Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Die drei heiligen Schneider

Selbigen Tags, an einem Samstag, ging sie auf den Friedhof, das Grab der Eltern zu schmücken. Von da her war ihr stets Klärung und Beruhigung gekommen. Sie liebte den Friedhof. Es war so feierlich still hier; nichts rührte sich, nur barfüßige Kinder trugen Blumen, Weihwasser und geweihte Kerzen zu den Gräbern. An Licht, Wasser und Blumen sollten auch die Toten keinen Mangel haben, sofern etwa ihr Geist in den Mondnächten aus dem Moderbette stieg. Oder sollten diese Gaben andeuten, daß es eine unfaßbare Gnade war, ins Licht des Lebens geboren zu werden, an seinen Quellen den Durst zu löschen und an seinen blumigen Auen das Herz zu weiden?

Es dämmerte schon, und die Mena war eben im Begriff zu gehen, als sie einen Ton hörte, der sie einen Augenblick zurückhielt; etwas sang, aber so fern, als käme es aus einer der Grüfte, wo die Toten schliefen.

Bei einem der Gräber saß eine dunkle Gruppe, die Hände gefaltet und die Häupter erhoben, die drei heiligen Schneider. Sie wartete hinter einem Obelisken, bis die Brüder fort waren, trat dann näher und las den Text auf der roten Marmortafel:

Oh, betrübte Mutter Maria! Wir
erinnern dich an das Schwert der
Schmerzen, das dein mütterliches Herz
durchdrang, als Jesus, dein Leben und
deine Liebe, in das Grab gelegt wurde
und du in traurigster Verlassenheit nach
der Stadt zurückkehren mußtest.
14. November, fünf Uhr früh.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr war, als ob sie niemals richtig um ihre Mutter getrauert hätte. 241

Ein Ereignis führte sie in der Folge mit den Brüdern rascher zusammen, als sie dachte. Es wurde ein Rekrutenball angesagt, und sogleich überkam das ganze Dorf eine Art Tollheit. Alles rüstete für diese eine Nacht, als ginge es um Leben und Sterben, und auch die Mena blieb von diesem Fieber nicht verschont. War es bisher mit der Samtjacke nicht eilig gewesen, lief sie jetzt sofort hin, um anzutreiben.

Aber die Jacke war noch nicht bis zur Anprobe gediehen und so wollte sie wieder gehen; jedoch Veit bat sie, ihnen etwas Gesellschaft zu leisten. »Du bist am Samstag auf dem Friedhof gewesen?« fragte er und schien sich und die Brüder wegen ihres absonderlichen Wesens rechtfertigen zu wollen. »Wir hatten ein großes Unglück in unserem Leben: unseren Vater! Er war ein Trunkenbold, schlug die Mutter, und wir waren alle froh, als er eines Tags nicht mehr zur Tür hereinkam. Wir hatten aber auch ein großes Glück: unsere Mutter! Diese unsere Mutter war eine Heilige! Ohne ihre Liebe in der heidenmäßigen Welt weiterzuleben, ist uns anfangs unmöglich erschienen. Wir sind alle drei überzeugt, daß sie nicht gestorben ist, und unser tägliches Nachdenken ist der Frage gewidmet, was damals geschah, als man sie hier, in dieser Stube, vor unseren Augen, in die braungestrichene Kiste legte und den Deckel verschloß. – Lange haben wir uns geängstigt und gequält, bis uns aus einem geistlichen Liederbuch ein Trost gekommen ist, ein wahrer Trost, wohin wir uns nun jedesmal, wie unter ein Schutzdach, flüchten, wenn die Furchtbarkeit des Lebens uns zu überwältigen droht.«

Er blätterte in einem abgegriffenen Buche, das er vor sich liegen hatte, und summte die ersten Zeilen vor sich hin.

»Singt es doch!« bat die Mena.

Sie taten ihr den Gefallen.

»Das Leben kann niemals im Tode verwehn,
Drum hör, was mit deiner Mutter geschehn;
Drum hör, was der Mutter, erdentflohn,
Dort oben geschah in der Sternregion.

Ein Cherub mit bekränztem Stab,
Der führt sie smaragdene Stufen hinab. 242
Hier wogte in blauen Wellen ein Meer,
Zogen Schwärme schneeweißer Tauben einher.

Hier ließ sie sich nieder, und wie sie's gemacht,
Als gute, als treue, als fleißige Magd;
Hier ließ sie sich nieder, ihr irdisches Kleid
Wusch sie rein in den Wassern der Ewigkeit.

Ein Cherub mit gelocktem Haar,
Der führt' sie zu einem Hochaltar;
Als Mutter der Mütter ward sie gekrönt,
Ihr Antlitz erstrahlte glückselig, versöhnt . . .«

Die Mena war gerührt. Draußen in der Dunkelheit wiederholte sie bald die eine, bald die andere Strophe. Erst in dieser Minute weinte sie die eigentlichen Tränen um den Verlust ihrer Mutter.

In diesen Tagen geschah etwas, das die Aufregung der Weiberherzen maßlos verstärkte; die Rekruten kamen von der Assentierungskommission heim. Sie trugen künstliche Blumensträuße auf den Hüten, durchmischt mit grellfarbigen Kugeln und Büscheln aus Goldfäden. Ein Gemisch von Freude und Erregtheit leuchtete aus ihren Augen, und wenn sie Altersgenossen sahen, die das Los nicht getroffen, riefen sie: »Du kommst nicht von der Kittelfalte deiner Mutter weg, du Tuttenhans, du elendiger!« Sie lärmten von Gasthaus zu Gasthaus, als ob sie einen Haupttreffer gemacht hätten, und der Staatsschuldenmann, der regelmäßig dort zu finden, wo es etwas zu schmarotzen gab, war mitten unter ihnen. Da es aber mit seinem Verstand durchaus nicht weit her war, er aber zur allgemeinen Belustigung beitragen wollte, sang er, was ihm gerade einfiel:

»Gehts heim, gehts heim, ihr Lumpenhund!
Ihr freßt des Kaisers Brot umsonst . . .«

Sie bezogen die Lumpenhunde auf sich und pufften ihn unter Gelächter und Geschimpfe in den Straßengraben. Aber plötzlich schob sich ein Trupp Bräuknechte, wie ein lebendiger Keil, dazwischen: »Der Mann ist unser Kamerad!« sagten sie trocken. »Der wird nicht angerührt!« 243

Die Mena ging das freilich nichts an; sie dachte nur an ihre Brüder, aber trotzdem hörte sie jetzt, wenn sie in sich selber hineinhorchte, einen Ton, den sie bisher nicht vernommen. Es war etwas Männliches darin, ein Klang wie Eisen und Erz. Besonders hörte sie diesen Klang, wenn sie um die Zeit vor Sonnenaufgang mit ihrem Ochsengespann auf die Wiese fuhr. Sie trug dabei nichts als einen Waschkittel, mit Flecken besetzt, ein Leibchen und ein Hemd aus grobem Leinen, mit glattanliegenden Ärmeln, die bis zu den braunen Ellenbogen reichten. Sie war barfuß, in Holzpantoffeln; das taunasse Gras schlug ihr um die Füße, und die feuchten Blätter legten sich saugend an die lebenswarme Haut. Sie mähte, wischte mit einem Grasbüschel über die Sense, fuhr mit dem Wetzstein hin und wider; und sah dabei aus versonnener Ruhe heraus die Blumen und Falter, hörte die Bienen und Vögel, ihr Summen, Zirpen und Zwitschern, und beobachtete das Ansteigen der Sonne über den schwarzdunklen Wäldern. Sie hob sich in Stufen, hoch und höher, und zauberte nach und nach die Landschaft hervor, in hundertfältigen Bildern, und der ganze Vorgang erfüllte die Mena mit der Empfindung körperlicher Stärke und Unverwundbarkeit. Ihr war, als müßte sie die Arme ausbreiten und Dorf und Tal, Häuser und Hütten, Menschen und Tiere an ihre Brust drücken. Wie ein ferner Schein flog der Gedanke durch ihren Kopf: sollte dies alles, das Dorf, ihre Dienststelle, ihr Kind, ihre Geschwister, ihr Verehrer, sollte dies alles vielleicht gar nicht so wichtig sein, nicht so wichtig genommen werden? Sollte es nicht gescheiter sein, wenn der Mensch alle Angst und Sorge von sich abtäte? – Warum sollte nicht sie sich auch einmal ganz einsetzen, um doch vielleicht das zu bekommen, was eines jeden Weibes Sinn und Ziel war.

Das erste, was sie dazu brauchte, war die Samtjacke; und da sie hörte, daß die Schneider oft zu versprochener Zeit nicht fertig wurden, nahm sie den schönsten ihrer Nelkenstöcke; es war ihr leid darum, aber Cyrill hatte auch sonst ihr aufrichtiges Mitgefühl erregt.

Gleich bei ihrem Eintritt spürte sie, daß die Brüder sich in einer ungewöhnlichen Stimmung befanden. Sie stellte den Blumentopf mitten in den Schneiderkram, und wie sie nun die Hülle entfernte und ein Dutzend prachtvoller Nelken sich nach allen Seiten hin neigten, riefen die drei wie aus einem Mund: »Aber da schau, die Schönheit!« 244

Sie sagte lachend: »Cyrill, der Nelkenstock gehört dir. Aber du darfst mich mit meiner Jacke nicht sitzen lassen. Sie muß zum Ball fertig sein!«

Cyrill schob die Blumen mehr in die Tischmitte und sagte: »Keine Sorg! Und recht schönen Dank! – Das feine Stöckl aber soll uns dreien gemeinsam gehören.«

Während der Anprobe fing Veit an, scherzhafte Bemerkungen zu machen, die Fabian und Cyrill mit Lachen begleiteten. Dann luden sie die Mena zu Tisch, holten einen Krug Apfelwein, versüßten davon ein Glas mit Zucker, und sie mußte ihnen Bescheid tun. »Heut sind wir freudig gestimmt«, sagte Veit, »und möchten am liebsten tanzen.« Und auf ihre Frage, was ihnen denn Gutes vom Himmel gefallen, fuhr er fort. »Vom Himmel gefallen: Das ist das richtige Wort. Wir sind gestern beide, der Fabian und ich, von der Assentierungskommission für tauglich befunden worden. Was das für uns, bei unserer Denkungsart, bedeutet, davon kann kein Mensch sich eine Vorstellung machen. Mir nichts, dir nichts, von Daheim, vom Muttergrab, weg müssen, in die Fremde, unter dies Volk hinein, vielleicht gar in den Krieg, Menschen abschlachten, die uns nichts getan . . . Wir sind heimgewandert, als ob wir zum Tod verurteilt wären. Und da ist dann das Wunder geschehen!« Er schwieg, als schämte er sich, weiter zu berichten, und wies auf Cyrill. »Da sitzt es, das Wunder!«

Auf dem unschönen Gesicht des Krüppels erschien eine leichte Röte. »Na«, sagte er, »ein Wunder war's gerade nicht. Wie könnt ich denn das Erbteil der Mutter besser anwenden, als daß ich die Brüder loskauf? – Mir bleibt ja noch genug! Ich kann ja das, was ich verdien, nicht verbrauchen. Muß überhaupt sagen, daß ich von meinem schlechten Körper mehr Nutzen als Schaden gehabt hab. Die jungen Handwerker um mich haben wenig gelernt, weil sie ihren Kopf immer woanders hatten; und das Geld, das sie verdienten, haben sie mit den Weibern und in den Wirtshäusern wieder angebracht. Ich kann daher leicht meinen Brüdern etwas Gutes tun.«

Der Mena fiel unwillkürlich das Bild in der Schulbibel ein, wo Josef von seinen Brüdern in eine Zisterne geworfen und in die Sklaverei verkauft wird, was sie nie ohne Grauen hatte betrachten können. Freilich, den Abscheu der Brüder vor dem Soldatenleben 245 begriff sie nicht; denn sie war in Traditionen aufgewachsen, wo ruhige Arbeitsfreude, bäuerliche Solidität und mäßige Frömmigkeit stets mit einem starken Einschlag ins romantisch Heldenhafte und Abenteuerliche verbunden gewesen waren.

Sie sah an diesem Abend lang in die Nacht hinaus. Aus den Gasthäusern kam das Singen der Rekruten. Eine Trunkenheit lag in der Luft, als ob die Erde, die Bäume und die Sterne berauscht wären. Sie fühlte, es ist überaus schön, da zu sein und die unbegreiflichen Dinge, die geschehen, mitzuerleben.

Sie war unter diesen Gefühlen kaum eingeschlafen, als es klopfte. Natürlich nicht an ihrer Tür, denn zu einer Dorfmagd kamen keine so höflichen Besucher, sondern es war jenes Klopfen, das eine gar vielfältige Resonanz hat, nämlich ob am Glas oder am Rahmen, ob zaghaft, ob stark, ob mit dem Fingernagel oder mit dem Knöchel geklopft wurde, und manches alte Weiblein wurde durch ein solches Klopfen für einen Augenblick aus seinem Halbschlummer gerissen und in seine Jugendzeit zurückversetzt, bis es begriff, daß nur ein fallender Wassertropfen oder eine Maus auf Nahrungssuche diese Illusion hervorgebracht hatten.

Aber dieses Klopfen galt noch der Jugend. Die Hatz begann wieder, und die Mena wollte sich gern hetzen lassen, aber es fragte sich nur, von wem? – Sie schob den Vorhang zurück und erschrak: es war der Schneider Veit. Sie öffnete das Guckfenster, den himmlischen Schalter, wie Lambert ihr Kammerfenster nannte, von wo aus sie, wie es ihr paßte, Erhörung oder Abweisung spenden konnte. Sie sprachen eine Weile solche Dinge, wie junge, ledige Leute sie eben sprechen, wenn sie zusammenkommen; lachten über Ereignisse im Dorfe, und Veit ging dann auf sein Ziel über. Er käme langsam in die Jahre und könnte nicht ewig allein bleiben. Ihn kümmerte es nicht, was die bösen Zungen über eine Frauensperson tratschten; jeder Mensch hätte seine Fehler und Schwächen, und schon lang hätte er seinen Blick auf sie gerichtet.

Die Mena antwortete ernsthaft. »Veit, du darfst es mir glauben; wenn ich nicht gesehen, daß du es bist, hätt ich mich gar nicht gemeldet. Ich halte dich für einen der anständigsten Menschen im ganzen Dorf. Aber ich hab mich verschworen, kein Verhältnis mehr einzugehen. Wenigstens jetzt nicht.«

Der Schneider Veit hörte nur das nein, aber auch das: Wenigstens 246 jetzt nicht! Und er freute sich, daß sie nicht so eine war, die jedem das Fenster öffnete.

Die Mena war wieder allein; sie suchte sich zu erinnern, wodurch sie dem Veit Anlaß gegeben, statt in der Bibel zu lesen und geistliche Lieder zu singen, zu ihrem Kammerfenster heraufzusteigen. Sie fand keine Schuld an sich und schlief wieder ein.

Aber sie wurde wiederum wachgeklopft. Es war Fabian. Der neue Gaßlbub deutete ihr sonderbares Lächeln zu seinen Gunsten, wie der Mensch alles zu seinen Gunsten oder Ungunsten deutet, Sternenlauf, Hahnenschrei und Rabengekrächz. Er sagte sich: es klappt! Er sah im Mondlicht das kastanienbraune Haar und den Ansatz der starken Arme, und etwas in ihm fing an zu zittern. Wie er seine Erregung zum Guckfenster hineinflüsterte: »Me – Me – Me – Mena«, und dann seine Rede, einmal im Fluß, holterdipolter über Stock und Stein ging, dachte sie: Wenn's der Stumpfbräu selber wär, ich könnt ihn nicht halsen! – Außerdem hatte er getrunken, vielleicht um sich Mut zu machen, und dieser Geruch machte sie kälter als einen Eiszapfen. Sie hatte niemals begreifen können, warum die Männer Nächte im Wirtshaus verbrachten und sich so betranken, daß sie sich nicht mehr auf den Füßen halten konnten. Ist dies derselbige Mensch, der mit den Brüdern, als sie an ihrer Weide vorbeigezogen, jenes Lied gesungen hat? – Sie ließ eine etwas heiligmäßige Rede los und war todfroh, als der Nachtwächter Fabian zwang, eiligst abzurücken.

Wenn sie aber nun glaubte, Ruhe zu finden, so täuschte sie sich. Es mochte eine halbe bis eine ganze Stunde vergangen sein, als sich am Fenster ein Kratzen vernehmen ließ, das keinen richtigen Gaßlbuben, sondern einen Menschen anzeigte, der in nachtschlafender Zeit, vor jeder Überraschung sicher, eine Zwiesprach halten wollte. Es war der Staatsschuldenmann. »Ich komm als Bote«, sagte er. »Mich schickt einer, der selber nicht kommen kann. Er will dein Glück machen, Mena.«

Sie kicherte: »Wieviel Geld hat er denn?«

»Zweitausend Gulden«, antwortete der Bote. »Und überdies verdient er, ganz aus der Weise! Keinen zweiten gibt's in der Gemeinde, der soviel Geld hat und soviel arbeiten kann.«

»Und wer ist dieser Zweitausend-Gulden-Mann?«

»Der Schneider Cyrill.« 247

Die Mena kam aus der Fassung. Eine unbändige Lachlust überfiel sie, die sie gewaltsam zurückdrängte. Die Antwort, die sie gab, war zweideutig und unbestimmt. Der Antrag eines so braven Menschen, wie des Cyrill, könnte für sie eine Ehre sein; aber sie hätte nach ihrem Unglück ein Gelübde getan, allein zu bleiben. Was in der Zukunft läge, das wüßte sie freilich noch nicht.

Dieser Nacht folgte ein blauer Sonntag. Cyrill hatte die Frühmesse besucht und war nun allein zu Hause; in einer feiertägigen Stimmung, die während des Hochamtes das ganze Dorf zu beherrschen pflegt. Er grübelte über die Botschaft, die ihm hinterbracht worden war, und dachte: die Mena spreizt sich etwas, begreiflich! Aber es kann nicht ihr Ernst sein, daß sie eine solche Partie ausschlägt. Außer meinen Füßen bin ich ja stark und gesund; und wenn einmal ein paar frische Kinder herumspringen, wird sie nicht mehr dran denken. Und wer sieht's denn, wo ich doch den ganzen Tag hinter meiner Arbeit sitz? Und dann: wir werden nicht zu Fuß gehen, wir werden fahren! Roß und Wagen werden angeschafft . . . Diese Phantasie berauschte ihn. Er sah seine Buben mit geraden Gliedern auf dem Hausanger spielen, hörte sie jauchzen und erlebte so ein Leben, reich an Freuden, die ihm selber versagt geblieben waren.

Um dieselbe Zeit saßen die Brüder auf der Empore. Nachher gingen sie die Kirchenstiege herab. Hier wurden sie durch eine Ansammlung vor einem »Buchstabie« aufgehalten, das sie bei genauerem Hinschauen blaß werden ließ. Es lautete:

Es sprach zu seinen Brüdern Veit,
Der Schneider, voller Heiligkeit:
Oh, laßt uns singen und beten, die Frommen
Werden einst stracks in den Himmel kommen.

Doch nächtlich steigt er schnurgerad
Den allerbösesten Sündenpfad:
Der Schelm will lieber selig werden
In Menas Bett schon hier auf Erden.

Die Brüder maßen sich mit einem stummen Blick. Jetzt wußten sie alles. Veit riß den Zettel herab, und Fabian ging wortlos davon. 248 Deshalb hatte also der feine Bruder in der letzten Zeit die Bibelstunde immer so schnell abgebrochen und sich so frühzeitig zu Bett begeben! Und aus diesem Grunde war er, Fabian, abgewiesen worden . . . Wie die beiden Brüder das Haus betraten, sahen sie, daß dieses verfluchte »Buchstabie« auch Cyrill schon erreicht: es lag vor ihm auf dem Tisch. Entgegen aller Gewohnheit, sprachen die Brüder beim Mittagessen kein Wort. Da der Nelkenstock den Schüsseln im Weg stand, wollte Veit ihn auf die Fensterbank hinüberheben, kam aber schön an. »Stehenlassen!« sagte Cyrill energisch.

Am folgenden Tag ließ Cyrill sich von Fabian in eine Stör fahren. Er saß wie immer in seinem Wägelchen, und sie zogen einen Wiesenweg hin, dicht gesäumt mit Dotterblumen. Dem Fabian schien dies eine günstige Gelegenheit, dem Bruder klarzumachen, was geschähe, wenn er den Veit wirklich vom Militär loskaufte. »Tyr – Tyr – Tyr – Tyrannisieren tut er uns jetzt schon, als ob er unser Vater wär. Und der harte Mi – Mi – Mi – Militärdienst hat schon manchen wieder auf den rechten Weg gebracht. Jetzt begreif ich auch, warum in der letzten Zeit die gemeinsame Ka – Ka – Ka – Kasse nicht gestimmt hat. Woher hätt denn dieses Frauenzimmer die Halstücher und Silberketten?«

Dazu kam die Schande, dem öffentlichen Spott preisgegeben zu sein, und Cyrill geriet darüber in eine solche Aufregung, daß er in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach. 249

 


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