Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Siebzehntes Kapitel.

Aus dem Wege geräumt.

Avorys Wohnung war sehr bescheiden eingerichtet. Hier war nichts von dem Luxus zu sehen, mit dem sich sein Freund Banister King umgab. King war ein reicher Mann, der sich kaufen konnte, was ihm gefiel, der, wie seine Laune ihn überkam, plötzlich nach Paris oder Wien fuhr.

Avorys Mittel dagegen waren beschränkt. Eine Art von Glücksritter, benutzte er seine einfach möblierte Wohnung eigentlich nur als Aufenthalt während der Nacht. Sogar sein Frühstück nahm er außer dem Hause ein. Infolgedessen brauchte er auch nur wenig Bedienung. Als Aufwartung genügten ihm die Bewohner der unteren Regionen, der Portier Bryson und dessen würdige Gattin. Sie reinigten Zimmer und Kleider, besserten seine Wäsche aus, putzten die Stiefel, und nach Frau Brysons Ansicht gehörte Avory zu den seltenen Gentlemen, die einer geplagten Frau keine unnötige Arbeit machen und darum einen wahren Schatz bedeuten.

Es war Frau Brysons Gewohnheit, täglich gegen elf die Treppe zu Avorys Wohnung hinaufzusteigen. Das tat sie auch an diesem Morgen. Sie öffnete mit einem besonderen Schlüssel die Korridortür. Am Kleiderriegel hingen Avorys Mantel und Hut. Die wackere Frau ersah daraus, daß der Mieter noch nicht ausgegangen war. Da das Wohnzimmer leer war, mußte er sich noch im Schlafzimmer befinden.

Darüber wunderte sie sich, denn Avory war ein Mann peinlichster Ordnung, der regelmäßig um neun aufzustehen pflegte. Es war ein heißer Vormittag, und die korpulente Dame hatte wenig Lust, den Weg die Treppe hinauf später noch einmal zu machen. So entschloß sie sich, an die Schlafzimmertür zu klopfen und zu fragen, ob der Herr sich unwohl fühle und vielleicht ihrer Hilfe bedürfe. Aber es kam keine Antwort. Schließlich wagte sie es, die Tür ein wenig zu öffnen.

Mr. Avory lag friedlich in seinem Bett, wie ein unschuldiges Kind im Nachtrock, pflegte Frau Bryson später zu sagen. Er hatte die Bettdecke bis zum Kinn heraufgezogen, sein Gesicht war deutlich sichtbar. Und plötzlich entdeckte Frau Bryson etwas in diesem Gesicht, das sie erst stutzen, dann laut aufschreien und schließlich eiligst die Treppe herunterstürzen ließ, so daß die wenigen Leute, die ihr begegneten, ihr erstaunt nachsahen.

»Tot! Blödsinn«, rief Bryson. »Er schläft fest, Mathilde. Das kommt davon, daß er nachts immer solange ausbleibt. Tot, Unsinn.«

»Geh hinauf und sieh selbst, John Bryson«, erwiderte seine Frau aus der Tiefe des Lehnstuhls, auf dem sie zusammengesunken war. »Du mußt nach der Polizei und nach dem Beamten des Coroners schicken, so wahr ich hier sitze. Als wenn ich nicht wüßte, wie ein Toter aussieht, die ich erst vor vierzehn Tagen meinen eigenen Bruder begraben habe.«

Bryson, der gerade Schuhe putzte, band knurrend seine grüne Schürze ab und ging die Treppe hinauf. Seine Frau folgte ihm, nachdem sie durch einen herzhaften Schluck aus einer schwarzen Flasche frische Kräfte gesammelt halte. Als sie nach oben gekeucht war, traf sie ihren Gatten mit feierlicher Miene in Avorys Wohnzimmer.

»Du hast recht, Mathilde«, sagte er flüsternd. »Er ist dahin. Muß im Schlafe gestorben sein. Dabei hat man ihm nie etwas angesehen.«

»Es war das Herz, John. Was machen wir nun?«

Bryson fiel nur die Polizei ein. Aber seine Frau hatte eine Erleuchtung.

»Er und Mr. King waren Freunde. Klopf bei ihm an. Er steht nie vor eins auf, wird also sicher noch zu Hause sein.«

Aber soviel Bryson auch klopfte und schellte, Banister King meldete sich nicht. Denn er hatte just am Tage zuvor eine seiner plötzlichen Reisen angetreten, um in einer toskanischen Stadt eine wertvolle Vase, von der ihm irgendein Weltbummler erzählt, gegen gutes englisches Gold einzuhandeln. So war niemand da, der Richard Avory den letzten Freundesdienst hätte erweisen können, denn die Brysons kannten sonst keinen Verwandten oder Bekannten dieses Herrn, der ihnen so wenig Umstände gemacht hatte. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Arzt und die Polizei zu benachrichtigen.

Die Gesetze Englands legen die Untersuchung über die Ursachen des plötzlichen Todes eines Menschen in die Hände des Coroners und seiner Geschworenen. Natürlich hatte Avory Verwandte und Freunde, aber nicht viele. Da war ein Bruder, Notar in einer Provinzstadt, der ihn seit langen Jahren nicht mehr gesehen hatte und nur wußte, daß er Anwalt mit mäßiger Praxis gewesen war. Dann hatten ihn einige Kollegen gekannt, die auch nicht viel über ihn zu sagen wußten. Dem Coroner und seinen Geschworenen war das auch gleichgültig, sie wollten nur wissen, ob Avory Selbstmord begangen, ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben war.

Es gab nur drei Zeugen von einer gewissen Bedeutung: den alten Stephan Ellington, einen Diener aus dem Amaranthklub, endlich einen bekannten Arzt, der die Obduktion der Leiche besorgt hatte. Ihr Zeugnis war sehr klar und einfach, und es gab zwei Männer in London, die einander bedeutungsvoll ansahen, als sie bei einem zufälligen Zusammensein die Aussagen der drei in der Zeitung lasen.

Stephan Ellington gab an, daß Avory am Abend vor seinem Tode mit ihm und seiner Tochter in einem Westend-Restaurant gespeist habe. Kurz vor elf hatten sie sich getrennt. Ob Mr. Avory viel Wein getrunken habe? Nur ganz wenig, und das noch mit Mineralwasser vermischt. Überhaupt hatte Ellington ihn nur als mäßigen Menschen gekannt. Nichts im Benehmen von Mr. Avory oder in seinem Aussehen hatte auf Unwohlsein oder drohende Erkrankung schließen lassen.

Der Klubdiener erklärte, Mr. Avory, der ihm gut bekannt sei, wäre an dem fraglichen Abend zwanzig Minuten nach elf in den Amaranth gekommen, habe sich nur ein Butterbrot geben lassen und dann bis nach Mitternacht in den Abendzeitungen gelesen. Dazu habe er eine einzige Soda mit Whisky getrunken. Dann sei er eine Zeitlang durch die verschiedenen Räume gewandert, habe dann wieder Zeitungen gelesen und sich um zwei Uhr mit den anderen Gästen entfernt. Der Zeuge hatte gesehen, daß er die Richtung der Jermynstraße einschlug. Anscheinend habe Mr. Avory sich durchaus wohl und munter befunden.

Am bedeutsamsten war das Zeugnis des Arztes. Bei dem Toten hatten sich ebensowenig Spuren von Gift wie solche, die auf übermäßigen Genuß von Alkohol oder anderen Rauschmitteln schließen ließen, gefunden. Offensichtlich hatte Avory im Schlaf einen Herzschlag erlitten.

»Sie sind davon fest überzeugt?« fragte der Coroner.

»Ganz fest.«

So entschieden die zwölf Geschworenen, daß Richard Avory eines natürlichen Todes gestorben sei. Er wurde bestattet, und die Aufregung, die der Fall verursacht hatte, legte sich rasch. Niemand trauerte ihm besonders nach, nicht einmal Marcia Ellington, die in ihm nur einen Anhänger ihrer sozialen Theorien gesehen hatte.

So verschwinden Leute, die niemand vermißt, von der Bühne des Lebens. Der Bruder ließ Avorys Habseligkeiten aus der Wohnung schaffen. Bryson und dessen Frau machten sie bereit, einen neuen Mieter aufzunehmen, Und sie waren gerade eifrig bei der Arbeit, als Banister King so überraschend heimkam, wie er abgereist war, und die beiden im Treppenflur traf. Bryson sah ihn düster an.

»Ich nehme an, Sie wissen schon, was passiert ist?« begrüßte er King. »Es hat ja lang und breit in den Zeitungen gestanden. Das mit dem armen Mr. Avory.«

»Warum ›armer Mr. Avory‹?« fragte King, der in den Taschen nach seinen Schlüsseln kramte. »Was ist ihm zugestoßen? Hat er sich die Nase oder ein Bein gebrochen?«

Bryson ließ bei diesem Ausdruck von Leichtfertigkeit ein mißbilligendes Räuspern hören. Seine Frau seufzte. »Er ist tot, Herr«, sagte der Portier. »Tot, und bereits begraben.«

 


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