Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die verzweifelte Antwort.

Selten geriet Hilda Tressingham außer Fassung. Aber jetzt wurde sie totenblaß, und ihr stockte der Atem.

»Mein Bruder? Mein Mann? Wie kommen die hierher?« stammelte sie.

»Das frage ich mich selbst«, bemerkte Ellington, indem er sie scharf anblickte.

Zuerst trat Lord Hartsdale ein. Offenbar führte ihn eine unangenehme Angelegenheit her, denn er sah empört aus und warf Hilda einen ärgerlichen Blick zu. Aber sie sah ihn kaum. Sie schaute auf den Mann, der hinter ihm herkam, den sie im fernen Indien geglaubt hatte. Als er so plötzlich vor ihr stand, kam es ihr zum Bewußtsein, wie alt er doch schon war.

Auch den anderen im Zimmer fiel der Unterschied zwischen Mann und Frau auf. Sie jung und lebendig, in der frischen Blüte ihrer Schönheit. Er unter dem glühenden Himmel Indiens über die Jahre hinaus gealtert, hager, gebeugt, mit weißem Haar und weißem, altmodischem Bart. Er sah gutmütig aus, aber jetzt lagerten Wolken auf seinem Gesicht, als quälte ihn ein tiefer Schmerz.

Die beiden Herren blieben stehen, als sie sahen, daß George Ellington nicht allein war. Lord Hartsdale begann:

»Wir hatten gehofft, Sie allein anzutreffen. Wir waren nicht darauf gefaßt, Sie in Gesellschaft zu finden.«

»Jedenfalls habe ich meine Frau hier nicht vermutet«, sagte der Oberst kurz und förmlich. Er begrüßte Hilda mit höflicher Verbeugung, und wiederholte diesen Gruß, als er Letty bemerkte. Dann stand er steif da, während Hartsdale an seinem Schnurrbart zerrte und aussah, als wenn er am liebsten geflucht hätte. In das allgemeine Stillschweigen hinein klang plötzlich Hildas spöttisches Lachen.

»Deine Frau hat dich bestimmt hier auch nicht vermutet«, sagte sie. »Jedenfalls hast du keinen Grund, überrascht zu sein. Bin ich hier nicht in vortrefflicher Gesellschaft?«

Wieder lachte sie und stellte in ihrer spöttischen Art die beiden Ellingtons und Letty vor.

»Du scheinst uns durch dein Auftreten alle versteinert zu haben, mein Lieber«, bemerkte sie.

George sah die beiden an, als wollte er um Entschuldigung bitten wegen des Tones, den Hilda angeschlagen.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte er.

Oberst Tressingham sah seinen Schwager an. Sie setzten sich, steif und förmlich. Hartsdale begann:

»Oberst Tressingham hat Briefe bekommen, diese verwünschten anonymen natürlich. Man würde keine Notiz davon nehmen, wenn sie nicht sehr ernsthafte Dinge berührten. So kam er nach seiner Landung sofort zu mir. Und – ja, ich habe auch welche bekommen. So hielten wir es für das beste, Sie aufzusuchen.«

Ellington starrte Hartsdale an, als spreche er Hindustanisch.

»Zu mir? Was habe ich mit anonymen Briefen zu tun? Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen?«

Lord Hartsdale blickte auf Hilda und dann auf Ellington.

»Die Briefe, wissen Sie, handeln von meiner Schwester und von Ihnen.«

Tiefes Schweigen lag über dem Raum. Der alte Ellington hustete, aber er sprach ebensowenig wie die anderen. Plötzlich lachte Hilda. Oberst Tressingham wurde rot vor Arger, und seine müden Augen sprühten Feuer.

»Ruhe«, sagte er ärgerlich. »Diese Briefe rühren an meine Ehre.«

George Ellington sah ihn an.

»An Ihre Ehre? Wollen Sie damit sagen, daß ich –«

»Warum sind wir denn hier?« unterbrach ihn Hartsdale. »Lesen Sie doch die Briefe.«

Er faßte nach der Brusttasche, als wollte er Papiere herausziehen. Aber der alte Ellington trat vor und erhob die Hand.

»Mein Sohn wird meinem Rat folgen«, sagte er kalt, »und sich nicht mit anonymen Briefen befassen und nicht mit leeren Beschuldigungen, die sich darauf stützen. Er wird Sie, meine Herren, an seinen Rechtsanwalt verweisen.«

»Das sind keine leeren Beschuldigungen«, sagte Hartsdale grob. »Nach diesen Briefen haben Sie regelmäßig mit meiner Schwester diniert und die Abende in ihrer Wohnung verbracht, und so – so –«

»Und sie so kompromittiert«, fiel der Oberst wütend ein. »Wollen Sie das leugnen?«

»Keineswegs«, sagte George ruhig. »Ich habe mit Frau Tressingham sechs- oder achtmal zusammen gespeist. Meine Frau wußte stets darum.«

Er wandte sich um und blickte Letty an, und die nickte ihm ermunternd zu.

»Freilich«, sagte sie naiv, »ich habe immer darum gewußt.«

Der alte Ellington räusperte sich.

»Auch ich wußte darum, oder besser gesagt, ich hörte hinterher, wie mein Sohn den betreffenden Abend verbracht hatte. Ich war damit nicht einverstanden, aber die Welt denkt ja heutzutage ganz anders. Ich versichere Sie, meine Herren, ich bürge für Wort und Ehre meines Sohnes, und ich wundere mich, daß Sie anonymen Briefen Glauben schenken wollen.«

»Hol der Teufel alle Briefe«, rief Lord Hartsdale, »aber Sie müssen sich die Dinger erst einmal ansehen. Sie sind mit Maschine geschrieben, der Schreiber ist aber derart mit Einzelheiten vertraut, als gehörte er zur engsten Bekanntschaft. Ein Brief beschuldigt Sie sogar, Mr. Ellington, meine Schwester nachts in Abwesenheit Ihrer Frau Gemahlin hier in Ihrem Zimmer empfangen zu haben.«

George Ellington riß vor Erstaunen den Mund auf. Nur eine Person kannte die Ereignisse jener Nacht aus eigenster Anschauung, und das war seine Schwester. Er wußte im Augenblick nicht, ob er fluchen oder lachen sollte.

»Mir geht ein Licht auf«, sagte er. »Die betreffende Person gedachte, ein gutes Werk zu tun, und hat nichts als Unheil angerichtet. Frau Tressingham, darf ich Sie fragen, ob Sie hierzu etwas sagen wollen?«

Hilda sah aus, als wolle sie allen im Zimmer Trotz bieten.

»Kein Wort«, antwortete sie verächtlich.

»Dann muß ich es tun. Es ist wahr, wie ich mir schon zu bemerken erlaubte, daß ich mit der Dame hier verschiedentlich zusammen gespeist habe. Heute sehe ich ein, daß es eine Torheit war. Und es ist gleichfalls wahr, daß Frau Tressingham kürzlich des Nachts hier in meinem Arbeitszimmer war. Aber was wollte sie hier? Als ich sie überraschte, gab sie an, in den Schubladen eines Schrankes nach Familienpapieren suchen zu wollen. Und wenn sie heute hier ist, so hat ihre Anwesenheit einen besonderen Grund. Ich wollte sie in Gegenwart meiner Familie fragen, ob ihre Erklärung in jener Nacht wirklich der Wahrheit entspricht.«

Oberst Tressingham errötete vor Zorn.

»Sie zweifeln an ihrem Wort, Herr?« fragte er.

»Ich bitte Sie, sich einen Augenblick zu gedulden. Sie wissen vielleicht – Lord Hartsdale weiß es bestimmt –, daß ich Unterstaatssekretär im Marineamt bin. Kurz vor Beginn der Herbstsession erhielt ich wie meine Kollegen die Abschrift des neuen, bedeutsamen Flottenprogramms. Natürlich war die Angelegenheit streng vertraulich. Nun ist heute morgen die Übersetzung des Dokuments in einer französischen Zeitung erschienen.«

Er machte eine Pause. Da niemand sprach, fuhr er fort:

»Heute wurden sofort die sorgfältigsten Nachforschungen angestellt. Von den sechs Leuten, die die Abschrift im Besitz hatten, bin ich der einzige, der das Dokument vierundzwanzig Stunden lang unbeaufsichtigt liegen ließ. Meine Kollegen waren vorsichtig genug, es stets bei sich zu führen. Ich legte die Mappe mit den Papieren, als ich des Nachts heimkehrte, hier auf den Tisch. Nach zwei Stunden betrat ich das Zimmer und fand – Frau Tressingham.«

Wieder brach Ellington ab. Oberst Tressingham sah seine Frau an.

»Gibst du das zu?« fragte er streng.

»Natürlich war ich hier, ich leugne es nicht.«

Sie war die einzige Person im Zimmer, die die Sache leicht nahm. Während Ellington sprach, hatte sie nachgedacht. Sie sah einen Ausweg und war entschlossen, ihn zu beschreiten. Es war ein schlechter, verzweifelter Weg, aber er diente ihren Zwecken. Sie blickte auf, als George Ellington sie aufs neue anredete.

»Frau Tressingham, beantworten Sie mir bitte eine Frage. Haben Sie das Dokument gesehen, als Sie hier waren?«

Hilda lachte.

»Wozu die Umstände? Natürlich habe ich es gesehen.«

»Sie haben es gesehen? Wie denn?«

Sie stand auf und sah ihn fest an.

»Sie selbst haben es mir gezeigt«, antwortete sie.

 


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