Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Der Haginghof

Haging lag an der Grenze zweier Gemeinden, auf einem Hügelboden, mit schütteren Resten von jenen Wäldern, die einst das ganze Land bedeckt hatten; und zwar da, wo in diesem Waldkamm eine Lücke klaffte und der blaue Himmel und das Wiesengrün aneinanderstießen. Der Mena erschien die kleine Reise dahin als ein großes Erlebnis. Des Ähnls Worte klangen ihr im Ohr: »Ich hoff, daß du uns keine Schand machst!« Sie wandte sich noch einmal um, sah hoch oben den Giebel von Ellenhub und dachte: Der Bruder, der hat leicht lachen; aber ich muß dienen, wohl mein Leben lang.

Es kamen Weiler, die sie bisher nur flüchtig gesehen, Höfe, von denen sie kaum eine Ahnung gehabt, Täler, die schon einen fremdartigen Eindruck machten, und dieser Eindruck verstärkte sich mehr und mehr. Daheim war ihr jeder Baum, jeder Strauch und Stein bekannt; an Hügeln und Wäldern, Häusern und Menschen hafteten Ereignisse und Geschichten, im Guten wie im Bösen, alles war in einer wundersamen Weise belebt, aber diese Landschaft hier schien kalt und tot. – Wie nur die Menschen da leben können? fragte sie sich. Sie ahnte nicht, daß der Mensch sich überall Heimlichkeit und Wärme schafft, nach einem eigenen Lebensgesetz, das die Welt beherrscht, vom Königspalast bis zur armseligen Keusche. Mehrmals sah sie verstohlen zurück und bemerkte mit Schrecken, daß Ellenhub allmählich verschwand.

Ihr Blick hing jetzt mit einer feuchten Wärme an dem, was ihr davon noch vor Augen geblieben war, an dem Bräunl und an Achaz; aber von jenem sah sie nur den glänzenden Rücken, und der Achaz war, die Zügel um seine großen, klobigen Hände gewunden, eingeduselt.

Erst als der Bräunl vor einem Hofe stehenblieb und prustend seinen Kopf nach einem laufenden Brunnen hinstreckte, erwachte er. Die Mena sprang aus dem Wagen; sie meinte wohl, gottweißwas Besonderes es jetzt geben würde, aber es rührte sich nichts. Sie blickte etwas verlegen die lange Hoffront hinab. Sie hatte immer 64 geglaubt, Ellenhub, das wäre das Schönste und Größte, was es geben konnte, und nun sah sie dasselbige hier, aber viel größer und stattlicher. Ohne Frage befand sich alles auf den Feldern; nur eine Bruthenne mit einem dichten Häuflein dottergelber Kücken wimmelte über den Anger hin; und neben dem Hause war ein riesiger Mensch damit beschäftigt, einen Leiterwagen zu schmieren. Er hatte einen irdenen Topf neben sich stehen und strich mit einem Holzspan das Fett auf die glattpolierte Achse. Dann trieb er das Rad an; es burrte wie eine große Hummel, und vom Achsennagel fielen schwarze, glänzende Tropfen ins frischgrüne Gras. Ein Hütchen, unbestimmter Farbe, saß auf seinem mächtigen Kopf, als ob es der Wind hingeweht, und das Hütchen selber sah aus, als hätte es Jahre friedlich in einem Lumpenwinkel geschlummert. Und auf diesem sotanen Hütchen saß wiederum eine übermäßig große Geierfeder.

Dieser Mensch nun kam in seinen Holzschuhen herangeschlurft, sah bald auf das Fuhrwerk und Achaz, bald auf die Mena und strich seinen Schnurrbart, der gleich einem Flachsbuschen über die Mundwinkel herabhing. Auf seinem breiten Gesicht zeigte sich endlich ein Begreifen: »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte er, »ist das der Bräunl von Ellenhub? – Dann wärst du der Achaz? – Und du das Kleinmensch, das dieser Tag kommen soll?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wie es ja bei allen Großen gebräuchlich ist, marschierte er wieder zu seinem Wagen zurück, und die Mena sah ihm staunend nach. Da war einmal die Natur unversehens ins Riesenhafte gefahren. Es machte ganz den Eindruck, als könnte er den Braunen samt dem Rennwagerl in seine Arme nehmen und davontragen. Auch der Achaz schien ein ähnliches Gefühl zu haben, denn er flüsterte höchst respektvoll: »Das ist der Riesenhans; der trägt einen Metzensack Weizen mit der ausgestreckten Hand.«

Jetzt wurde auch das Haustor geöffnet und eine jüngere Weibsperson sichtbar. Es stellte sich heraus, daß es die Kleindirn auf Haging war. Sie bezeigte sich freundlich gegen die Mena. Sie wisse recht wohl, wie einem an so einem ersten Tag in der Fremde zumut wäre. Sie führte sie an ihre Bettstelle, die in ihrer eigenen Kammer stand, und redete ihr zu. Aber Menas Herz schlug unregelmäßig; sie ging wiederum schnell hinaus, in der Angst, den Achaz nicht mehr hier zu finden. Sie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, aber 65 da so etwas nicht anging, begnügte sie sich damit, dem Pferde ein paar Rohrzelten zu verfüttern, die sie im Körbchen mitgenommen, und dem Achaz einen Batzen in die Hand zu drücken. Der steckte das Geldstück unter Protest ein, wies auf die Aussicht hin, die man hier hätte, und schloß: »Also, Mena, ja nicht grübeln! Das ist schädlich! Mußt gleich fest in den sauern Apfel beißen. Bist jetzt auch ein armer Dienstbot wie ich. Mein Gott, ist gleich: hast keine Sorgen, tust deine Arbeit und legst dich ruhig schlafen. Und der Schlaf, Mena, ist das Schönste in der Welt! Viel schlafen, nur recht viel schlafen! Hüah!«

Die Mena aber hörte diesen gutgemeinten Rat kaum. Sie sah dem Bräunl und dem Achaz nach, und es wurde ihr hundsmiserabel ums Herz. Und so, ganz niedergedrückt, betrat sie die Stube und erschrak: etwas Kaltes und Ungewohntes wehte sie an.

Der Haginghofer saß am Tisch und hatte die eine Hand auf einem Schriftstück liegen, während er in der andern einen prächtigen, reich mit Silber beschlagenen Pfeifenkopf hielt. An seinen Fingern glänzten Ringe. Ihm gegenüber die Haginghoferin, in Samtmieder und buntem Halstuch, die Hände im Schoß. – Sind das jetzt Bilder? fuhr es der Mena durch den Sinn, oder lebendige Menschen? – So etwas Stattliches und Behäbiges gab es überhaupt auf der armen Waldseite nicht. Sie sagte schüchtern: »Grüß Gott!«

Die Bauersleute drehten sich herum und musterten sie eine Weile wortlos. Sie ließen vorläufig ihr Bild auf sich einwirken und schienen keineswegs bereit, irgendein Zeichen ihrer Zuneigung oder Abneigung zu geben. Aus eigener und überlieferter Erfahrung wußten sie, welche Folgen, im Guten wie im Bösen, jede, auch die scheinbar nebensächlichste Menschenverbindung bisweilen haben konnte. Endlich nickte der Bauer und sagte: »Ah, das ist wohl die Mena von Ellenhub? – Gut, gut! – Du bist von heut an auf meinem Hof Kleinmensch. Bekommst die Kost und jedes Jahr ein Paar Schuh, ein perkalenes Gewand, ein Wolltuch und Winterstrümpf.«

Die Mena errötete; sie spürte, daß in dieser Minute die Erbarmungslosigkeit des Lebens begann. Aber zugleich hatte sie eine Vision: die Eltern, wie sie sie oft daheim in der Stube sitzen gesehen, tauchten plötzlich wie ein Heiligenbild vor ihr auf, voll Wärme, Güte und Seligkeit, ein Bild, das niemals im Leben ganz verblassen und niemals ganz vergehen konnte. 66

Aber die Stimme des Haginghofers verscheuchte es jetzt: »So«, sagte er, »geh, zieh dein Arbeitsgwand an und greif zu!«

Wie die Mena gegen die Tür der Magdkammer zurückging, hatte sie einen leichten Schwindelanfall: der Zug von Kälte, den ihre neue Umgebung aushauchte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie konnte nicht wissen, daß, im Grund genommen, das Schicksal seit urewigen Zeiten jedem Menschen die gleichen Worte zurief: Geh, zieh dein Arbeitsgewand an und greif zu! und daß niemand von dem heiligen Gebot: Im Schweiß deines Angesichts sollst du dir dein Brot verdienen, ausgenommen sein konnte. Sie kleidete sich rasch um, ging vors Haus und sah mit einem suchenden Blick in die Landschaft hinaus. Und plötzlich strahlte etwas wie ein Licht in ihr auf. Sie dachte: die Blumen blühen, die Tauben gurren, der Brunnen läuft . . . der Mond und die Sterne werden wohl auch hier scheinen: es wird schon gehen, es wird schon gehen!

Später erklärte ihr die Kleindirn die Arbeiten, und abends ging sie mit ihr in die gemeinsame Schlafstätte.

Während sie sich entkleideten, fing die Kleindirn an, sie vertraulich auszufragen; über ihr Herkommen, ihre Familie und insbesondere über ihre Geschwister. – »Hast du auch Brüder? Wieviel? Und wie alt sind sie?« Die Mena war glücklich, reden zu können. Ihr Mundwerk ging wie eine Haspel; die Brüder waren Prachtkerle, und sie wußte wahre Wunderdinge von ihnen zu erzählen. Wenn sie die Namen Paul und Sylvester aussprach, machte sie ein ehrfürchtiges Gesicht, als wäre jeder von ihnen ein kleiner Herrgott. Wohl eine halbe Stunde schwärmte sie so, ganz glücklich, bis sie plötzlich innehielt und aufhorchte. Ein eigentümlicher Laut erfüllte mit der Regelmäßigkeit einer Maschine die Kammer: die Kleindirn schlief und schnarchte wie eine Brettersäge. Ihr breites, rotes Gesicht leuchtete aus dem Kissen, der wulstige Mund stand weit offen und ließ eine Reihe überstarker Zähne sehen.

Seltsame dunkle und schwere Gedanken gingen durch Menas Kopf. Ermüdet von den Eindrücken des Tages, horchte sie auf den Wind, der um den Hof fuhr, sah durchs Fenster nach der gelben Mondscheibe, die, genauso wie auf Ellenhub, groß und still am Nachthimmel stand, und nestelte endlich ein Amulett aus dem rupfenen Hemd. Die Mutter hatte es ihr bei der ersten heiligen Kommunion umgehängt. Es war viereckig, aus schwarzem Stoff, und 67 hatte in der Mitte eine runde Öffnung, wo eine abgeschliffene Silbermünze mit einer bekrönten Madonna eingenäht war. Sie fühlte wieder Drang zum Weinen, hielt das Amulett wie eine Hostie empor und betete leise: »Liebe tote Mutter, hilf mir in meinem schweren Lebenskampf, auf daß ich nicht erlahme und untergehe, sondern in Ehren bestehe, bis ich einstens mit dir vereint werde in der Ewigkeit. Amen.«

Am andern Tag hatte sie freilich keine Zeit mehr, sich mit Grübeln oder Beten zu beschäftigen, denn eine Arbeit folgte der andern; im Haus, in der Tenne, in den Stallungen, auf den Feldern, überall war man beschäftigt, wenn auch ohne jede Unruhe, geschweige denn Hast. Das Leben ging hier seinen Gang, wie eine alte, erprobte Wanduhr, und die Mena fühlte gleich, daß man sich hüten mußte, diesen Gang zu stören. Der Hof bildete eine Welt für sich, ein kleines, abgeschlossenes Reich, patriarchalisch regiert, wo sich alles, der Bauer und die Bäuerin, die Knechte und die Mägde, die Tauben auf dem Dach, die schwärmenden Bienenvölker, der Hofhund Tyras und die Hühnerschar, durchaus wohl zu fühlen schienen. Und dies angenehme Wohlgefühl nahm auch alsbald von der Mena Besitz. Am Werktag war es die Ordnung und die Arbeit; am Sonntag etwas ganz Besonderes, vielleicht in der mysteriösen Siebenzahl, vielleicht im Kirchgang und verdienter Müßigkeit begründet, das sie alle mit ein und derselben Gehobenheit durchströmte. Sie wuschen dann nicht nur mit einem beflissenen Eifer ihre Körper, die übrigens nur Reste von brauner Ackererde an sich trugen, legten farbige und vielfach seidene Gewänder an, sie schmückten auch ihre Seelen, und mit noch etwas Höherem und Schönerem, mit dem Allerhöchsten, das die Erde hat, mit Feierlichkeit und Gottesdienst.

Sie fing auch an, neben der Arbeit ihre Umgebung zu studieren; alles, was sie sah, umfing sie mit einem Blick voll Staunen und fröhlicher Bewunderung, wozu sich überraschenderweise ein Gefühl von Liebe gesellte; etwas ganz Neues in ihrem Leben, das ihr Herz mit einer Wärme erfüllte. Eins stand fest: diese Liebe wurde plötzlich geboren, sie rauschte in ihr auf wie ein starker Brunnen, der sich jäh den Weg ans Tageslicht bricht. Und es war begreiflich, daß sie sich später, im Wechsel der guten und bösen Tage, immer wieder, wie der Fisch ins Wasser, in dies Gefühlselement 68 zurückflüchtete. Es war wohl nichts anderes als die Urmutterliebe der Schöpfung selber, jene Liebe, mit der die Sonne ihre Kinder liebt, die Erde, und alles, was auf ihr lebt, Grashalm und Eidechse, Spatz und Lerche, Pferd und Mensch; denn die höchste Seligkeit besteht im Liebeschenken, nicht im Empfangen. Dies war ihr erstes Glück; ihr zweites das Beobachten und Kennenlernen der neuen Menschen. Dies würzte ihr die langweiligste Arbeit. Alles Leben war, wenigstens beim ersten Anblick, eine Art Wunder, durchaus rätselhaft und gespenstisch, bald zum Erschrecken, bald zum Lachen, bald zur Liebe, bald zur Abneigung, jetzt zum Zorn und dann zum Mitleid reizend.

Da waren vor allem die Haginghofer Eheleute: Sie erinnerten sie an zwei Heiligenfiguren, die immer daheim auf dem Kommodekasten in der Schönen Kammer gestanden. Jede in einem Glassturz, so daß man sich hatte vorsichtig in acht nehmen müssen, ja nicht anzustoßen. Genauso war es hier: sobald die beiden in der Nähe waren, ging alles gedämpft.

Weiter war die Großdirn, eine ältere Person, ziemlich wortkarg, aber sehr arbeitstüchtig: »Hebt euch, ihr Trümmer!« rief sie, wenn ihr die Sache nicht schnell genug vonstatten ging. Die Kleindirn erklärte: »Sie ist nicht so, wie sie tut. Sie dient nur mehr bis Lichtmeß, dann heiratet sie.« – Großdirn werden, dachte die Mena, das müßte das Höchste sein!

Kurios schien ihr ein steinalter Knecht, von der Gicht gekrümmt; wenn er durch die Küche hinkte, glich er einem alten Geier, der nach Futter sucht. Lustig dünkte es ihr, daß dieser Mensch zwei Spitznamen hatte, nämlich einen von den Dienstboten, die ihn »Vize« nannten, und einen, den ihm der Haginghofer selber gegeben, der, wenn er besonders guter Laune war, rief: »Wo steckt er denn, der ›Lanzenreiter‹?« Er behauptete, der Alte hätte in seiner Jugend bei den Ulanen gedient, und die gebückte Haltung, wenn sie mit eingelegten Lanzen gegen den Feind angesprengt, wäre ihm aus dieser Zeit geblieben. »Vize« war die Abkürzung für Vizevorstand; seine Wichtigtuerei, wenn der Haginghofer, der Bürgermeister war, außer Haus weilte, hatte ihm diesen Namen eingetragen.

Eine andere Gestalt erregte ihr Mitgefühl: ein Mensch mit einem unglaublich großen Kropf, allgemein »Kropf-Jodl« genannt, wobei es zweifelhaft blieb, ob die zweite Namenshälfte von dem heiligen 69 Jodok oder von der Fertigkeit seines Trägers im Jodeln herstammte. Wie sie sah, daß die Knechte ihn hänselten, nahm sie sich vor, ihm bei Gelegenheit etwas Gutes zu tun.

Dann war noch ein Knechtlein hier, das ein schlechtes Paar Pferde zu versorgen hatte. Es ließ betrübt den Kopf hängen, und wie es der Mena zum erstenmal nahe kam, sagte es mit jammernder Stimme: »So ein Leben! Traurig! Und es wird alleweil trauriger! Wird von Jahr zu Jahr schlechter! Ja, es ist der reinste Weltuntergang!«

Und um auch die allerletzten nicht zu vergessen: der Einlegerlenz, ein wackeliges Männlein, scharwenzelte beständig mit allerlei Schmeichelreden um Mena, so daß sie ihm ab und zu heimlich einen Brocken zusteckte.

Und das Wichtlweib, auch eine Einlegerin, das stets den Rosenkranz in der Hand hielt und der Mena im Flüsterton die unfehlbare Wirkung des Gebets empfahl.

Im übrigen ging das Leben auf dem Haginghof seinen Gang wie geölt, ausgenommen einen Rebell, der alle Woche einmal ganz unversehens losbrach. Gewöhnlich hörte man draußen fluchen und den Haginghofer schreien: »Verdammte Schindergeißen, verdammte Schinderbagasch!« Und nun erfuhr die Mena das Verhältnis, das zwischen Haging und der Schinderkeusche im Moor herrschte. Die Schindergeißen weideten ausschließlich im Klee des Haginghofers, auch verschwanden alle Jahre ein paar ihm gehöriger, besonders schöner Katzen, die von den Schinderischen aufgefressen wurden, wie er steif und fest behauptete. Wenn ich von den Schinderischen hör und von meinem Geld, da graust mir, sagte er oft.

Soweit wäre nun alles gut gewesen. Aber am ersten Samstag packte das Heimweh sie noch einmal mit der ganzen Gewalt. Der Unterschied war zu groß, wo sie doch die letzten Monate auf Ellenhub als »Mutter Mena« eine Art Mittelpunkt gewesen. Alles hatte gemeinsame Pläne für den morgigen Sonntag, nur sie blieb gänzlich unbeachtet. Sie war eben dabei, die letzte Samstagarbeit zu tun, nämlich das Vorhaus kehren. Überall war es still, nur die Fliegen summten und der Brunnen lief. Sie kam sich recht elend vor, seufzte einmal, zweimal, so laut, daß sie selber etwas erschrak, und noch mehr, als plötzlich im Rahmen der Stubentür die Bäuerin erschien. Sie sagte: »Ich werd dir wohl müssen seufzen helfen, was?« 70

Das arme Kleinmensch errötete. In diesem gedehnten: was? lag eine Welt voll Härte. Es besagte: Hier geht kein Weg, liebe Menschenkreatur! Auf das Mitleid darfst du dich niemals einstellen! Hier heißt es: Leistung gegen Leistung, friß, Vogel, oder stirb.

Gott sei Dank hatte dieser Vorfall keinerlei Zeugen. Sie nahm sich eine reine Schürze vor, klemmte ihre Holzschuhe, damit ja niemand sie hörte, unter die Achsel, und watschelte zu einem Schupfen hinüber, unter dessen überhängendem Dach ganze Berge frischgeschnittener Schindeln aufgezäunt waren. Hier konnte sie nicht leicht jemand finden. Das Auge übersah von dieser Stelle aus das Tal, Feld an Feld, Wiese an Wiese, bis in die tiefste Spalte hinab und jenseits wieder hinauf, Höfe und Weiler, und ab und zu ein schlanker Kirchturm mit funkelndem Kreuz. Sie ging, gleichsam im Traum, durch diese Abendlandschaft, ging auf Ellenhub zum Brunnen, redete mit Vater und Mutter, saß mit dem Ähnl und den Geschwistern um den Tisch; das Spielwerk spielte, ihre Köpfe lagen auf der Ahornplatte, sie hörte wieder jene Melodien, und sie preßten ihr die Tränen aus den Augen.

Sie weinte ziemlich ausgiebig, bis plötzlich ein Schatten auf sie fiel, so daß sie erschrak. Der Riesenhans stand vor ihr, und hinter ihm ein Häuflein halbwüchsiger Mädchen mit gereckten Köpfen. Der Hans redete: »Mena, tu nicht röhren! Das hilft dem Menschen nicht! – Hast wohl Heimweh? – Sei gescheit! Schau mich an! Ich hab niemals ein Heimatl gehabt, nie einen Vater, nie eine Mutter, bin auch stark und groß geworden! – Was? Oder bin ich vielleicht ein Knirps? – Mit acht Jahren hab ich angefangen zu dienen. Heut bin ich fünfzig! Das ist eine Tour! Bin mein Lebtag ein armer Knecht gewesen und werd es mein Lebtag bleiben. Und doch beklag ich mich nicht. – Und du, so eine junge, frische Dirn! – Komm, ich will dir was machen, woran du eine rechte Freud haben sollst!«

Die Mena wischte die Tränen umständlich mit der Schürze von der Wange und umstand mit den andern neugierig den Riesenhansen, wie er mit dem blanken Reifmesser die Späne von einer Stange zog. Keines wußte und erriet, was es eigentlich werden sollte. Um die Sache noch kurzweiliger zu machen, fing er an zu singen, mit einem tiefen Baß und halb geschlossenem Mund, so daß es klang, als ob von weither eine mächtige Maultrommel summte . . . 71

»Ein jeds Mandl hat sein Brandl,
Ein jeds Weibl hat sein Deibl
Und auch ich hab ohne Frag
Meine Grilln im Hosensack . . .«

Die dünnen Stimmen der Kinder kreischten; sie wiederholten die letzte Reime und jubelten noch mehr, als sie sahen, was für ein Gerät der gute Hans für die traurige Mena geschnitzt hatte: Stelzen. Und was für Stelzen! Doppelt so hoch als die gewöhnlichen. Von einem Schüpfelzaun aus hinaufgestiegen, konnte sie mit der Hand nach dem Hausdach greifen. Stelzen waren übrigens immer schon ihre Leidenschaft gewesen. Sie geriet daher in eine ganz übermütige Stimmung. Und da sie ungemein gelenkig war und ihr Geist gleichsam in allen Gliedern bis in ihre äußersten Spitzen gegenwärtig, zeigte sie wahre Kunststücke; stelzte hügelauf, hügelab, über Gruben und Stufen, zur Haustür hinan, durch die Küche, beim Tenntor heraus, und wiederum durch den Weiler. Der Riesenhans folgte, umjauchzt und umlacht von seiner Schar und begleitet vom Kopfschütteln der alten Leute, die aus den Fenstern blickten und sagten: »Da schau, der Menscherlnarr und das neue Dirndl auf Haging!« 72

 


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