Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Der Tambour Sindnochsiebendrin und die Spieldose

Es war jetzt auf Ellenhub eine Stimmung wie im Herbst, wo es bald finster wird und der Klaubauf umgeht. Und die Mena behauptete ernst und altklug, daß er wirklich umginge. Die jüngste Schwester, Brigei, die ein richtiges Plappermaul war, konnte sich nicht zurückhalten: »Ähnl«, sagte sie, »gibt es wirklich einen Klaubauf?« Und des Ähnls Miene erheiterte sich nicht wie sonst bei ähnlichen Fragen. »Müßt euch belügen«, sagte er ernst. »Es gibt einen, und er geht auch um. Tut euch hüten!«

Die Kinder erschraken. Sie empfanden den Klaubauf als ein nicht näher zu beschreibendes Ungeheuer, das im Dämmerdunkel mit seinen greifenden Klauen aufhub und erbarmungslos forttrug, mochte es ein Huhn, ein Lamm oder ein Kind in der Wiege sein. Nur der Paul meinte, solche Kindereien, wie die vom Klaubauf, hätten keinen Sinn. Und ist es nicht wunderlich: Gerade er sollte dasjenige von den Geschwistern sein, das vom Klaubauf am Kragen gefaßt wurde. Der Unterschied zwischen ehedem und heute war aber auch zu groß. Immer war früher den Kindern, wenn sie draußen gespielt und die Stimme des Vaters oder der Mutter gehört, zumut gewesen, als stünden sie vor einer anderen Art Himmelstür, und sie waren auch immer hineingestürzt, in einem Anlauf, vom Anger in die Tenne, durch die Küche in die Stube, zwischen Vaters Knie, und er hatte sie gestreichelt. Oder sie waren der Mutter in den Schoß gehüpft, selig, wiederum an dem Ort zu sein, von wo sie einmal hervorgegangen. Und sie stürzten sich auch jetzt tagsüber in die Stube, um dann in einer jähen Verzweiflung die Arme auf die Tischplatte zu werfen und das Gesicht drin zu bergen. Einer der Brüder aber rückte den Schuhnagler zurecht, der in einem schweren Eichenklotz stak, und fing an, Nägel zu recken, was für den Vater stets eine Lückenbüßerarbeit gewesen war. Alle fühlten, daß das Klingen dieses Hammers den Schimmer von etwas brachte, was in alle Ewigkeit nie mehr wiederkommen würde.

In der Ellenhuberischen Stube herrschte ein dumpfes 38 Herumhocken, wovor die Mena solche Angst hatte. Sie sann und spähte, ob ihr denn keine Abwechslung zu Hilfe käme, und da war sie schon. Es rollte draußen, und alle stürzten ans Fenster. Es rollte wiederum, und es fielen schwere Tropfen. Welch ein Schauspiel! Sechs Kindernasen drückten sich an den Fensterscheiben platt; denn die Mena selber beschäftigte sich natürlich schon immer wie eine Große, und Paul wie ein Großer; er übte sich im Räuspern, Ranzen, Pfeiferauchen und blickte mit sichtlicher Verachtung auf die kindischen Geschwister.

Diesen schien das, was sich draußen begab, eine Zauberei. Wo eben noch Sonnenschein, Gräser, bunte Steine und Bäume sich gezeigt, wallte ein Regenvorhang herab, als ob der Himmel ein Sieb wäre, und das Wasser verrichtete, glucksend und plätschernd, die wunderlichsten Dinge. Von jedem Blatt fielen die Tropfen wie nach dem Ticken einer Wanduhr, von der Dachrinne schoß der Strahl und zerplatzte auf einem Stein, um dann über den grünen Anger so eilig davonzustürzen, als müßte er heute noch bis ans Ende der Welt laufen. Vögel saßen, die Flügel ausgebreitet, und schüttelten ab und zu einen tüchtigen Guß aus den Federn, und ein vollständiger Bach lief die Straße herab. Auch wurde es so empfindlich kalt, daß die Soph einen Schüttelfrost bekam und auch die andern mit den Zähnen klapperten, sei es, daß sie wirklich froren oder nur zum Schein so taten. Der Mena blieb nichts übrig, als ihnen den Willen zu tun und einzuheizen. Das war ein Jubel. Das prasselnde Feuer verbreitete ein Gefühl des Geschütztseins und der Behaglichkeit, so köstlich wie ein Trunk frischen Quellwassers an einem glutheißen Augusttag, wie ein Fleckchen Schatten, so groß wie ein Tisch, nach einer stundenlangen Sonnenwanderung.

Aber der Regen verrauschte. Paul ging die Felder anschauen, ob sie Schaden gelitten, und die Mena war wiederum mit den Geschwistern allein, gerade in der Stunde, wo der Vater seine Pfeife geraucht, die Mutter gesponnen und stets fühlbar ein Traumgeheimnis durch die Stube geschwebt hatte. Einige Zeit half sie sich mit dem daumenlangen Hansel, einem vergilbten Büchlein, das mit einem Halbdutzend ähnlichen Erzeugnissen schon immer auf dem dreieckigen Brett der Herrgottsecke gelegen hatte. Das farbige Bild auf dem Umschlag zeigte den Hansel, wie er gerade einem Wandergesellen, der unter einer Eiche schlief, ein Stück Brot aus seiner 39 Ledertasche stibitzte. Menas Lesen war, bei ihrem mangelhaften Schulbesuch, nur ein unbeholfenes Buchstabieren, und dennoch brachte der Hans sie alle ins herzlichste Lachen.

Sie flunkerten darüber eben noch dies und jenes, als sie über die Marmorfliesen des Vorhauses etwas Eisernes stapfen hörten. Ein untersetzter Mensch mit einem Holzfuß trat ein. Er hatte korbähnliche Geflechte am Arm hängen und sagte: »Grüß Gott! Die Futterzistel da hat euer Vater selig noch bei mir bestellt!«

Die Mena nahm die Sachen ab, zahlte und stellte einen Trunk Most auf den Tisch. »Die Birnen vom Birnbaum hinterm Haus«, sagte sie, »sind voriges Jahr so gut geraten, daß wir gleich drei Fässer Most bekommen haben.«

Der Mann trank, sein hölzernes Bein unnatürlich weit vorgestreckt, und die Kinder hielten ihre Augen gespannt auf ihn gerichtet. Solche Spannung war begreiflich, da es oft schien, besonders in Herbst- und Winterszeiten, als ob der Hof allein auf der Erde stünde; daher dann jeder Mensch, jeder Handwerksbursch und zerlumpte Bettler, mit einer wahren Freude begrüßt wurde. Die Brüder betasteten das gelbe Weidengeflecht, so eisenfest ineinandergeschlungen, daß sie sich nicht genug wundern konnten; dann tuschelten sie miteinander, bis endlich einer zu betteln anhub: »Geh, erzähl uns doch ein wenig, wie die Sache hergegangen ist, damals, in der Festung Komorn!«, und sofort fielen alle ein: »Ja, ja, erzähl uns! Bitt schön!«

Der Korbflechter hob seine Pfeife in die Höhe, damit alle sie gut sehen konnten, und sagte: »Das ist derselbige Pfeifenkopf, den hab ich damals schon geraucht, wie wir vor der Festung Komorn gelegen sind. Ja, Buben, das war eine Zeit! – Wie unser Regiment vor der Festung gelegen ist, kommt es eines Tages zum Stürmen. Hornem! Sturmstreich! Fällt das Bajonett! Ich, als Patrouilleführer, saus mit sieben Mann in ein Bauernhaus. Aber kaum machen wir es uns bequem, sind die Husaren da. Kreuzteufel noch einmal: wo sollen wir hin? Jetzt ist guter Rat teuer. Kurz resolviert, kriechen wir in den Backofen. Freilich, wir müssen uns klein machen, aber es geht. Wir denken, wenn die roten Teufel nichts finden, werden sie wohl wieder abziehen. Doch weit gefehlt! Sie satteln ab, füttern die Pferd, schleppen aus Keller und Küch herbei, was Platz hat; essen, trinken und singen, treiben die Hausmägde hin und her, werfen endlich 40 Holzscheiter vor den Herd und wollen – Brot backen! Sie stoßen die eiserne Tür auf, und da ich der letzte beim Hineinkriechen gewesen, kriech ich jetzt als der erste heraus, über und über voll Mehlstaub, und schrei: »Pane Husar, pardon! Sind noch sieben drin!«

Kaum fallen diese Worte, bricht lawinenartig ein höllisches Gelächter los, besonders bei den Buben, sie kugeln sich von den Bänken auf den Boden und tun ganz, als ob sie verrückt geworden wären. Der Holzfuß lacht mäßig mit; sein eisgrauer Schnurrbart sträubt sich wie Borsten zu beiden Seiten seines Mundes.

Seine Geschichte war ja im Grunde verdammt ernst, und es war ihm auch nicht klar, warum die Perchten so unmäßig lachten; er schrieb es der allgemeinen Kindischheit ihrer Jugend zu. Mitten im Gelächter stapfte er hinaus; es ist immer gut, in dem Augenblick abzubrechen, wo man dem Mitmenschen ein volles Vergnügen bereitet hat. Er mußte zusehen, wo er seine übrigen Futterzisteln an den Mann bringen konnte.

Die Augen der Ellenhuber Buben leuchteten. Ja, der Sindnochsiebendrin, das war ein Held für sie! Tambour bei den Veteranen, und wie er die Trommel an Festtagen schlug! In neun Pfarreien war kein solcher Trommler zu finden! – Sie schwätzten durcheinander, schauten im Geiste die gespenstische Festung Komorn, das Bauernhaus, die Backofentür; sie hörten die Herzschläge der tapferen Sieben pochen, sahen die Säbel der Husaren blinken und vernahmen den Ruf: Pardon! Sie zitterten dabei; wenn der Sindnochsiebendrin sein Pardon nur um eine Sekunde zu spät gerufen, wären sie alle verloren gewesen.

Plötzlich, wie mit einem Schlag, verstummten sie: von der Tenne her kam eine präludierende Stimme.

»Fiktum, faktum,
Spricht der weise König Salomon . . .«

Der Ähnl sang jenes Fiktum-Faktum-Lied, das er von einem großen Zauberer gelernt, damals, wie er als junger Soldat in der Kaiserstadt Wien gewesen war. Ihr Vergnügen erreichte seinen Höhepunkt, als der Ähnl in der Stube seinen Gesang fortsetzte, indem er einen aus ihnen am Haarschopf faßte: 41

»Sei gescheit, mein Sohn, und mach es so,
Spricht der weise König Salomo . . .«

Und wiederum, indem er einen andern beutelte:

»Sei flink, mein Sohn, und fang den Floh,
Spricht der weise König Salomo . . .«

Sie schlugen vor Übermut Purzelbäume über den mit Hopfensäcken belegten Fußboden hin. Sie lachten wie närrisch und sangen im Chor:

»Sei flink, mein Sohn, und fang den Floh,
Spricht der weise König Salomo . . .«

Der Ähnl hatte seine gute Stunde, die man bekanntlich nicht selbst herbeirufen, sondern als ein Geschenk vom Himmel erwarten muß. Die eigentliche Ursache seiner Fröhlichkeit war jedoch nicht schwer zu erforschen. Was ihn bewogen hatte, sich des alten Ölstocks so warm anzunehmen, war die Gleichheit des Schicksals, also die Gleichheit der Interessen, was ja einzig und allein Dinge und Menschen untereinander verbindet. Auch ihn hatte man schon seit Jahren in den Winkel gestellt, ihn nicht mehr gebraucht, nur die Kinder hatten ihn öfters besucht, wohl weil er sich in ihren glanzfrischen Augen als eine Rarität, als eine Art Erdenwunder abspiegelte. Und jetzt hatten sie ihn aus seiner Spinnwebenecke wieder hervorgeholt! Jetzt war er wieder jemand, wieder der, um den sich alles drehte: Haus und Hof, Knechte und Mägde, fünfzig Joch Grund, zwanzig Stück Vieh und neun Waisenkinder – obgleich er fühlte, daß er nur mehr eine morsche Achse war, die bald ganz zerbrechen würde. Und wohl gerade darum, weil die Sache so überaus schwer aussah und auch wirklich war, rauchte in dem alten, schon ziemlich müden Herzen eine letzte Lebensglut auf. Der Ähnl war also, obgleich kein Feiertag, in einer durchaus feiertäglichen Stimmung. Er trug seine beste, blauwollene Joppe, an den Ellenbögen mit herzförmigen Flecken benäht, und rauchte seine silberbeschlagene Pfeife. Er blieb in der Stubenmitte stehen und ließ einen langen, festen, umfangenden Blick über die Schar der Kinder 42 gleiten. War es nun die Erkenntnis, daß der Mensch, ein verwehendes Blatt im Winde, die Fröhlichkeit suchen muß, wo immer es nur angeht, oder die Freude, daß Ellenhub trotz des fürchterlichen Schlages, der es getroffen, vielfach weiterzweigte und blühte, kurz, mochte es was immer sein, er nahm den Kleinsten, Jörgei gerufen, dessen Haar so weiß war wie das eines Greises, auf seinen Arm, stampfte mit den Stiefeln im Takt und sang seinem Enkel leise brummend ins Ohr:

»Ich sag dir was:
Der Fuchs ist kein Has,
Der Has ist kein Fuchs,
Und du – bist nichts nutz . . .«

Bei Beginn der letzten Verszeile fing er an, den Buben mit steifen, bockbeinigen Fingern zu kitzeln, und dieser lachte so toll, daß er aus seiner Umarmung herab und über den Stubenboden hin bis zum Ofen kollerte. Die Geschwister lachten mit und wollten die seltene Stimmung benützen, um ihre Fechsung unters Dach, das heißt in ihre Hosen- und Kittelsäcke zu bringen. Sie riefen: »Ähnl, mach den Gotteskasten auf!«

»Was ist das für ein Himmelsgetümmel?« Der Ähnl versuchte, sich dieses unerwarteten Überfalls dadurch zu erwehren, daß er sich bös stellte, was ihm aber nicht recht gelang. Jetzt ließ er vor allem ein paar Sprüche los, wie sie ihm eben einfielen und ohne die es der Biblische Bauer nun einmal nicht tat. »Ein weiser Sohn erfreut den Vater. Ein törichter Sohn ist der Kummer der Mutter. Nichts nützen ungerechte Schätze; aber Gerechtigkeit rettet vom Tode.«

Damit sperrte er den Gotteskasten auf, eine bunt bemalte Truhe mit einem übermäßig großen Hängeschloß. Die Geschwister hüpften um sie herum und hielten sich dabei selber die vorlauten Münder zu, in der Angst, die Freude könnte durch ihren Krawall zu Wasser werden, wie es schon vorgekommen war. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen, um den köstlichen Inhalt näher begucken zu können. Die Fächer enthielten gedörrte Zwetschgen, mit einer weißlichen Zuckerschicht überzogen, Klötzen, braun und glänzend, mit seltsam tiefen Falten und Buckeln, Apfelsinen, schmächtig und unscheinbar, aber voll Süßigkeit des vergangenen Sommers. 43

»Jedem eine Handvoll!« kommandierte der Ähnl. Das ging in Ordnung. Aber Jörgei und Brigei, die beiden Kleinsten, hatten es schnell heraus, daß sie bei diesem Maß schlecht abschnitten, sie protestierten und bekamen richtig eine Draufgabe.

Kaum waren sie alle fertig, hob ein neues Betteln an: »Ähnl, laß das Werkl spielen!« Und wirklich kam er auch diesem Wunsch nach.

Er schloß das Wandkastl auf, hob sorgsam ein braunpoliertes Kästchen heraus und stellte es auf den Tisch. Dann steckte er einen großen, messingenen Schlüssel an und drehte bedächtig um, Zug um Zug, als ob er eine kleine Himmelsorgel aufzöge. Endlich fing er eine grünseidene Schnur hervor und legte sie unter den Fuß der Spieldose.

Die Geschwister saßen freudig um den Tisch, nur die Mena war etwas stutzig, nämlich über den Umstand, daß der Ähnl so willig alle ihre Wünsche erfüllte. Sie beobachtete ihn verstohlen: Er hatte heute bestimmt etwas Unheimliches an sich. Freilich, ganz heimlich war er ihnen nie. Gewöhnlich kam es ihnen vor, als ob ein unsichtbarer Nebelvorhang sie von ihm trennte oder als ob sein Körper zwar unter ihnen weilte, sein Geist aber bereits in einer anderen Welt wäre. Sie sprachen ihn auch mit »Ihr« an, und der Unterschied zwischen dem Wörtlein »Du« und »Ihr« schien einen Zauber in sich zu bergen und barg ihn auch tatsächlich. Im stillen Bewußtsein dieses Zaubers legten sie solch kleinen Dingen Wert bei und befürchteten, wenn man sie außer acht ließe, daß danach auch bald alle Sorgfalt für die großen verlorenginge, gemäß dem Spruch: Laßt den Teufel in die Kirch, und er will auf den Altar. Des Ähnls Hände glichen Baumwurzeln, braun und fleischlos, mit Schrammen und Schrunden bedeckt, und von jedem dieser Male wußte er eine eindrucksvolle Geschichte. Dieses hatte ihm ein Dorn gerissen, jenes ein Bajonettstich in der Lombardei hinterlassen; diese Furche hat ein Messer bei einer Rauferei gezogen, was er aber nur andeutungsweise wiedergab, dafür hob er um so ausführlicher das Schicksal seines gekrümmten Zeigefingers an der linken Hand hervor. »Das ist mein allerliebster Finger«, sagte er, »der hat mich für immer vor aller Ungeduld und Zaslerei befreit. Ich hab einmal an einem eichenen Zwiesel geschnitzt, bin abgerutscht und hab die Sehne durchschnitten. Das hat viel Schmerzen gekostet, und sogar Angst ums 44 Leben. Es ist eine Blutvergiftung dazugekommen. Aber gerade so ist mir mein Fingerkrüppel zu einem wahren Geschenk Gottes geworden.«

Die Kinder betrachteten mit höchstem Interesse das Geschenk Gottes und konnten sich eines leichten Schauers nicht erwehren: Was waren Schmerz und Angst um das Leben? – Aber dann fielen ihre Blicke wieder auf die Spieldose, und sie riefen: »Laß sie spielen, Ähnl!«

Er verwies ihnen die Ungeduld. »In euch steckt doch ein wahrer Satan!« sagte er und hatte wirklich nicht so unrecht, daß er in allem Schnellen und Überhasteten etwas wie eine Teufelei sah. Er fing an zu erzählen, woher das Spielwerk stammte und welch eigenes Schicksal es gehabt hatte. – Hab es von meinem Vater geerbt, das war ein tüchtiger Mann! – Weit und breit haben ihn die Leut gekannt und geschätzt, und sind gekommen und haben ihn um Rat gefragt.

Der Ähnl hatte eine sonderbare Art, zu erzählen, vielleicht von seinen Vorfahren übernommen; ruhig, breit und gelassen, unter eindrucksvollen Gesten seiner großen Arbeitshände beschrieb er Menschen, Höfe, ja ganze Geschlechter, sprang aber plötzlich, wenn die Kinder vor Neugier fieberten, von der Fabel ab und redete von anderen Dingen, die scheinbar mit seiner Geschichte nicht das geringste zu tun hatten, oder hing ihnen, wie ernsthaft, ja furchtbar sich auch etwa die Ereignisse gestalten mochten, irgendein Narrenschwänzlein an, drei Dinge ausgenommen: der Herrgott, der Kaiser und – Ellenhub, die ihm heilig waren. Eine weitere Eigentümlichkeit bei seinem Erzählen war, daß die Kinder ruhig alles mit anhören konnten, was für die Großen bestimmt war, und daß aber auch die Großen Gefallen fanden an den Geschichten, die er den Kindern erzählte, wobei sie sich das Verschwiegene in den Atempausen leicht selber ergänzten.

»Das rotbraune Kastl da ist aus Ahorn. Ein seltener Baum! Die Tannen und die Fichten, und selbst die Buchen, und gar das tausenderlei kleine Buschzeug, das ist doch wahrhaftig kaum der Müh wert, daß man den Kopf danach dreht. Aber ein Ahorn, das ist was anderes! Was kann man nicht alles aus einem Ahorn machen? – Löffel, Teller, fein maseriert, Palester, Klappern, besonders hell klingende, oder auch eine Tischplatte wie die da. Der Ahorn, von 45 dem sie stammt, ist da unten auf dem schmalen Spitz gestanden, wo die Nachbarwiese in unser Kornfeld drückt. Und weil ich den Baum hab seit meiner Kindheit vor mir stehen sehen, hab ich ihn so gern gehabt, als ob er ein lebendiger Mensch gewesen wär. Hab mir Ellenhub ohne ihn gar nicht denken können! Aber wie ich den Hof hab übernehmen und die Geschwister hinauszahlen müssen, ist es mir hart gegangen. Und grad um die Zeit kommt ein Holzhändler vorbei. ›Der Ahorn ist kernfaul‹, sagt er. Denk ich mir, kann ja sein. Na, das Holz für die Tischplatte hab ich mir austragen.«

»War er wirklich kernfaul?« fragten die Buben.

Der Ähnl runzelte die Stirn. »Freilich war er kernfaul, nämlich der Holzhändler! Ich hab mein Lebtag keinen so schönen Baum mehr gesehen, und ihr werdet auch keinen mehr sehen.« Er zog mit einer bedächtigen Bewegung die grüne Schnur straff.

Das Brigei, die kleinste und schußligste von den Geschwistern, schoß, um ja keinen Ton zu versäumen, zum Tisch und stieß sich hierbei den Kopf dermaßen an, daß sie mit einem Wehschrei zurückprallte. Zuletzt, wenn eine Sache nach langem Harren in Erfüllung geht, ergibt sich bekanntlich immer ein Hindernis. Solch böse Ecken gibt es viele in der Welt, und kein Gelehrter oder Erfinder kann sie abschaffen. Die Geschwister saßen versteinert. Es bestand die Möglichkeit, und die Sache hatte sich schon einmal ereignet, daß der Ähnl aufstand, das Werkel in den Wandkasten zurücktrug und schweigend davonging. Wirklich klappte er, mit einem furchtbaren Blick auf die Sünderin, den Deckel der Spieldose zu und sagte: »Du Laster, du! Renn dich tot, wird's dir vom Sterben abgerechnet!«

Die Mena nahm das große Brotmesser aus der Tischlade und preßte die Klinge auf die zwetschgenblau schimmernde Beule. Das quecksilberne Brigei rührte sich nicht; in ihrem Hinterkopf liefen tausend Ameisen, ein unbeschreibliches Gefühl, und war es nicht die Wirkung des Stahls, war es wohl dies Gefühl, das den Schmerz und sogar die Beule wie durch ein Wunder verschwinden ließ. Indessen besänftigte sich auch der Ähnl; freilich nicht, ohne eine seiner schulmeisterlichen Mahnpredigten loszulassen, des beiläufigen Inhalts, daß man nirgends mehr Vorsicht gebrauchen müßte, als in der Begier zur Freude, daß mancher sich schon eine Beule gestoßen, der allzu schnell ans Ziel gewollt. »Wer gelassen ist, ist größer 46 als ein Kriegsheld, und wer seine Leidenschaft zu beherrschen weiß, ist größer als ein Stadtoberer, spricht der König Salomo.«

Die Kinder atmeten auf. Wenn der Ähnl anfing, zu belehren, war sein Zorn schon ziemlich verraucht. Er hob den Deckel des Kästchens und sagte bedeutungsvoll: »Sechsunddreißig Stück spielt es. Und jetzt legt die Köpf auf den Tisch!«

Sieben Blond- und Braunschädel legten das Ohr auf die glattgescheuerte Ahornplatte; sogar die Mena tat noch mit, nur der achte, der Paul-Kopf, sah auch diesmal mit ironischer Miene auf die Kinderei, der er seinerseits natürlich längst entwachsen war. Das kühle Holz sandte eigentümliche Ströme aus; auch hatte es eine Resonanz, die alle Töne in einer besonderen Weise verwandelte und verstärkte. Was da in ihre jungen Ohren drang, nichts Großartigeres war je in ihrem Leben erdacht worden. In wundervoller Schönheit und Reinheit quoll es aus dem kernfaulen Ahorn, bald wie Orgelspiel, bald wie Glockenklang; sie hörten Äolsharfen und Kuhglockengeläut, das Pfeifen des Spottvogels, den Gesang der Nachtigall, sahen weiße und goldgelbe Blumen auf dem Anger blühen, Vergißmeinnicht, Schlüsselblumen und Filifa. Und plötzlich wieder war es, als ob Trommeln wirbelten, Hörner gellten, kriegerische Kolonnen marschierten und tausend apokalyptische Reiter über die Erde sprengten. Vielleicht hatte der einsame, hundertjährige Baum auf seiner grünen Insel alle Töne und Stimmungen der Erde, der Lüfte und des Himmels in sich eingesogen, den Sonnenschein des Frühlings, das Säuseln des Maiwindes, das Gemurmel der Quellen, das Tirilieren der Lerchen, den Klang der Vesperglocken, die Lieder der Mägde, wenn sie abends von den Feldern heimzogen; das Rollen des Donners, das Sturmgebraus des Herbstes und das Krachen der Wälder im Januarius. Er ließ die Ellenhuber Kinder ahnen, welch einen Reichtum das Leben in sich barg; sie spürten, gleichsam mit heiligem Jauchzen und Weinen, seine Wunder schon im voraus und glaubten unter ehrfürchtigem Schauern an die Worte des Ähnls: »Wenn schon in einem winzigen Werkel, wie das hier, eine so herrliche Zauberei verborgen liegt, was für eine Zauberei muß nicht in dem großen Spielwerk liegen, in der Welt, in der Orgel Gottes, wie sie unser Herr Pfarrer einmal in seiner Predigt genannt hat.«

Jetzt wollten sie in das Kästchen selber gucken. Die Köpfe stießen dabei so nah aneinander, daß sich ein Haarwald um das Deckelglas 47 bildete, das mit einer papierenen Goldborte eingerahmt war. Man sah eine messingene Walze, auf ihrer glänzenden Rundung unzählbare Eisenstiftchen, an der Längsseite eine Metallplatte, die haarfeine Einschnitte, abgestuft, vom längsten bis zum kürzesten, zeigte, und weiterhin Rädchen, Spindeln und Walzen. Und während sie so in das spielende Rätselwerk sahen, sah der Ähnl seinerseits auf den Kranz der büscheligen Bubenhaare und geglätteten Mädchenscheitel in allen Farben, vom hellsten Weizenblond bis zum tiefsten Kastanienbraun, ja fast bis zum Schwarz, welche Spielarten ihm ein heiteres Lächeln abzwangen. Es war ähnlich jenem Lächeln, das uns überkommt, wenn die Sonne an einem düsteren Wintertag einen Augenblick aus den Wolken hervortritt, ihre Strahlen über die eisgrauen Furchen und Falten der Erde fallen läßt und in uns die Erinnerung an Lenzschönheit und Herrlichkeit wachruft. So stieg in ihm jene Zeit herauf, wo er das Fuhrwesen betrieben, bis Triest und Venedig, in einem Weinkeller eine bildschöne Italienerin kennengelernt und als Weib heimgeführt hatte.

Aber aus dieser Vision erwachte er schnell. Sein Gesicht veränderte sich; die Kinderköpfe mußten zurück, und der Deckel des Spielwerks wurde zugeklappt. »Wenn ich einmal gestorben bin«, sagte er, »gehört die Spieldose euch Geschwistern; aber die Mena, als die Klügste, soll sie aufbewahren.«

Das allgemeine Murren konnte ihn nicht umstimmen. Nur einen kleinen Trost gab er ihnen: »Das nächste Mal, wenn ihr brav seid, wollen wir Gigerlelelaufen.«

Gigerlelelaufen? – Die Mena sollte ihnen näheren Bescheid geben, aber sie lächelte nur und schwieg. Sie wußte bereits, wie es sich mit diesem Gigerlelelaufen verhielt, nämlich so wie mit den meisten Dingen der Welt, die man mit größter Freude erwartet, um dann gründlich enttäuscht zu werden. 48

 


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