Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Garniers Zorn.

Draußen im Korridor hatte inzwischen der Minister Ellington in einen unbelauschten Winkel gezogen.

»Klar, wie die Sonne, Ellington«, flüsterte er. »Die Frau hat das Dokument entwendet.«

George machte ein verblüfftes Gesicht.

»Aber es war doch alles unversehrt.«

»Tut nichts. Sie hat Zeit genug gehabt, und irgendwie hat sie Tasche und Umschlag geöffnet, ohne Spuren zu hinterlassen. Klar, ganz klar.«

»Aber – ihre Beschuldigung gegen mich?«

»Klug ausgedacht. Wollen sehen, wie Sie zu rechtfertigen sind, abgesehen von der Torheit, das Papier auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.«

Ellington ließ den Kopf hängen.

»Aber das ist vorläufig nebensächlich. Jetzt gilt es, zu handeln. Kommen Sie.«

Als der hohe Herr kurz vor Hilda die Straße betrat, schlenderten zwei Individuen daher, die wie gut gekleidete Spaziergänger aussahen. In der Nähe wartete ein Auto. Der Minister zwinkerte mit dem einen Auge, und sofort stand eins der Individuen neben ihm.

»Wilkinson«, sagte er, »gleich werden Sie eine Dame sehen, Frau Tressingham, eine schöne, schlanke Frau –«

»Ich kenne sie, Herr«, sagte der Mann.

»Gut. Sie wird gleich Ellingtons Haus verlassen. Folgen Sie ihr, wohin sie auch geht. Nehmen Sie Tybur mit, und berichten Sie mir von Zeit zu Zeit. Aber verlieren Sie die Dame nicht aus den Augen.«

Hildas erster Gedanke war, Garnier aufzusuchen. Es war ungewiß, ob sie ihn um diese Stunde treffen würde. Aber Meunier ließ sie ein und führte sie zu Garniers Arbeitszimmer, wo er in einer Wolke von Zigarrenrauch am Tisch saß und emsig schrieb.

»Nun?« sagte er ungeduldig.

»Ich habe Ihnen viel zu erzählen, sehr viel.«

»Ist es so wichtig? Ich habe eilige Briefe zu schreiben. Hat es nicht Zeit für den Klub?«

»Es handelt sich um das Geheimdokument.«

»Die Sache ist erledigt. Das Papier ist in Frankreich, und die englische Regierung hat keine Ahnung, wie es dahin gekommen ist.«

Hilda sah ihn bedenklich an.

»Es läge in unser beider Interesse, wenn Sie mich anhören würden.«

»Dann meinetwegen. Aber fassen Sie sich kurz.«

Doch es war für Hilda nicht so leicht, sich kurz zu fassen. Garnier hörte zu, als ginge ihn das ganze gar nichts an. Er rauchte seine Zigarre weiter, und nichts an seinem Gesichtsausdruck verriet, was in ihm vorging. Aber als sie fertig war, sprang er plötzlich auf, warf die Zigarre in die Ecke und stieß einen französischen Fluch aus, dem er einen englischen folgen ließ.

»Tod und Verdammnis«, schrie er, »das alles haben Sie erzählt? Und noch dazu vor ihm, vor ihm!«

»Vor wem?« fragte sie verwundert.

»Vor dem Minister. Und warum bloß, warum in aller Welt? Warum sind Sie freiwillig ins Garn gelaufen? Welcher Teufel plagte Sie?«

»Ich tat es, weil Tressingham dabei war.«

Garnier machte eine Bewegung, als wollte er sich die Haare ausraufen.

»Was zum Kuckuck hat Tressingham damit zu tun? Sie machen mich noch verrückt mit Ihrem Unsinn.«

»Aber denken Sie doch an die anonymen Briefe«, stammelte sie, unsicher gemacht durch Garniers sinnlose Wut, »ich dachte, wenn ich es zugäbe, würde Tressingham die Konsequenzen ziehen, und ich bekäme meine Freiheit. Begreifen Sie das nicht, Armand?«

Es lag ein Flehen um Erbarmen in ihrer Stimme, aber Garnier stampfte mit dem Fuß auf.

»Hat man je eine solche Dummheit erlebt?« brüllte er. »Was hat Ihre Freiheit damit zu tun? Was?«

»Ich dachte an die Möglichkeit, uns zu heiraten«, sagte sie leise.

»Himmel, jetzt denken Sie an Heirat? Hinter Schloß und Riegel wird man uns setzen, wenn wir uns nicht in Sicherheit bringen.«

»Aber – warum denn?«

»Mein Gott, sind Sie auf einmal einfältig. Nachdem Sie das alles dem Minister erzählt haben, diesem alten Fuchs.«

»Er schien meine Worte nicht sehr wichtig zu nehmen.«

»Haben Sie eine Ahnung! Und Sie haben zugegeben, daß das Dokument in Ihrer Hand war?«

»Ja, aber ich sagte, Ellington hätte es mir gegeben.«

Garnier tanzte förmlich vor Wut umher.

»Und diese Frau habe ich für vernünftig gehalten! Jetzt bin ich überzeugt, daß alle Weiber Idioten, Schafe sind. Was ändert das mit Ellington daran? Er weiß, daß Sie das Papier gehabt haben, und den Rest kann er sich denken. Kommen Sie direkt aus der Curzonstraße?«

»Direkt.«

Garnier stöhnte.

»Nun ist alles aus. Zu was für Torheiten ist doch eine Frau fähig, wenn sie nur ihre eigenen armseligen Ziele im Auge hat. Alles aus, und dabei keine Zeit zu verlieren.«

Und mit einer Geschwindigkeit, die seinen Besuch in Erstaunen setzte, begann er die Briefe und Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen, zu zerreißen und in das Kaminfeuer zu werfen. Dann öffnete er sämtliche Schubladen des Schreibtisches, nahm weitere Papiere heraus und bereitete ihnen dasselbe Schicksal. Schweigend sah Hilda zu.

»Was soll das bedeuten?« fragte sie endlich.

»Das soll bedeuten, daß wir diese Nacht im Gefängnis schlafen, wenn wir uns nicht eiligst davonmachen. Wären Sie heute nicht so ganz hoffnungslos närrisch, dann würden Sie begreifen, daß der Minister Sie nicht mehr aus den Augen läßt.«

»Ich wollte Ellington verderben«, sagte sie müde.

»Und nun verderben Sie mich«, gab Garnier zurück.

Er schellte. Ernst und unerschütterlich wie immer erschien Meunier. In einem französischen Patois gab Garnier ihm einen Befehl. Als er gegangen war, fuhr sein Herr fort, unter ständigem Fluchen weitere Schriftstücke zu vernichten, Goldstücke, Banknoten und Scheckbücher einzustecken, kurz, alle Vorbereitungen für eine eilige Abreise zu treffen.

»Sie sehen aus, als wollten Sie die Flucht ergreifen«, sagte Hilda halb spöttisch.

»Das will ich auch, falls es noch möglich ist. Aber –«

Meunier blickte durch die geöffnete Tür und gab einen kurzen Bericht.

Garnier seufzte tief auf.

»Dachte ich's doch«, sagte er verzweifelt. »Meunier kennt alle Londoner Detektive. Unten steht einer, der sonst immer um den Minister herum ist. Natürlich hat er Sie von Ellingtons Wohnung aus verfolgt. Nun ist der Teufel los. Sie müssen fort, Sie dürfen hier nicht gefunden werden.«

»Aber wie?« fragte Hilda, als Garnier sie der Tür zudrängte.

»Es gibt noch einen zweiten Ausgang durch das Gartenhaus. Dort kommen Sie auf kleine Nebengassen. Sie werden den Weg schon finden. Gehen Sie ja nicht etwa nach Hause, um Geld zu holen. Gehen Sie lieber in den Klub, zu Barthelemy. Dort sind Sie sicher und können auf mich warten. Auch für mich ist das der einzige Zufluchtsort. Dann müssen wir weitersehen. Jetzt schnell. Aber hören Sie, kein Wort von all dem zu Barthelemy. Das hat Zeit, bis ich da bin. Vergessen Sie das ja nicht.«

Er führte sie über Korridore und Treppen bis zu einem schmalen, dunklen Gang, der auf eine Seitenstraße auslief. Und Hilda Tressingham ging davon, ahnungslos, daß man ihr auf den Fersen folgte.

 


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