Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Der Revolver.

Nachdem Hilda Tressingham Garniers Wohnung verlassen hatte, eilte sie zunächst planlos umher. Die Ereignisse das Tages hatten sie verwirrt und unsicher gemacht. Die Furcht vor einer unbekannten Gefahr trübte ihr sonst so klares Denken. Im Augenblick stand nur das eine in ihrem Bewußtsein fest, daß sie sich in Garnier getäuscht hatte. Sie hatte eine immer wachsende Leidenschaft zu dem Manne empfunden und war der Ansicht gewesen, daß Garnier ihre Gefühle teilte.

Nun aber wirkte es wie ein Schlag auf sie, daß Armand offenbar ganz anders dachte. Nicht im geringsten hatte er sich darüber gefreut, daß sie frei von einer verhaßten Ehe werden würde. Nach Frauenart stellte sie sich sofort die Frage: War er ihrer überdrüssig? Er hatte nur an seine persönliche Sicherheit gedacht, er hatte es offen ausgesprochen, daß ihre Anwesenheit in seiner Wohnung ihm Gefahr bringen könnte. Was sollte das bedeuten? Hier lag etwas zwischen ihr und Garnier, das der Klärung bedurfte.

Wo die Möglichkeit des Fahrens bestand, pflegte Hilda sonst nicht zu Fuß zu gehen. Aber heute war sie so kopflos, daß sie sich plötzlich in dem Gewirr von Gassen zwischen der Nationalgalerie und dem Haymarket befand. Sie wußte nicht, wie sie dahin gekommen war. Sie merkte es erst, als sie vor dem Schaufenster eines Waffenschmiedes stand. Ihre nun folgende Handlung hätte sie sich ebensowenig erklären können wie ihre Anwesenheit in dieser Straße. Sie ging in den Laden und verlangte einen Revolver. Sie sah den Verkäufer etwas erstaunt an, als er ihr erklärte, daß er ohne einen Waffenschein das Verlangte nicht verabfolgen könnte. Da fiel ihr ein, daß sie in ihrer Wohnung einen Revolver liegen hatte und auch den Schein. Und sie dachte, daß beides ihr genau soviel nützen würde, wenn es am Nordpol läge.

»Aber ich reise in einer Stunde und brauche die Waffe.«

Der höfliche Angestellte erinnerte daran, daß man in der nahe gelegenen Post einen Waffenschein kaufen könne. Und Hilda holte ihn und kaufte den Revolver und einen kleinen Vorrat von Patronen. Dann begab sie sich zu Mr. Barthelemys Haus.

Barthelemy hatte einen vertrauten Diener, der so klug und verschlagen war, als sein Herr es sich nur wünschen konnte. Dieser Mann öffnete, und da er Hilda sehr gut kannte, ließ er sie ohne weiteres ein.

»Mr. Barthelemy ist noch nicht da«, sagte er, »er muß aber jede Minute kommen. Vielleicht warten Sie solange.«

»Ja«, erwiderte Hilda. Das paßte ihr gerade.

Sie wurde in einen kleinen Raum geführt, halb Bibliothek, halb Rauchzimmer. Ihr Alleinsein benutzte sie, um den Revolver zu laden. Auch jetzt wußte sie noch nicht recht, warum sie die Waffe gekauft hatte. Das Papier, in das sie eingewickelt gewesen war, versteckte sie hinter einer Bücherreihe. Dann setzte sie sich und wartete auf Barthelemy.

Grabesstille herrschte im Hause. Der Abend kam, aber nicht der Herr des Hauses, und Hildas Nerven begannen sich zu melden. Sie schellte, und der Diener kam.

»Sie wissen nicht, wie lange Mr. Barthelemy noch ausbleiben wird?«

»Nein, aber er beabsichtigt, hier zu speisen. Man wartet schon mit dem Essen auf ihn. Ich nahm an, er hat Sie zu Tisch gebeten.«

»Nein. Aber ich muß warten, bis er kommt, und ich habe Hunger. Können Sie mir nicht ein paar Biskuits und Whisky mit Soda bringen?«

Der Mann wußte, daß Frau Tressingham zu dem intimsten Bekanntenkreis seines Herrn gehörte, und er beeilte sich, ihren Wünschen nachzukommen. Durstig schlürfte sie das Getränk und aß. Plötzlich trat Barthelemy ein, in der Hand ein Zeitungsblatt.

Sie sah auf den ersten Blick, daß er bestürzt und in Angst war. Sorgfältig schloß er die Tür hinter sich und blickte sie an. Hilda stand auf. Schweigend starrten sie einander an.

»Haben Sie nichts von Garnier gehört?« fragte er schließlich. »Oder ihn gesprochen?«

Barthelemy legte die Zeitung auf den Tisch.

»Ich habe nichts von ihm gehört«, antwortete sie.

»Ihn auch nicht gesehen?« rief er aus.

»Nein.«

Er wies auf ein paar fett gedruckte Zeilen in der Zeitung.

»Was hat das zu bedeuten? Etwas muß geschehen sein. Zehntausend Pfund Belohnung, das klingt ernst, sehr ernst. Ich wiederhole, etwas muß geschehen sein.«

»Aber Armand – Armand?« fragte sie.

Barthelemy schüttelte den Kopf.

»Nachdem ich das in der Zeitung gelesen hatte, läutete ich ihn an. Es kam keine Antwort, auch Meunier meldete sich nicht, der doch immer zu Hause bleibt, wenn sein Herr die Wohnung verläßt. Ich fürchte, Freund Armand ist ausgerückt.«

»Aber wohin denn?«

»Wo er in Sicherheit ist, natürlich.«

»Aber er sagte mir –« stammelte sie, »er sagte mir –«

Sie brach ab, und Barthelemy wurde aufmerksam.

»So haben Sie ihn also doch gesprochen? Sagen Sie die Wahrheit. Sie sind nicht ohne bestimmte Absicht in mein Haus gekommen.«

»Da ist nicht viel zu sagen. Ich habe heute nachmittag mit Armand gesprochen.«

»Wo?«

»In seiner Wohnung.«

»Dachte ich es mir doch. Und?«

»Er schien zu glauben, daß Gefahr bestünde. Woher, verstand ich nicht recht. Er schickte mich hierher. Ich sollte auf ihn warten.«

In Barthelemys Augen flackerte es. Er sah aus wie ein wildes Tier, das in Wut gerät.

»Ah«, sagte er, »also es droht Gefahr. Und Sie sollten sich hier in Sicherheit bringen. Aber er? Was ist mit ihm?«

»Er wollte mich hier treffen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick.«

Barthelemy lachte. Der Klang ließ sie erschauern. Mit gekrallten Fingern kam er auf sie zu.

»Nun will ich die Wahrheit hören. Sagte Armand de Garnier, daß Gefahr in seiner Wohnung drohe? Antworten Sie rasch.«

»Ja.«

»Warum?«

»Er nahm an, daß mir Detektive dorthin gefolgt wären.«

»Aha! Und da schickte er Sie hierher? Und Sie waren dumm genug zu glauben, er würde Ihnen nachkommen? Törichte Frau, sobald Sie den Rücken drehten, hat er sich natürlich davon gemacht. Also Detektive sind Ihnen gefolgt? Dann ist die Sache also durch Ihre Schuld herausgekommen. Detektive? Sieh mal –«

Plötzlich kam er ganz nahe heran und griff nach ihrer Kehle.

»Ich will dafür sorgen, daß Sie den Detektiven nichts ausplaudern«, zischte er. »Sie werden wohl den Mund halten –«

Hilda sprang beiseite, nahm den Revolver und richtete ihn auf Barthelemys Herz.

»Wenn Sie noch einen Schritt näher kommen«, sagte sie, »schieße ich Sie über den Haufen. Sehen Sie sich vor!«

Immer den Revolver auf ihn richtend, griff sie mit der anderen Hand hinter sich und öffnete die Tür. Sie lief durch den Korridor, riß die Haustür auf und war mit einem Satz auf der Straße. Dort verschwand sie im Dunkel.

Barthelemy wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat an das Fenster. Er sah im Schein der Laternen, wie Hilda die Straße kreuzte. Und dann bemerkte er mit Entsetzen, wie sie plötzlich von Männern umringt war, die aus dem Erdboden gekommen zu sein schienen.

 


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