Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Sechstes Kapitel.

Verschiedene Briefe.

Die Hand auf dem Türgriff blieb Hilda stehen und blickte den Bruder an. Zum erstenmal seit Jahren hatte er ihr gezeigt, wie es in seiner Seele aussah, und sie merkte, daß seine Nachlässigkeit, sein Einsiedlerdasein Verstellung war.

»Steht es so?« sagte sie. »Ich habe manchmal darüber nachgedacht, ob es dir Ernst ist mit deinem Diogenesspielen.«

»Was sollte ich machen? Von der niedrigen Pacht kann kein Mensch leben, du bist mit deinen fünfhundert Pfund Jahresrente besser daran als ich. Ja, wenn man im Park Öl oder Kohlen graben könnte –«

»Du mußt günstige Gelegenheiten ausnutzen«, sagte sie schnell. »Hier ist eine, geh' nicht daran vorüber.«

»Wo?«

Hilda lachte spöttisch.

»Wer kein Geld hat, muß sich an Leute heranmachen, die mehr haben, als sie brauchen können. Diese Ellingtons schwimmen im Gelde. Aber nun muß ich Mawsey wegen des Essens suchen.«

Aber Mawsey kam ihr schon entgegen und überreichte ihr zwei Briefe. Sie sah sofort, daß der eine von ihrem Mann aus Indien, der andere von Armand de Garnier war. Aber es war nicht ihre Gewohnheit, sich durch irgend etwas in ihrem augenblicklichen Vorhaben stören zu lassen, und so rief sie den Mann zurück.

»Ich suchte sie gerade. In den nächsten Tagen bekommen wir Besuch, ich erwarte Herrn und Frau Ellington aus Ashminster.«

Mawsey, ein verwöhnter, alter Bedienter, der schon im Schloß gewesen war, ehe Hilda und ihr Bruder das Licht der Welt erblickt hatten, und der nun mit seiner Frau und zwei Töchtern das ganze Dienstpersonal bildete, zog bedenklich die Augenbrauen hoch. Hilda lächelte, als sie seine Gedanken erriet.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, fügte sie schnell hinzu. »Wir beide werden alles vorbereiten, ich gebe Ihnen das nötige Geld. Wir müssen uns nur über die Zimmer einigen.«

Mawsey sah sich in der riesigen, leeren Vorhalle um. Seit Jahren war kaum einer der Gesellschaftsräume benutzt worden.

»Wir werden eine ziemliche Zeit dazu brauchen«, sagte er zweifelhaft.

»Nicht nötig. Sie werden nicht lange bleiben. Ich komme mit ihnen von Ashminster und bringe sie durch den Parkeingang. So sehen sie diesen Teil des Hauses überhaupt nicht. Sie decken im Prinzenzimmer, das ist in ein paar Stunden hergerichtet. Die Bibliothek nebenan ist sowieso in Ordnung.«

Mawseys Gesicht glänzte. Das Prinzenzimmer, so genannt, weil ein königlicher Prinz während einer Jagd hier gefrühstückt hatte, war ein kleiner Raum, der schnell gefegt und gewischt war. Da befanden sich außerdem kostbare alte Möbel und wertvolle Gemälde, die die Familie in ein gutes Licht setzten.

»Ich sorge für alles, Mylady«, sagte er. »Wir haben aber keinen Sekt im Hause.«

»Wird auch da sein. Morgen nach dem Frühstück sprechen wir über das andere.«

Sie ging mit den beiden Briefen auf ihr Zimmer in dem Gefühl, daß der eine oder der andere Neuigkeiten enthalten könnte, die ihr nicht angenehm wären. Sie verglich die Handschriften auf den Umschlägen miteinander, und dabei fiel ihr Auge unwillkürlich auf zwei Photographien, die auf einem Tischchen standen. Da war Armand de Garnier, vierschrötig, einen hochmütigen Zug um die Augen, lächelnd wie ein Mann, der es liebt, von Behagen und Luxus umgeben durch das Leben zu wandeln. Und daneben der Oberst, ein großer, schlanker, altmodisch-vornehmer Herr von fünfzig Jahren mit spärlichem Haar an den Schläfen und Fältchen um die gütigen Augen.

Mancher hatte sich gewundert, als Oberst Tressingham, damals ein Junggeselle von vierzig Jahren, ein achtzehnjähriges Mädchen heiratete. Andere wieder hatten es nicht begreifen können, daß ein so schönes Mädchen einen Mann nahm, der ihr Vater sein konnte. Der Oberst hatte sie geheiratet, weil er rasend verliebt war. Sie hatte ihn genommen, um aus dem Elend von Hartsdale herauszukommen. Hilda hatte sich nicht verrechnet. Er war reich, wenigstens damals. Er hatte seinen Abschied genommen, um ihr ein Stück von der Welt zeigen zu können. So war sie zufrieden, reiste mit ihm durch Europa und langweilte sich niemals.

Dann aber mußte der Oberst nach Indien zurück. Er hatte dort einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in Unternehmungen gesteckt, die der peinlichsten Überwachung dringend bedurften. Hilda ging mit und stellte zu ihrem Mißvergnügen fest, daß man Jahre hier würde zubringen müssen, sollte das Geld ihres Mannes gerettet werden. Zwei Jahre hielt sie es in einer Gegend aus, in der von Geselligkeit keine Rede war. Dann kehrte sie nach England zurück und überließ Tressingham seinen geschäftlichen Kämpfen und Sorgen.

Sie hatte jährlich fünfhundert Pfund aus eigenem Vermögen. Dieselbe Summe bekam sie von ihrem Mann. Mit diesem Einkommen richtete sie sich in Mayfair eine hübsche Wohnung ein und begann, das Londoner Leben zu genießen. Da lernte sie Armand de Garnier kennen, und seitdem war es ihr gleichgültig, wie lange der Oberst in Indien blieb.

Schließlich löste sie das Siegel des indischen Briefes. Und als sie die ersten Zeilen überflogen hatte, wußte sie, daß die Ahnung kommender Unannehmlichkeiten sie nicht betrogen hatte.

»Ich schreibe in größter Eile«, hieß es in dem Brief Tressinghams, »denn ich will den Postwagen abfangen, damit Du die Nachricht sobald wie möglich erhältst. Leider ist es keine gute. In den letzten Wochen habe ich endlich in meinen Geschäften klar sehen können. Die Pflanzungen sind schlechter verwaltet worden, als ich dachte. Zwar hat sich die Sachlage infolge meiner Aufsicht gebessert, immerhin werde ich ohne Verluste nicht davonkommen.

Die Verhältnisse liegen nun so: Entschließe ich mich dazu, noch fünf, sechs Jahre hierzubleiben, so habe ich Aussicht, das Geld wieder herauszubekommen, das ich vor fünfzehn Jahren hineingesteckt habe. Aber Du willst ja nicht zurückkommen, und ich habe wenig Lust, hier weiter wie ein Neger zu schuften. Auch sagt der Arzt, daß ich nach weiteren fünf Jahren in Bengalen erledigt bin.

Nun hat Nicholson, den Du ja kennst, mir vorgeschlagen, den Kram zu kaufen. Er will mir die Hälfte der Summe, die ich einst anlegte, bar bezahlen, und zwar sofort, wenn ich einverstanden bin. So habe ich nun die Wahl, entweder frei von aller Sorge mit einem sicheren, wenn auch verringerten Einkommen heimzukehren, oder wider meinen Willen und zum Schaden meiner Gesundheit dazubleiben, um freilich damit mein ganzes Vermögen wiederzugewinnen. Wofür soll ich mich nun entscheiden? Ich lege es in deine Hände.

Ich möchte, daß Du die finanzielle Tragweite ganz übersiehst. Wenn ich jetzt Schluß mache und nach Hause komme, bleiben mir fünfzehnhundert Pfund jährliche Rente. Mit Deinen fünfhundert hatten wir zweitausend zur Verfügung. Meine Sehnsucht ginge dahin, einen kleinen Ort in Mittelengland zu suchen, wo man reiten, jagen und fischen kann. Damit wären alle meine Wünsche erfüllt.

Andererseits besteht kein Zweifel daran, daß ich mein ganzes Vermögen und vielleicht noch etwas mehr zurückgewinnen würde, wenn ich noch fünf Jahre hierbliebe. Dann hätten wir viertausend statt zweitausend.

Sage mir ganz offen, wie Du darüber denkst. Gern verliere ich mein Geld natürlich auch nicht. Wäre ich noch jünger, wäre das Klima nicht so ungünstig, und vor allen Dingen, wärest Du hier bei mir, so würde ich von diesem Ort nicht wanken und nicht weichen, bis ich alles erfolgreich ausgeführt hätte. Aber ich bin nicht mehr jung, ich habe Sehnsucht nach der Heimat und nach Dir. Aber wie gesagt, die Entscheidung liegt bei Dir. Sage mir frei heraus, was Du meinst. Meiner Ansicht nach würden wir mit zweitausend Pfund jährlich auskommen. Also schreibe mir.«

Langsam steckte Hilda den Bogen wieder in den Umschlag. Sie ging an ihren Schreibtisch und entwarf den freimütigen Brief, den ihr Gatte verlangte. Offenheit ist ebenso billig wie Höflichkeit. So spendete Hilda reichlich davon an ihren fernen Mann.

Zunächst erinnerte sie ihn daran, daß sie auf das Urteil der Ärzte nie großen Wert gelegt habe. In den vergangenen zehn Jahren habe sie seinen Gesundheitszustand reichlich kennengelernt. Sie sehe nicht ein, warum fünf weitere Jahre Indien die Gesundheit eines so kräftigen und dabei soliden Mannes ruinieren sollen. Außerdem habe er ja gar nicht nötig, ständig auf der Plantage zu leben. Er könne ja ab und zu einen andern Ort aufsuchen und etwas für seine Unterhaltung tun. Außerdem könne er ja auch in die Berge gehen, warum denn nicht?

Aber vor allen Dingen – wäre es nicht über die Maßen töricht, jetzt fortzugehen, wo er doch selbst sage, daß er in fünf Jahren sein ganzes Vermögen wiederhaben könne? Denn es wäre doch zweifellos ein gewaltiger Unterschied zwischen viertausend Pfund Einkommen und einem solchen von lumpigen fünfzehnhundert. Er möge sich in seiner Entscheidung nicht übereilen. Sollte ihre Anwesenheit die Hauptsache für ihn sein, nun, so müßte sie eben kommen.

Aber sie lächelte bei dem Gedanken, während sie das Kuvert versiegelte, das diesen echt weiblichen Brief einschloß. Zeit gewinnen, darauf kam es ihr allein an. Es paßte ihr nicht in ihren Kram, daß Oberst Tressingham jetzt zurückkam, ganz und gar nicht.

Sie nahm den Brief von Garnier und öffnete ihn rasch. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er enthalten könnte. Sie faltete den Bogen auseinander und fand nur eine Zeile in Armands Riesenhandschrift hingekritzelt.

»Kommen Sie sofort nach London, sobald die Wahl vorüber ist.

A. G.«

 


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