Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Zweiunddreißigstes Kapitel.

Auf der Flucht.

Als Hilda Tressingham gegangen war, kehrte Garnier in sein Zimmer zurück und fuhr fort, die Torheit der Weiber zu verwünschen.

»Es ist alles aus, Meunier«, rief er. »Wir müssen eiligst verschwinden. Zum Packen bleibt keine Zeit.«

»Aber wie?« fragte der Diener.

»Für Sie ist es leicht genug. Sie kennt keiner von diesen Burschen. Ich muß mich besonders präparieren. Gut, daß ich von der nützlichen Kunst des Verkleidens etwas verstehe.«

»Ihre Maske eines verabschiedeten Offiziers ist unübertrefflich«, bemerkte Meunier.

»Ich glaube auch, das wird das beste sein. Und Sie fahren heute nacht nach Calais. Ich werde auch diese Nacht herüberfahren, aber nach Boulogne. Es ist vorteilhafter, wenn wir nicht zusammen reisen. Morgen nachmittag komme ich dann auch nach Calais. Wir treffen uns an dem bestimmten Ort. Hier haben Sie Geld. Gehen Sie und beschweren Sie sich nicht unnötig mit Gepäck. In solchen Kriegszeiten braucht man nichts.«

Immer noch die Weiber verfluchend, begab sich Garnier in sein Schlafzimmer, um seine Vorbereitungen zur Flucht zu treffen. Dieses verrückte Frauenzimmer hatte mit ihren Heiratsgedanken alles verdorben, alles.

»Sie war anscheinend schon die ganze Zeit in mich verliebt«, murmelte er. »Als wenn mir Muße bliebe, an solchen Kram zu denken.«

Draußen vor der Haustür standen zwei Männer und beobachteten scharf, wer aus- und einging. Beide hatten sie Garnier nie gesehen, sie kannten ihn nur nach Beschreibungen. Um halb sechs verließ das Haus ein großer, älterer Herr von sehr vornehmem Äußern. Er war nach neuester Mode gekleidet und trug einen Seidenhut und einen Mantel mit kostbarem Pelzkragen. Sein Regenschirm mit goldener Krücke sah so solide aus wie die ganze Erscheinung. Einen Augenblick blieb er vor einem Schaufenster stehen und betrachtete durch sein Einglas die Auslagen. Dann ging er lässig des Weges.

Der eine der beiden Wächter sah seinen Genossen an.

»Während der zwei Stunden, die wir hier stehen, ist der alte Herr, der da geht, nicht in das Haus gekommen.«

»Vielleicht wohnt er da.«

»Möglich. Aber dieser Garnier könnte auch versuchen, in Verkleidung zu entwischen. Ich möchte dem Mann doch ein wenig folgen. In fünf Minuten kommt Chilvers. Solange wirst du allein fertig.«

Der andere zuckte die Achseln.

»Der Herr dort ist ein alter Offizier. Aber tu, was du denkst.«

Sein Kollege zögerte ein wenig. Er sah der großen Gestalt nach, die sich langsam entfernte.

»Ein Stückchen will ich ihn wenigstens beobachten«, sagte er. »Fällt mir etwas Verdächtiges auf, so bleibe ich ihm auf der Spur und gebe dir irgendwie Nachricht.«

Er schritt rasch aus, bis er dicht hinter dem alten Herrn war. Ohne daß Garnier es ahnte, hatte die Jagd begonnen. Der Verfolger achtete scharf darauf, ob etwas seinem geübten Auge andeuten würde, daß der Mann vor ihm auf der Flucht wäre.

Was er erwartete, ereignete sich bald. Garnier blieb stehen, um abermals ein Schaufenster anzusehen. Der Detektiv bemerkte, daß der Mann vor ihm nicht das geringste Interesse an den Waren hatte und nur den zurückgelegten Weg übersehen wollte. Sein Verdacht wurde stärker. Seine Überzeugung wuchs, daß er sich auf der richtigen Spur befand. Daher folgte er dem alten Herrn weiter, als dieser sich wieder in Bewegung setzte.

Garnier ging bis zum Piccadilly Circus und gesellte sich zu einem kleinen Trupp von Menschen, die auf den Omnibus warteten. Er bestieg den ersten Wagen, der vorüberkam. Sofort schwang sich der Verfolger auf denselben Omnibus. So fuhren beide in der Richtung auf den Victoria-Bahnhof zu, ohne daß der eine von ihnen wenigstens von der Anwesenheit des anderen etwas ahnte.

Garnier war überzeugt, heil aus seiner Wohnung entkommen zu sein. Wäre seine Flucht bemerkt worden, dachte er, so hätte man ihn schon vorher angehalten. Nur über seine Reiseroute war er sich noch nicht im reinen. Er hatte zwar zu Meunier gesagt, er werde über Folkestone nach Boulogne fahren. Es gehörte aber zu Garniers Grundsätzen, auch seine Vertrauten über seine letzten Pläne im ungewissen zu lassen. Daher hatte er sich schon vorgenommen, einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Er wollte nach Newhaven fahren und dort ein Schiff nach Dieppe nehmen. Jedenfalls war ihm die Hauptsache, zunächst einmal England hinter sich zu wissen.

Auch der Polizist überlegte. Er beschloß endlich, abzuwarten, was der Verfolgte beginnen würde, um danach seine weiteren Maßnahmen einzurichten. Inzwischen gab er scharf acht, daß ihm seine Beute nicht unbemerkt entschlüpfe.

Aber Garnier fuhr bis zum Victoria-Bahnhof und ging, ohne rechts und links zu blicken, in das Stationsgebäude. Der Detektiv sah, wie er am Schalter erster Klasse Erkundigungen einzog und sich dann eine Fahrkarte kaufte. Er beobachtete ihn, wie er in einem benachbarten Restaurant einen Teller Suppe aß. Von dort folgte er ihm in eine Nebenstraße. Garnier kaufte eine Reisedecke, eine Mütze und eine kleine Tasche. Noch einmal ging er in das Restaurant und erstand dort einige Butterbrote, Früchte und eine Flasche Brandy. Das alles verstaute er in der Tasche. Schließlich folgte der Polizist seinem Opfer bis zu dem Zug nach Newhaven. Immer noch etwas unentschlossen und ungewiß ließ er sich durch einen Gepäckträger gleichfalls eine Fahrkarte besorgen und stieg in den Zug.

Aber seine Ungewißheit verschwand, sobald ihm die frische Seeluft von Newhaven um die Nase wehte. Als Garnier bald darauf sich anschicken wollte, das Dampfboot nach Frankreich zu betreten, sah er sich von drei Männern umringt. Nun wußte der Vielgewandte, daß der Augenblick gekommen war, in dem er allerlei peinliche Fragen würde zu beantworten haben.

 


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