Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Zwölftes Kapitel.

Banister King findet eine Spur.

Mit flüchtigem Kopfnicken verließ Avory seinen Freund, während dieser weiterhin gedankenvoll an seiner türkischen Pfeife sog und auf das bunte Seidentuch starrte, das er über das grüne Götzenbild geworfen hatte. Aber schließlich legte er die Pfeife beiseite, stand auf und sah auf das Zifferblatt einer alten französischen Uhr.

»Ein Viertel nach drei«, murmelte er. »Da wir die letzte Juniwoche haben, dürfte in einer halben Stunde die Sonne aufgehen. Wir wollen uns aufmachen und ihre ersten Strahlen genießen.«

Dann drehte er das Licht aus und zog die Vorhänge auf. Draußen war es taghell. Das Götzenbild stellte er in eine Ecke des Zimmers und sah es mit spöttischen Blicken an.

»Häßlich genug bist du immer, alter Freund«, sagte er, »aber nie so häßlich wie bei Tageslicht. Darum mußt du in der Ecke stehen. Und je mehr ich dich ansehe, um so mehr muß ich mich wundern, aus welchen Gründen der Künstler dich wohl so geschaffen haben mag.«

Lachend ging King in sein Schlafzimmer und vertauschte seine phantastische Tracht mit einem Straßenanzug. Dann verließ er die Wohnung, warf noch einen sinnenden Blick auf Avorys Tür und begab sich in die Jermynstraße.

Um diese Stunde waren Plätze und Straßen menschenleer. Kein Nachtschwärmer ließ sich sehen. Wie ein müßiger Spaziergänger zur Mittagszeit schlenderte King einher, bis er in die Nähe des Amaranthklubs kam. Er lag in einer schmalen, kurzen Sackgasse, und kein menschliches Wesen war in der Gegend zu sehen. Nur eine Katze, die anscheinend ausgeschlossen war, saß auf der Schwelle eines Hauses und sah King jämmerlich an.

King betrat die Sackgasse und betrachtete das Gebäude und das Nachbarhaus, von dem er wußte, daß es Mr. Barthelemy gehörte. Er überzeugte sich davon, daß Avory betreffs der Ausgangsmöglichkeiten recht hatte. Aber ihn interessierte im Augenblick mehr das Nachbarhaus. Es war hoch und schmal im Gegensatz zu dem breiten Klubgebäude. Neben Mr. Barthelemys Haus stand ein anderes, in dem, wie eine Inschrift auf einer Messingplatte verkündete, medizinische Bäder verabfolgt wurden. Das war alles, was er entdecken konnte. Aber es gab ihm genügend Stoff zum Nachdenken.

»Wenn Avory sich nicht geirrt hat«, murmelte er, »wenn wirklich Leute zurückgeblieben sind, so ist das eine totsicher, daß sie nicht im Amaranthklub sich aufhalten. Wie aber können sie sich entfernen, ohne in einer so ruhigen Straße wie diese, Aufsehen zu erregen? Barthelemy ist nicht so dumm, sie morgens zum Klubhaus herauszulassen. Er würde es nicht erwarten, daß die Leute ihm glauben sollten, er gäbe vier- oder fünfmal wöchentlich Gesellschaften. Sein Klub steht im Ruf äußerster Solidität, also – doch sieh da, dort ist ein Polizist.«

Ein Konstabler kam in würdevoller Gemessenheit um die Ecke, sah den einsamen Spaziergänger zuerst forschend an, hob aber dann grüßend den behandschuhten Finger, als er sich entsann, den Herrn schon des öfteren gesehen zu haben. King schwang als Erwiderung seinen Stock und blieb stehen.

»Sie kommen mir wie gerufen, Schutzmann«, begann er ernst, »ich wollte mir gerade eine Zigarre anzünden und muß feststellen, daß ich kein Streichholz bei mir habe. Dabei würde ich im Augenblick ein solches Ding mit Gold aufwiegen.«

Der Beamte grinste. Das war doch einmal ein lustiger Herr mit Sinn für Humor. Rasch zog er eine Schachtel mit Zündhölzern hervor.

»Hier sind welche, Herr. Ein schöner Morgen.«

»Prachtvoll«, erwiderte King.

Langsam zündete er seine Zigarre an und gab die Schachtel zurück.

»Ein entzückender Morgen, und in dieser ruhigen Gegend kann man ihn so recht genießen.«

Und mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers fügte er ganz unauffällig der Zurückerstattung der Streichhölzer das Geschenk von einigen Kronen bei.

»Danke Ihnen, Herr, danke Ihnen herzlich. Sie machen einen Frühspaziergang? Habe Sie schon öfters gesehen, wenn ich nicht irre.«

King nickte würdevoll.

»Das glaube ich. Manche Schutzleute sehen mich des Morgens, fix und fertig angezogen und voll bei Sinnen.«

Der Schutzmann grinste abermals. Für fünf Schilling kann man schon den Witz eines spaßigen Herrn belachen.

»Tatsache ist«, fuhr King fort, »daß ich an starker Schlaflosigkeit leide. Ich kann nun einmal vor sechs Uhr nicht einschlafen. Ich bin bei allen möglichen Ärzten gewesen. Es gibt keine Medizin unter der Sonne, die ich nicht eingenommen hätte. Ich habe eimerweise heißes Wasser und teelöffelweise Porter getrunken, ich habe mich soweit erniedrigt, ein Pfund Zwiebeln auf einmal zu essen. Alles umsonst, vor sechs Uhr morgens kann ich nicht schlafen.«

Der Konstabler, der interessiert und mitleidig zugehört hatte, nickte.

»Ja, so geht es einem. Aber können Sie dann wenigstens schlafen?«

»Ausgezeichnet. Sieben Stunden schlafe ich wie ein Murmeltier.«

»Großartig, Herr. Hatte einen Kollegen, Herr, dem ging es auch so. Konnte nicht schlafen, traurige Familienverhältnisse. Gut, daß Sie wenigstens am Tage schlafen, muß einem schnurrig vorkommen, die ganze Nacht wach zu sein. Bekommt Ihnen dann das Spazierengehen, Herr?«

»Glänzend«, erwiderte King. »Den ersten Teil der Nacht lese ich oder unterhalte mich sonst. Um diese Zeit ungefähr gehe ich spazieren. So habe ich schon einen schönen Teil von Westend kennengelernt. Um halb sechs kehre ich in meine Wohnung in der Jermynstraße zurück, nehme ein wenig leichte Nahrung zu mir, gehe zu Bett und schlafe ein. Oh, ich bin sehr dankbar, daß ich das wenigstens kann. Lieber wäre es mir natürlich, ich könnte zu normalen Zeiten schlafen. Eins habe ich noch nicht versucht, medizinische Bäder. Und sonderbar genug, während ich hier herumbummelte, stellte ich fest, daß am Ende der Straße ein Bad ist. Daß ich das nie zuvor bemerkte!«

Der Konstabler blickte in der Richtung, wo das betreffende Haus lag.

»Stimmt, Herr. Aber zu welcher Zeit möchten Sie die Bäder nehmen?«

»Ich weiß nicht, ich nehme aber an, sie werden des abends am meisten nützen.«

Der Polizist machte ein bedauerndes Gesicht.

»Ach«, sagte er, »dann wird dieses Haus Ihnen nichts helfen. Ich kenne es, denn das ist hier mein Revier. Es ist in den Morgenstunden geöffnet. Sie können es auf dem Schild lesen: morgens von sieben bis zehn, nachmittags von drei bis sechs.«

»Das interessiert mich. Von sieben bis zehn! Das ist allerdings reichlich früh.«

»Hat trotzdem viele Kunden, Herr. Wenn ich um acht zum Dienst kam, habe ich eine Menge herauskommen sehen. Warum abends geschlossen ist, weiß ich nicht. Aber Sie werden sicher ein ähnliches Etablissement woanders finden, Herr.«

»Natürlich, in London findet man alles, was man braucht. Aber ich will weitergehen. Wann ist Ihr Dienst zu Ende?«

»Sechs Uhr dreißig, Herr.«

»So wünsche ich Ihnen guten Appetit für Ihr Frühstück.«

Er beantwortete freundlich des Konstablers Gruß und entfernte sich in der Richtung der St. James-Straße, als wollte er in den Park gehen. Als er sich aber davon überzeugt hatte, daß der Konstabler von der Bildfläche verschwunden war, bog er um eine Ecke, gelangte in die Jermynstraße und suchte seine Wohnung auf. Er lachte leise, als er an Avorys Tür vorüberkam. In seinem Wohnzimmer angekommen, machte er sich erst auf einer kleinen Patentmaschine Kaffee. Er trank ihn mit kleinen Schlucken, während er auf der Tischkante saß und das Götzenbild anstarrte.

»Vielleicht hast du, häßlicher Teufel, mich auf den Einfall gebracht«, brummte er. »Immerhin weiß ich etwas. Und worin besteht dieses Etwas? Nun, ich denke, daß der Amaranthklub und Mr. Barthelemys Privathaus und das medizinische Bad, das seine Pforten gar so früh öffnet, untereinander zusammenhängen. Und ich verspreche mir aus dieser Entdeckung einen Spaß, der vielleicht verdammt ernst enden kann.«

 


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