ihr hoch: Was kann ich denn anders tun, als mich freuen, daß ich leb? fragte sie sich.

Dennoch hatte sich am Krankenbett der Unglücklichen ein Licht entzündet, eine Helligkeit, die ihr bisher unbekannt geblieben und die das Leben in einer ganz neuen Weise beleuchtete. Seit dieser Zeit dachte sie viel an alles Vergangene, von Eltern und alten Leuten Erzählte, und es gab Tage, da war sie so grüblerisch wie ein alter Spintisierer. Eine Art religiöser Schauer kam über sie, und sie ließ sich in jene Zustände von Freude und Leid zurückgleiten, die sie seit ihrer Kindheit erlebt hatte. Wenn dann, auf einem Hügel oberhalb des Pfarrhofs, Gries spazierte und das Brevier las oder die hagere Gestalt des Koadjutors auftauchte, der mit Jagdgewehr und Feldstecher durch die Flur pirschte, so dachte sie: Wenn ich nur einmal, so ganz als Mensch zu Mensch, den Pfarrer oder den Koadjutor fragen könnte! Die müßten doch Bescheid wissen. Der Pfarrer hat ein Zimmer, bis zur Decke hinauf mit Büchern ausstaffiert . . . aber wenn sie sich vornahm, bei Gelegenheit eine solche Frage an 219 einen der beiden zu richten, fühlte sie gleich, daß dies unmöglich war. Und wenn sie selber diesen Grillen nachhängen wollte, war der Buttertag hier, der sie ihr gründlich vertrieb.

Ja, am Buttertag, da gab's keinen Spaß. Die zweirädrigen Karren mit den gebogenen Hörnern rasselten die Bauernstraßen herab und bildeten neben dem Krämerhaus eine lange Reihe. Unter fröhlichen Grüßen und Scherzen half sie den Leuten ihre bunt bemalten, niederen Schaffel mit der Butter, die frisch aus dem weißen Linnen duftete, herausheben oder vom Kopf herabnehmen. Denn viele trugen die Schaffel auf dem Kopfriedl, einem runden Polster, der durch acht verschiedenfarbige Flecke in ebenso viele Dreiecke geteilt war, die in der Mitte ein Loch ließen.

Freude machte es ihr, wenn Bekannte darunter waren, Nachbarn von Ellenhub oder Haging, und am meisten, wenn sie dem großen Haginghofer selber das Butterschaff von seinem Dickschädel nahm. Denn auch er ließ nicht vom Brauch und trug wöchentlich zweimal eine Last süßer Butterstrutzen von seiner Höhe herab. Er nahm den Kopfriedl vom Kopf, warf ihn in das Schaffel und sagte: »Herrgott von Sachsen, heut macht es aber warm! Nun, Mena, wie geht's?« – Und sie lachte dazu. »Muß schon gut sein, wenn's nicht besser ist, Herr Vorstand«, sagte sie und beobachtete ihn heimlich. Er war dicker und schwammiger geworden; die Falten im Gesicht schlingerten, und seine Augen hatten einen wässerigen Glanz. Wenn er ging, blickte sie ihm nach. Er strebte, das leere Schaffel unterm Arm, in die Gemeindekanzlei, von da ins Armenhaus, wo es immer etwas zu schlichten gab, und dann zum Postwirt, zum Bürgertag, den er, seiner Frau gegenüber, nie anders als mit »Bettlertag« bezeichnete, wo er einige Speckwürste mit frisch angestochenem Bier begoß. Sie dachte: Bist auch ein Schalk! Und besonders glücklich bist du auch nicht, trotz deines Haufen Geldes . . .

Sie hatte keine Zeit und auch keinen Grund, länger bei ein und derselben Gestalt zu verweilen; es kamen immer neue, und es gab immer wieder Neues zu sehen und zu bedenken. Sie dachte, verknüpfte, studierte, wie der Ähnl ihr oft geraten, und versuchte, Menschenleben und Menschenschicksal zu begreifen.

Dies Menschenstudieren war bei den Ellenhubern, neben ihrer Bauernarbeit, stets eine Art Sonderpläsier gewesen, das ihnen viel Vergnügen und Belehrung verschafft, wenn auch nie einen roten 220 Heller eingebracht hatte. Im allgemeinen konnte sie feststellen, daß die Männer, wenn sie mit ihren Schaffeln durch die Toröffnung schritten, ernst waren, selten lachten; daß ihre Reden langsam und gehalten waren und auf ihren Gesichtern deutlich etwas Schweres, Beladenes lag; und daß fast alle, mit Ausnahme der ganz jungen, tief gefurchte Gesichter hatten, was ihr am Anfang so wunderlich erschien, daß sie nicht genug hinschauen konnte.

Die wackere Mena verstand sich schon ziemlich gut auf das Antlitz des Ackers draußen und seiner Furchen, war aber noch nicht alt genug, um schon zu wissen, daß noch ein ganz anderer Pflug seine Furchen zog, unablässig, Jahr für Jahr, auf dem Seelengrund der Männer, und zwar gleichmäßig dem der Armen wie der Reichen, Furchen, die in ihren Gesichtern scharf und klar zum Vorschein kamen; und sie war auch nicht alt genug, um zu wissen, daß der Mensch nichts anderes war und sein konnte als ein Acker Gottes. Die Weiberleute, auch die älteren und alten, hatten alle etwas kindlich Kindisches an sich. Sie trugen die Kopftücher keck aufgebunden; über den Stirnen quollen schwarze oder braune oder blonde Locken hervor, die sie sorgsam eingedreht oder mit dem Eisen gebrannt. Ihre Augen leuchteten, als wollten sie alle Dinge und alle Menschen in sich einsaugen.

Was den Lambert selber anbetraf, so lachte an diesem Tage sein wohlgenährtes Antlitz wie der Vollmond im Sommer. Er bat, zu den Kundschaften recht freundlich zu sein, sagte ihr Komplimente und tätschelte ihren Arm. Übrigens hatte sie sich diese Zeit über bereits so eingelebt, als ob sie zum Hause gehörte; und wenn, wie es beim Handel öfter vorkam, große Verluste eintraten und die ganze Familie in Bestürzung versetzten, litt sie mit ihr in aufrichtiger Teilnahme. 221

 


 << zurück weiter >>