Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Die große Glocke muß einrücken

Das Dorf hatte sich inzwischen wieder beruhigt und war in jene Art von Wachtraum zurückgesunken, den es seit einigen Jahrhunderten träumte. Die Häuser mögen noch geringer an Zahl, die Hütten noch elender gewesen sein, die Sümpfe breiter, aber sicher hat es schon damals geträumt, als die Römer im Zirkus Maximus den Gladiatoren zujauchzten, Horaz sein Exegi monumentum dichtete und im Heiligen Lande der Gottmensch über die Höhen von Nazareth schritt. Manches große Babel, das zweiundzwanzig Stunden im Umkreis maß, versank indessen spurlos; aber diese kleine Welt, wenn auch zu Zeiten tüchtig geschüttelt und gerüttelt, überdauerte alle Stürme. Zuweilen tat sie, als wollte sie aufwachen, wenn die Legionen Cäsars durchmarschierten, die Ruler und Heruler, die Markomannen und Quaden, die Kreuzritter, die Landsknechte Frundsbergs, Wallensteins Reiter, die bärenmützigen Grenadiere Napoleons, die Heere der Habsburger mit dem wehenden Doppeladler. Das Weibervolk war dann außer sich gekommen über die vielen prächtigen Kerle, die es auf der Welt gab, und hatte seinem Ärger, sorgsam in Mitleid gewickelt, unverhohlen Ausdruck gegeben, daß man hier die Männer zu etwas anderem als zu ihren Zwecken gebrauchte. Der Strom des Lebens hatte stets weit abseits vorübergerauscht. Aber dies war kein Unglück; denn alles, was ein Menschenherz fühlen und erleben kann, hatten sie hier gefühlt und erlebt; und vielleicht eindrucksvoller als draußen in der großen Welt. Gewaltsame Störungen waren hier kaum eingetreten oder hatten nur Stunden gedauert, weil das Göttliche groß, das Menschliche aber stets klein gewesen war. Selbst das italienische Kriegstheater hatte sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen können; denn das Unerläßlichste war ihnen geblieben; die große Stille, der blaue Himmel, die Ziehwolken, der Mond und die Sterne; die schweren Nelken und zitternden Levkojen in den Fenstern, die Tulpen und Georginen in den Hausgärten; die Beete voll duftender Gewürze, Petersilie, Zeller, Rosmarin und Majoran. Diese Gewürze und 286 Blumen liebten und hegten sie von Kindheit an, wohl um ihre Tage farbig zu machen und zu würzen. Sie spürten, daß hier die Quelle alles Lebens und aller Schönheit sprudelte. – Herr, hilf, daß unser Leben nicht schal werde, sprach ihr ganzes Tun und Lassen, war es nun Tagwerk oder Fest, Marsch oder Rast, Fluch oder Gebet, und keine größere Sehnsucht schienen sie zu kennen.

Aber um diese Zeit ereignete sich etwas, das an den Grundfesten rüttelte. Es trat nicht gleich selber ein, sondern machte sich, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, durch allerlei Vorzeichen bemerkbar. Da waren vor allem die erneuten Aushebungen. Ein Murren erhob sich, wie lange das noch so fortgehen sollte; und natürlich sah alles scharf auf die reichen Höfe, ob man auch da die Söhne nahm.

Ja, auch da. Aber Lix, zum Beispiel, als einziger Sohn, wurde losgeschraubt. »Natürlich«, sagten sie, »solchen reichen Leuten wird eben alles Bittere erspart.«

Weiterhin waren die Briefe aus Italien. Anfangs vereinzelt, kamen sie jetzt auf viele Höfe. Menas Tätigkeit als Briefschreiberin sprach sich herum. Zwar übertrieben die Leute, wenn sie sagten: »Die Ellenhuber-Mena kann schreiben wie ein Advokat«, aber tatsächlich konnte sie, zur eigenen Verwunderung, feststellen, daß ihre Feder immer gelenkiger übers Papier lief. Sie tat auf diese Weise so vielseitige Einblicke in das menschliche Leben, daß es ihr schien, als ob sie bisher in einer fensterlosen Kammer gelebt hätte. Kein Wunder! Wenn ein Amtsschreiber, ja, hundert Amtsschreiber viele hundert Pfund Papier beschreiben, so geht von diesem papierenen Berge ein Hauch von Öde und Lebensfeindschaft aus; aber den kleinsten Brief, geschrieben von den ungeübtesten Menschenfingern, nimmt man mit Interesse, ja Ehrfurcht zur Hand.

Viele kamen, um ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihre Herzensgeheimnisse anzuvertrauen, und wie wenig auch im allgemeinen das Frauenvolk den Mund halten kann, sie schwieg. Es war ein feines Gefühl, wenn sie zur Kirche ging und mit den Leuten nicht nur die gewöhnlichen Grußgespräche wechselte, sondern überall Mienen begegnete, worin eine feste Zuversicht auf ihre Verläßlichkeit abzulesen war.

Sonntags trampelten schwere Schuhe über Lamberts Stiege und eine rauhe Stimme redete: »Grüß Gott, Mena! Eine recht schöne 287 Bitt tät ich haben. Mein Sohn hat wieder geschrieben, aus Italien. Da möcht ich zurückschreiben lassen, damit er sich nicht ganz verlassen vorkommt! Ich tu dich schon gut zahlen. Da fehlt dir nichts.« Der Bauer nestelte seinen Brief aus der Rocktasche und legte ihn mir Scheu und Ehrfurcht auf den Tisch. Begreiflich, er war weit hergereist und trug viele kaiserlich-königliche Poststempel auf seinem gelbbräunlichen Leib.

Und die Mena setzte sich hin und las: »Vielgeliebte Eltern! – Ich ergreife die Feder und teile Euch mir, daß ich gesund bin, was ich auch von Euch hoffe. Ich habe das Leben zu Hause nicht verstanden und war verblendet. Jetzt möchte ich wohl so tun, als Ihr, meine geliebten Eltern, es haben wolltet, aber nun ist es zu spät. Wir marschieren morgen nach Mezzolombardo. Mein Geld ist auch schon hübsch zusammengeschmolzen. Wenn Ihr mir etwas schicken könntet, wäre ich sehr froh. Aber nur, wenn es meine lieben Eltern leicht entbehren können. Mir aufrichtigen Grüßen Euer liebender Sohn.«

Schon in der Mitte des Briefes hatte der Vater geräuschvoll sein Schnupftuch in Tätigkeit gesetzt und klagte nun in einem übermäßig rauhen Ton über die Herbstnebel, die er nun einmal nicht vertragen könne. Er schnaubte, ja er verlor einen Augenblick alle Gewalt über sich, und da er um keinen Preis seine Erschütterung zeigen wollte, überschlug seine Stimme sich in ein dünnes Krähen, und er schimpfte: »Geld braucht er? – Ah, da schau her! So ein Lotter! Und was der Mensch mir zugesetzt hat, wie er noch daheim gewesen ist! – Nun, leben tut er, gesund ist er auch. Viel mehr braucht der Mensch nicht. Hab ich nicht recht, Mena?« Schon auf der Stiege draußen hörte sie ihn noch immer schimpfen, ganz berauscht von seinem Vaterglück: »So ein Mistbub! So ein Herrgottsakra! So ein Donnerschlankel!«

Dann kam eine Bäuerin; sie keuchte, als ob ihr das Stiegensteigen hart ankäme. Ob ihr etwas fehle? – »Es geht mir so eigen«, sagte sie und atmete tief, als ob sie eine Last auf der Brust trüge. Sie hob den Deckel eines farbigen Körbchens und reichte der Mena einen Brief. Dann saß sie, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Hände im Schoß gefaltet, als wollte sie so dem Einschlagen irgendwelcher lebensgefährlicher Kräfte standhalten. Wie die Mena las: »Geehrte Frau!« ging ein fahler Schein über ihr Antlitz. – »Ist unser 288 Kamerad, als ein tapferer Soldat, auf dem Felde der Ehre gefallen. Haben wir ihn beerdigt und die Stelle gekennzeichnet, wo er liegt. Werden wir unserem treuen Kameraden stets ein ehrendes Angedenken bewahren und ihn nie vergessen.«

Die Soldatenmutter wiederholte geistesabwesend: »Beerdigt . . . unserem treuen Kameraden . . . nie vergessen . . .« Ihr Gesicht war kreideweiß, und ihre Hand zitterte, wie sie ein Geldstück auf den Tisch legte. »Nie vergessen . . . freilich, freilich!«

Aber selbst dieses Furchtbare nahm man noch hin; auch daß die Zinnteller und Zinndeckel der Maßkrüge, die Bleiröhren und dergleichen abgeliefert werden mußten.

Anders aber war's, als ein Gerücht die Kirchenglocken umschwirrte.

Glocken bedeuten in den Städten nicht viel; manchmal fallen zwar ihre Klänge in die Gassen, aber in der wilden Jagd, die zwischen den Backsteinmauern rast, werden sie gar nicht oder nur wie ein ferner, gleichgültiger Ton gehört. Sie mögen rufen, wie sie wollen: es sieht kein Mensch mehr zum Himmel.

Im Dorf ist's anders. Von der Stunde an, wo das Kind aus dem Morgenschlaf erwacht, auf Schritt und Tritt, Tag für Tag, Jahr für Jahr, wird der Mensch von den Glocken begleitet. Sie rufen seinen zur Erde gerichteten Blick unablässig zum Turm, zur Turmspitze, die wie ein Finger Gottes ernst und eindringlich in die Unendlichkeit weist. Und sie setzen dem Zweifler die immer gleiche, einfältige Frage entgegen, die der Kaiser Napoleon, im Anblick des ägyptischen Sternenhimmels, an seine Neunmalgescheiten gerichtet hat: Sagt mir, wer hat Sonne, Mond und Sterne gemacht? – Nicht die Abhängigkeit von den Naturelementen ist die Quelle ihres Gottesglaubens, sondern das Staunen.

Sie liebten ihre Glocken, wie sie ihre Kirche, ihre Häuser, ihren Bach, ihre Pappelbäume und ihre Kinder liebten. Sie waren allmählich ein Teil von ihnen selber geworden. Hörte man zuweilen, wenn der richtige Wind ging, über den flimmernden Kornfeldern fremde Glockentöne, so hielten sie die hohle Hand an die Ohrmuschel und sagten: »Unser Nachbardorf hat ein schönes Geläut; aber Glocken von einem Klang, wie der unserer Großen, gibt's überhaupt nicht mehr.«

Diese Große, oder Zwölf-Uhr-Glocke, war das ein und alles, die 289 unentbehrlichste von allen fünfen. Sie rief zur Frühmesse, zum Amt, zum Rosenkranz, zur Vesper; sie läutete die Hauptstationen des Tages ein, Morgen, Mittag und Abend, jenen Zeitpunkt, wo es hieß: Horch, Ave-Maria! und wo alle, der reiche Haginghofer und der arme Weltuntergang, der tückische Einleger und der wegemüde Helf-uns-Gott-Florl, den seine Füße kaum mehr trugen, die beginnende Ruhe und Kühle wie einen kostbaren Wein in sich schlürften. Sie hatten aber auch zu den kleineren Glocken ein herzliches Verhältnis. Die Elf-Uhr-Glocke war durchaus nicht zu verachten; und von den drei anderen war es das Zügenglöcklein, das in jenen Minuten geläutet wird, wo der Mensch in den letzten Zügen liegt, wo die Luftkammern noch einmal versuchen, das einzuatmen, was das Arkanum alles Lebens ist: Licht und Luft. Und obgleich seine Stimme etwas lächerlich Dünnes und Blechernes an sich hatte, schlug sie dennoch stärker an die Wände der Menschenherzen, als der Schall von tausend Trompeten: es war der Klöppel der Ewigkeit.

So eng mit ihren Glocken verbunden, ist es begreiflich, daß sie in Trauer verfielen, wenn ihre Klänge einmal ihr tägliches Tun nicht mehr begleiteten, wo sie nach Rom flogen.

Daher versetzten die Gerüchte, die umgingen, das Dorf in Aufregung. Aber so sehr dies auch alle in Mitleidenschaft zog, einer fand sich doch, der sich mit dieser unerhörten Neuigkeit einen Magenbitter verdienen wollte. Er suchte sogleich die Mena auf und fand sie auf der Lambert-Wiese. »Mena, hör auf zu mähen!« jammerte er. »Fahr heim! Denk dir: die große Glock muß einrücken. Mein Gott, und deine Ähnl, Gott hab sie selig, war Glockenpatronin damals . . . Was heutzutag alles geschieht!«

Die Mena erschauerte leicht; sie warf das Gras auf den Wagen und fuhr ab. Der Staatsschuldenmann trabte nebenher und setzte seine Lamentationen fort. »Nein, aber nein! Jetzt wollen sie also auch die große Glocke einziehen! Und dein Ähnl hat das viele, schöne Geld hergegeben: zweitausend Gulden! Mein Gott und mein Herr! Den Atem tut es einem verschlagen. Und du selber bist damals ein ganz kleines Wuzerl gewesen. Und weil denselbigen Tag auf Ellenhub kein Mensch Zeit gehabt hat, hab ich dich auf meinem Arm herumgetragen! Hutsche heia.« Die rührende Stimme brach aber vor Lamberts Haus ab. »Das verdammte Sodbrennen!« rief er. 290 »Sagen tun sie, Kirschenschnaps ist gut dagegen. Ich weiß nicht.«

Die Mena lachte und zahlte ihm tatsächlich ein Glas Kirschenschnaps. Sie tat es gern, wegen des warmen Anteils, den er an ihrer Kindheit und am großmütterlichen Glockenpatronat nahm. Doch wurde sie jetzt von einem Privatinteresse gequält: ihr war, als ob mit der Glocke auch die zweitausend Gulden eingeschmolzen werden sollten; es ärgerte sie fast, daß die Ähnl so überfromm gewesen war.

Mittlerweile hatten sich die Dorfhäuser geöffnet; alles kam hervor, sogar die Lahmen und Blinden, die Tauben und Wassersüchtigen. Große Angst malte sich in ihren Gesichtern. Auch jene Gestalten erschienen, die man sonst selten im Dorf sah.

Die Ewig-Gerechtigkeit beehrte die Mena mit einer Ansprache. »Die große Glocke!« sagte er bedeutsam. »Das Patronat ist seit ewigen Zeiten bei den Ellenhubern gewesen; das ist die ewig' Gerechtigkeit selber.«

Der Maler Peregrin kam anmarschiert, in einer Haltung, als ob sein Haupt weit über die Hausdächer hinausragte und nur sein armes Knochengestell sich herabwürdigte, unter dem Dorfvolk zu wandeln. Er schüttelte stumm den Kopf und sagte endlich: »Ich meinerseits wart auf ein Wunder!«

Alle sammelten sich auf dem Kirchenplatz. Hier standen sie in schütteren Haufen, Männer, Weiber, Kinder; solche, die noch an einem Band die Milchflasche mitschleppten, und wackelige Greise, die sich kaum mehr auf den Füßen halten konnten. Es setzte laute Dispute. Vielen schien es unmöglich, die Glocke aus der Glockenstube zur Erde zu bringen; sie prophezeiten ein Unglück übers andere; ja etliche verstiegen sich bis zum Einsturz des Turms. Andere beredeten, wo die Glocke gegossen, was sie gekostet und wann sie eingeweiht worden war. Man besprach, wie alle an ihr Geläut gewohnt wären und es ihnen als eine Unmöglichkeit erschiene, daß sie fortgeführt werden sollte. Ob denn in letzter Stunde nicht doch noch eine Wandlung eintreten könnte? Ob denn die Höllteufel mit dem Kriegführen nicht endlich aufhören würden? Ob denn zuerst alle und alles hin sein müßte?

Die Söhne und Brüder gingen ins Feld und kamen nicht mehr heim; das traf den einzelnen, und sie ertrugen es; daß aber nun die große Glocke drankommen sollte, das traf alle, ohne Ausnahme, das 291 traf sogar die Spötter, die Zweifler und die Gottlosen, wie sehr sie es auch zu verbergen trachteten.

Das Erscheinen der Alt-Retlin mit ihrem Bübl steigerte die Erregung. Sie schrie dem Bübl ins Ohr: »Was ist denn los? Was haben denn die verdammten Lugenschüppel wieder für eine Riesenlug in die Welt gesetzt?« Das Bübl schnaufte ganz entsetzlich; es sah danach aus, als bekäme es einen seiner epileptischen Anfälle, und schrie seinerseits der Ähnl ins Ohr: »Die große Glock muß einrücken!«

Die Alt-Retlin schloß die Augen; sogar das Wackeln ihres Kopfes setzte aus. Plötzlich richtete sie sich mit einem Ruck auf, ergriff die Hand ihres Bübls und klopfte mit ihrem Krückstock an die nächste Tür: »Wacht auf, ihr Leute!« rief sie. »Die große Glock muß einrücken!« So erregt die Alte war, so völlig teilnahmslos blieb der Enkel. In seinem struppigen Gesicht hing eine Gipspfeife, der kleine Rauchwolken entstiegen; zaghafte, wie ein Raucher eben raucht, der weiß, daß er mit seinem halben Pfund Rollentabak eine Woche auskommen muß. Er wiederholte mechanisch: »Ähnl, red nicht so viel, könnt dir schaden.« Aber der Kopf mit den gespenstischen Tuchzipfen redete unaufhörlich: »Es steht geschrieben in der Johannis-Offenbarung: ›Wenn die Wagen ohne Rösser gehen und die Frauen weiße Schuh tragen, ist die Zeit gekommen, wo die Weiberleut um einen Stuhl raufen werden, wo ein Mannsbild gesessen ist.‹«

Aus der Menschenmenge kam ein Geraune und Gejammer, und selbst die harten Männer schüttelten die Köpfe. »Immer«, sagten sie, »wenn die Alt-Retlin mit der Johannis-Offenbarung anrückt, gibt's böse Dinge!«

Bis zu dieser Minute hatten sie auf ein Ereignis gehofft, das alle Gerüchte zunichte machen sollte; aber wie sie nun den Pfarrer, in Begleitung des Vorstands, des Zimmermeisters und Alt-Ellenhubers, kommen sahen, blieb kein Zweifel mehr: es ging auf Leben und Tod.

Die Mena stand noch unter den Gaffern, als der Ähnl sie heranrief. Sie mußte mit ihm zum Postwirt. »Hab müssen in den Pfarrhof, wegen der großen Glocke. Weißt ja: dein Ähnl ist Glockenpatronin gewesen. Und weil mir dabei so vieles eingefallen ist, was mit deiner Ähnl zusammenhängt, und weil ich schon einmal im 292 Pfarrhof war, hab ich mir den Trauschein herausschreiben lassen. Ist doch ein schönes Erinnerungsstück.« Er legte der Mena ein gefaltetes Dokument hin.

Sie las halblaut. Wie sie fertig war, wiederholte er gedankenvoll einige Stellen: »– und die Braut Maria Langer, eheliche Tochter des Wolfgang Langer, Bauer am Heisinggut . . . in der hiesigen Pfarrkirche zum heiligen Vitus . . . Urkund dessen Unterschrift und beigedrucktes Pfarrsiegel . . .«

Er saß mit halbgeschlossenen Augen und schaute Bilder seiner jungen Jahre. Szenen bei seinen Eltern, am Kammerfenster, bei seinem Weibe, und dies Weib, das er in so vielen Nächten bei sich gehabt, schien noch aus dem Grabe Ströme auszusenden. Er murmelte: »In der Ewigkeit, in der Ewigkeit werden wir uns wiedersehen.« Und die Mena sah, daß ihm ein paar Tränen über die Wangen liefen.

»Ja, Mena«, fuhr er fort. »Die Ähnl war Glockenpatronin. Und jetzt wird's auf dich kommen.«

Sie erschrak; so etwas wäre sie nicht gewohnt und wüßte nicht, wie man sich dabei zu verhalten hätte. Aber der Ähnl verbreitete sich lebhaft über die Ehre, und daß niemals etwas Besonderes in der Gemeinde vorgegangen wäre, woran die Ellenhuber nicht ihren Anteil genommen. »Es ist ein wahrer Gottestag gewesen, damals, wie deine Ähnl als Glockenpatronin neben dem Weihbischof hergegangen ist. Und viele schöne Frauen sind in dem Zug mitgegangen; und viele hundert weiße Mädchen, und die Musik hat gespielt; und ein halbes hundert Böllerschüsse haben sie abgefeuert. Und deine Ähnl, das darf ich ruhig sagen, ohne mich zu versündigen: deine Ähnl war die Schönste und Stolzeste draus.«

Es war ein Tag der allgemeinen Trauer, als die große Glocke ihren Abschied nahm. Die Mena war ernst gestimmt. Und so, wie sie den Atem anhielt, als die Glocke zu läuten begann, hielten alle den Atem an. Es war aber auch, als ob sie ihre tiefste Seele und ihre schönsten Töne bisher zurückgehalten, um sie in dieser Stunde über die Gemeinde auszuströmen, als ein Grablied, das sie sich melancholisch eintönig selber sang.

Schneller als sonst eilten die Dorfleute zum Gottesdienst, und alles, was alt, siech und gebrechlich, klein und schiefgezogen war von Mühsal und Krankheit, hastete mit komisch-ernstem Eifer den 293 Kirchenweg hinauf. Gries predigte eindringlich vom Sinn der Glocke und vom Sinn der Menschenleiden.

»Wenn«, sagte er, »der Satan wächst in der Welt und mächtig wird, müssen auch die Gläubigen Gottes sich wappnen und sich in die Reihen stellen. Ihr habt vom welschen Feinde gehört, der des Kaisers Grenzen bedroht, eine schlimme Sache fürwahr! Ihr habt eure Söhne hergegeben, euer ein und alles, eine noch bösere Sache fürwahr! Aber beim Lichte besehen; sind sie nicht, wie sie so in der letzten Zeit heranwuchsen und in Saft gingen, kaum mehr lenkbar gewesen? Haben sie Liebe zu denen gehegt, die zwanzig Jahre der Liebe an sie gewendet, die Tag und Nacht für sie gewacht? Haben sie Liebe zu denen gehegt, die sie gepäppelt und gekleidet, die sie nachts sorgsam zugedeckt, daß sie nicht froren? – War nicht vielmehr die selbstische Natur wie ein Wildgewässer in ihnen hervorgebrochen und hatte nichts mehr gekannt, weder Gehorsam noch Respekt, weder Dankbarkeit noch Liebe? Und war es ein Wunder, daß es den grübelnden Vätern, niedergebeugt von Kälte und Lieblosigkeit, schien, daß die jungen Köpfe, die sich eine völlig falsche Welt gebildet, zurechtgesetzt werden mußten? Und daß es ihnen schließlich dünkte, daß die Schlachtenlenker und Eroberer nichts anderes wären als Werkzeuge eines geheimnisvollen Gottes, der alle Dinge in seiner Weise gestaltet! – Denn so ist es ja, ihr lieben Christen: das Eisen muß tüchtig geglüht und gehämmert werden, bis es einen Hammer, ein Rad, eine haarscharfe Sense gibt. Und genauso ist es mit den jungen Menschen. Dreimal wehe der Jugend, der die Zucht des harten Lehrmeisters fehlt.«

Die Bauern beugten tief ihre Köpfe. – So ist es! Er sprach ihnen aus dem Herzen, der alte Pfarrer. Es war nicht der geringste Zweifel, daß ein furchtbares Gericht über allen Dingen der Welt waltete. Die Stimme des Predigers beschwor die jungen Menschen, ihren Leichtsinn abzutun; sie beschwor das Schlachtfeld, ein »anderer Donner Gottes«, und die Söhne, die im Kugelregen nach der Mutter riefen. Die Stimme zitterte, schwankte; der Pfarrer Gries weinte. Aber diesmal lächelte keiner mehr hinter dem vorgehaltenen Hute; von der Frauenseite antwortete Schluchzen, die ganze Gemeinde war von einem ungeheueren Leid durchschüttelt.

Es war gut, daß die Predigt zu Ende und der Koadjutor im Schnellschritt zum Hochaltar lief. Er las das Amt mit einer solchen 294 Eile, daß es dem Ungeduldigsten mißfiel. Dann hob er die großen Bauernhände und stand stumm. Sein brennender Haarschopf loderte wie eine Flamme aus dem groben, felsigen Gesicht. Er sang mit seiner machtvollen Stimme das Kriegsgebet: »Du großer Gott, du allmächtiger Gott, du starker Gott . . . gib uns Sieg!« Die vereinten Stimmen der Schulkinder fielen im Chor ein: »Gib uns Sieg!« Und wiederum erscholl die Stimme des Koadjutors, und diesmal antwortete die Frauenseite, und bei ihrem inbrünstig hallenden: »Gib uns Sieg!« schienen die Wände der Kirche sich zu erweitern und sich mit rotem Blute zu erfüllen. Zum drittenmal erscholl die Stimme, noch stärker, und jetzt erdröhnte die ganze Männerseite: »Gib uns Sieg!« Die Orgel und der Chor nahmen das Gebet auf, leidenschaftlicher und inbrünstiger, und es hallte in den Wölbungen so gewaltig wider, als wollte es die Kuppel sprengen.

Wie die Menge sich auf dem Kirchenplatz drängte, sah man deutlich, daß alle kräftigen Gestalten fehlten; es waren zumeist Kinder, Frauen und Greise; wenige ältliche Männer ausgenommen, meist solche, welche die Gemeinde nicht entbehren konnte. Sie standen mit demütigen Mienen, die Rosenkränze um die Hände geschlungen oder geschmückte Gebetbücher an die Brust gedrückt. Vor ihnen die Kinder; die rotweißen Gesichter mit erkünsteltem Ernst geradeaus gerichtet. Die Mütter hatten sie beim Fortgehen eindringlich belehrt, daß sie heute recht ernst sein müßten. Sie suchten insgeheim nach einer Erklärung, warum sie ernst sein sollten, konnten aber keine finden. Ihre Augen sogen das Schauspiel mit solcher Begier ein, wie ein Durstender einen Trunk Wasser.

Weiter rückwärts, etwas erhöht, auf einem mauergefaßten Rasenfleck, mit einem riesigen Heilandskreuz, hatten sich Leute angesammelt, die sich aus bestimmten Gründen von der Menge absonderten. Krüppel, die umfielen, wenn man sie anstieß, Sieche, die man herbeigetragen, Weiblein, die elendiglich zwischen zwei Krücken hingen, und hier war auch die Alt-Retlin mit ihrem Bübl. In der blendenden Helle der Augustsonne und auf dem leuchtenden Weiß der Kugelsteine konnte dies Bild, die bunte, ärmliche Kleidung, die ängstlich ergriffenen Gesichter, ein Lächeln erregen. Ihr Jammer war ja, verglichen mit dem Jammer auf dem Kriegstheater, nichtig und klein; es war nur der Schmerz um ein Stück tönendes Metall, aber was bedeutete dies Stück Metall für sie? 295

Im offenen Halbkreis standen die weißen Gestalten der beiden Priester, umgeben von den ebenso weißen Ministranten; und daneben eine gesonderte Gruppe, der Vorstand, der Bräu, seine Frau, der Lehrer Zauner, Gemeindeausschüsse, der Alt-Ellenhuber und die Mena. Endlich ein Städter, der Herr Archivar, der Form und Inschrift der Glocke für seine Zwecke retten wollte.

Die Mena war ganz Auge und Ohr. Sie liebte seit jeher alles Feierliche. Es war auch ein besonderer Met für sie, und sogar ein sehr süßer, daß Ellenhub sich nicht rückwärts herumdrücken mußte, sondern hübsch vorn stand. Ihr Blick sah alles: die Menge, den Friedhof, das Dorf, den blauen Himmel und eine große Sommerwolke, die zuweilen einen flüchtigen Schatten auf Platz und Menschen warf, so daß sie leicht erschauerten. Sie kam erst wieder zu sich, als eine heftige Bewegung durch die Leute ging.

In der Turmwand bildete sich ein unregelmäßiger Fleck, und es schien, als ob die schwarze Kralle des höllischen Erzfeindes selber dies Loch riß, um das Allerheiligste zu rauben. Die schöne Große Glocke war unaufhaltsam auf der geheimnisvollen Bahn ihres Untergangs. Niemand sollte mehr ihre Klänge hören.

Mehrmals wandten die Köpfe sich gegen den Acker der unschuldigen Kinder, wo die Alt-Retlin die Hand krampfhaft ans Ohr hielt, und von Zeit zu Zeit mit der überlauten Stimme einer Tauben fragte: »Läutet sie noch?«

Es erhob sich ein Raunen und Flüstern, dem sogleich wieder ein atemloses Schweigen folgte: die Seile an den Flaschenzügen begannen zu surren, und die Glocke erschien im dunkelzackigen Mauerbruch. Sie bewegte sich ruckweise, gleichsam ängstlich und zögernd, als scheute sie sich, aus ihrem jahrhundertlangen Dämmerdunkel ins Sonnenlicht zu treten. Endlich schwebte sie frei und lautlos in die Tiefe.

Wie das Seil länger und länger wurde, fing die Glocke zu wackeln an. War es, daß die Zimmerleute sie nicht ganz sachgemäß gegürtet oder daß sie, auf ihr muffiges Turmgemach hin, die starke Morgenluft nicht vertrug, kurz, sie wackelte wie ein Betrunkener. Noch viel mehr und ganz entsetzlich aber wackelte der Greisinnenkopf der Alt-Retlin, wahrhaft beängstigend, denn man glaubte, jetzt und jetzt würde er sich vom zündholzdünnen Hals loslösen und davonfliegen. Und wie die Glocke, bevor sie sich aufs Gleitholz 296 legte, einen schwachen Ton hören ließ, heulte die Alt-Retlin auf: »Jetzt hat sie den letzten Seufzer tan!«

Die Große Glocke saß auf dem Wagen, und die Leute drängten sich näher heran. Daß sie ihr einmal so nahe kommen, daß sie mit der Hand ihren kalten, glatten Körper berühren würden, das wäre ihnen niemals im Schlaf eingefallen. Je nach Alter und Stand nahmen die einen dies, die andern jenes Interesse an ihr. Bei den Alten hob ein bedächtiges Reden über Jetzt und Einst an; bei dem jungen Volk und den Kindern ein lautes Geschwätz; während die Mena überdachte, was die Glocke für sie, zu den verschiedenen Zeiten, bedeutet hatte. Gerade damals läutete sie den Tag ein, als Lix die Kammer verließ . . . Gerade damals läutete sie das Ave, als sie den Toni kennenlernte . . . Und auch damals läutete sie, als man ihr die Botschaft von der Krankheit ihres Kindes brachte . . .

Die gesetzten Männer dachten an etwas anderes, allen voran der Archivar. Er erklärte mit lauter Stimme die Reliefs, die sich um den Glockenkranz zogen. Eine Szene aus dem Türkenkrieg, Janitscharen mit hochgeschwungenen Säbeln und wehenden Roßschweifen, ein brennender Bauernhof, fliehende Muselmanen und kaiserliche Reiter. Und dann die Inschrift:

Ich künde Gott,
Anno Domini 1800.

Zwei prächtige Wallachen, die voll angeschirrt die Straße herabklirrten, schienen für den Pfarrer ein Zeichen zu sein. Er trat vor, sprach ein lateinisches Gebet und besprengte Glocke und Menschen mit Weihwasser. Gleichzeitig fingen die kleinen Glocken zu wimmern an, und wie nun die ganze Gemeinde laut mit dem »Gegrüßet seist du, Maria!« einfiel, wurde Schluchzen hörbar.

Die Größe des Weltgeschehens drang in dieser Minute auf sie ein: die Glocke, die geweihte, die heilige, die Musik ihres Gottesreiches, ging auf Nimmerwiederkehr davon. Die Alt-Retlin und ihr Bübl klammerten sich krampfhaft an den Schaft des rotgestrichenen Kreuzes. Der Kopf der Neunzigjährigen wackelte schauerlich und ihr zahnloser Mund jammerte laut: »Jetzt wird uns der Herrgott auch bald verlassen!« 297

 


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