Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Viertes Kapitel.

In der Familie.

Schuldbewußt sah Ellington auf die Uhr. Es war halb zwei. Über zwei Stunden waren sie von Gasse zu Gasse gezogen.

»Ich bin untröstlich«, sagte er. »Aber es war ein zu großes Vergnügen, Zeuge Ihrer Überredungskunst zu sein. Lunch? Natürlich. Sie müssen mit mir nach Hause kommen. Wir essen um zwei.«

»Und Ihre Gattin?« sagte sie lächelnd.

»Wieso?«

»Sie kennen das Wort von den ungebetenen Gästen. Sie sind nicht immer willkommen.«

Lachend warf Ellington den Kopf zurück.

»Oh«, erwiderte er, »wenn Sie sonst nichts einzuwenden haben. In Wahlzeiten hält man offene Tafel. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie ungestört essen werden, denn wir müssen immer auf einen plötzlichen Überfall gefaßt sein. Aber einen herzlichen Empfang kann ich Ihnen garantieren.«

»Und hoffentlich Speise und Trank«, antwortete sie.

»Beides. Kommen Sie, dort an der Ecke ist ein Droschkenstand. Wir wollen sofort nach Hause fahren. Entschuldigen Sie es mit meinem Vergnügen, Sie über die Segnungen der Regierung sprechen zu hören, daß ich nicht eher an Lunch dachte.«

Ellington hatte mittlerweile alle Scheu vor seiner Helferin verloren, und er redete frei von der Leber weg, während sie durch die Stadt nach dem Vorort fuhren, in dem er wohnte.

Hilda Tressingham kannte sein Haus, denn sie war oft dort vorbeigeritten und hatte es bespöttelt. Auch als sie jetzt neben ihm durch den Vorgarten schritt, mußte sie daran denken, wie über die Maßen neu und protzenhaft alles aussah. Da waren Bäume, Sträucher und Blumen, alles sehr gepflegt, aber so ängstlich genau angeordnet, als handle es sich um eine Musterausstellung für Gartenbau. Sie verglich damit den Schloßpark in Hartsdale mit seinem fünfhundert Jahre alten Rasen, den mächtigen Zedern und Buchen, den grauen Wällen und moosbedeckten Ruinen, dem ganzen Bild von Verfall und Vernachlässigung. Und sie fragte sich, ob eine solche Romantik malerischer Armut nicht der schreienden Aufdringlichkeit neuen Reichtums vorzuziehen sei.

Aber schon führte Ellington sie in ein Zimmer, in dem verschiedene Personen sich befanden, die offensichtlich auf das Essen warteten.

Er sah sie beruhigend an.

»Nur meine Familienangehörigen. Ich bin erst heute morgen aus London gekommen, so habe ich noch niemand gesehen. Letty«, wandte er sich an eine junge Frau, die etwas bestürzt auf die beiden zukam, »das ist Frau Tressingham, die die Liebenswürdigkeit hat, mir im Wahlkampf zu helfen. Wir haben scharf in Saint Sepulchres Ward gearbeitet und sind jetzt hungrig und durstig.«

Dann machte er sie mit seinem Vater und seiner Schwester und mit einem jungen Herrn bekannt, der stark nach einem Juristen aussah, und dessen Namen sie nicht verstand. Hilda schüttelte allen die Hand, beteuerte, daß Wahlagitation hungrig mache und nahm sich Ellington senior aufs Korn, mit dem sie noch nie im Leben ein Wort gesprochen hatte, dem sie sich aber jetzt von ihrer besten Seite zeigte.

»Ich habe nie gewußt«, sagte Vater Ellington, der in seinen Gesprächen so peinlich genau war wie in seinen Geschäften, »daß Sie sich für Politik interessieren.«

»Ich habe offenbar meine Kräfte brachliegen lassen«, erwiderte Hilda, »ich will aber alles wieder gutmachen. Wenigstens haben wir immer zu der richtigen Partei gehört.«

»Ja«, meinte Ellington senior. »Aber solange ich selbst diese Stadt im Parlament vertrat, kann ich mich nicht entsinnen, daß ein Mitglied Ihrer Familie sich je an Wahlkämpfen beteiligt hätte. Ihr Bruder freilich als Pair des Reiches –«

»Konnte sich natürlich nicht hineinmengen«, fiel Hilda ein. »Dafür springe ich jetzt ein.«

Sie sah sich um und lächelte der jungen Frau Ellington zu, die den Gast mit andächtigem Interesse betrachtete.

»Ich werde zu Ihnen kommen und mir Rat von Ihnen holen«, sagte sie. »Sie müssen doch mit der Zeit eine gelehrige Schülerin geworden sein.«

Die junge Frau errötete und sah nervös auf ihren Gatten. Aber der neue Unterstaatssekretär war in ein Gespräch mit seiner Schwester und dem jungen juristisch anmutenden Herrn verwickelt, so mußte sie selbst eine Antwort finden.

»Leider verstehe ich so gut wie gar nichts von Politik«, sagte sie.

Ellington senior räusperte sich und fuchtelte mit seinem Kneifer.

»Die Damen aus unserer Familie«, begann er in belehrendem Ton, »haben sich nie aktiv mit Politik beschäftigt, wenn sie auch immer Interesse dafür gezeigt haben. In der jetzigen Generation freilich ist es meine Tochter Marcia, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, fortschrittlichen Ideen huldigt. Sie gehört zu verschiedenen Frauenvereinen und ‑organisationen, mit deren Zielen ich, offengestanden, nicht immer sympathisiere.«

Hilda warf einen prüfenden Blick auf Marcia Ellington. Über den Vater und dessen Schwiegertochter hatte sie sich bereits ein Urteil gebildet. Sie waren beide anders geartet als George und sicher nicht so leicht zu leiten und zu beeinflussen. Stephan Ellington, ein angehender Siebziger, war groß und mager und erinnerte an einen Asketen. Er hatte eine spitze Nase, scharfe, kalte Augen und einen Mund, der Festigkeit und Strenge ausdrückte. Hilda schätzte ihn als einen hochmütigen Puritaner ein, der auf sein Geld ebenso stolz war wie auf seine Grundsätze. Ein rascher Blick auf Marcia belehrte sie, daß das Mädchen mehr dem Vater als dem Bruder glich. Hilda hatte eine dunkle Erinnerung, gehört zu haben, daß die Tochter des alten Fabrikanten gelehrt sei, in Frauenversammlungen rede und Artikel für Zeitungen und Wochenschriften verfasse. Wo sie ihr jetzt in Person begegnete, glaubte sie gern diesen Gerüchten. Marcia Ellington war eins von den knochigen, jeder Anmut baren jungen Mädchen, die man sich gut in Männerkleidern vorstellen kann. Ein Eindruck spöttischer Überlegenheit ging von ihr aus, und nervöse Leute flohen ihre Nähe, da sie sich immer als Zielscheibe ihres Witzes fühlten. Auf gewisse junge Leute, die wie sie nach »höherer Kultur« strebten, übte sie eine starke Wirkung aus. Ihre Zuhörer fühlten sich in die Regionen des reinen Äthers erhoben, es sei denn, sie waren Philister oder ehrlich genug, einzugestehen, daß sie von Marcias Darlegungen ebensowenig verstanden, wie nach ihrer Ansicht die Rednerin selbst. Marcia, die bei Tisch neben Frau Tressingham saß, beäugte deren elegantes Kleid so, wie Diogenes die kostbaren Gewänder der ausschweifenden griechischen Jugend betrachtet haben mochte. Sie zog den Atem durch die Nase, und George Ellington ging ein kalter Schauer durch Mark und Bein. Er erkannte an diesem Zeichen, daß Marcia sich zum Streit rüstete.

»Ich hoffe, Frau Tressingham«, begann sie, »daß Sie sich in der politischen Arena auf die richtige Seite stellen werden. Alle Frauen müßten das tun, das ist so ungeheuer wesentlich.«

»Ja?« meinte Hilda harmlos. Sie sah von ihrem Teller auf und schoß aus der Batterie ihrer schönen Augen eine volle Ladung auf Marcia ab.

»Ich stehe natürlich auf der Seite Ihres Bruders«, fügte sie unschuldig hinzu.

Marcia lächelte schwach.

»Sie mißverstehen mich. Ich bezog mich auf die höheren Ziele der Politik, den Oberbau, sozusagen.«

»Ach so! Aber ich befinde mich noch in den tieferen Gründen«, bemerkte Hilda, »ich fange erst an, den Berg zu ersteigen. Sie freilich, Fräulein Ellington« – nichts als kindliche Unschuld lag in ihrem Ton –, »Sie, so vermute ich, atmen nichts als Höhenluft.«

George Ellington mischte sich absichtlich in die Unterhaltung, denn er wollte eine Vorlesung Marcias verhindern.

»Meine Schwester«, sagte er, »hält praktische Politik für Zeitvergeudung. Sie hält nichts von konkreten Dingen, sie kämpft für Abstrakta.«

»Ist die Entwicklung der Nation zu einem höheren Grad des Lebens nichts Abstraktes?«

»Ich weiß nicht, was die Entwicklung der Nation zu einem höheren Grad des Lebens ist«, erwiderte George grob. »Ich weiß nur, was es heißt, Heer und Flotte auf der Höhe zu halten, Geld für Erziehung und andere Kulturzwecke bereitzustellen.«

»Das heißt, sich um das Materielle kümmern«, sagte Marcia kühl. »Das ist der Fluch aller Parteien. Darum tadle ich nicht nur deine, George.«

»Gott sei Dank«, rief Ellington. »Bring meine Wähler nicht in Verwirrung, ich brauche jede Stimme. Darum bin ich Frau Tressingham so dankbar für ihre Hilfe. Steck deshalb deine Prinzipien in die Tasche und sag den Leuten, sie möchten, da sie jene Stufe der Vollendung, zu der du sie als Diktator führen würdest, doch nicht erreichen können, wenigstens den ersten Schritt dazu tun und mich wählen. Werden Sie Ihre Beredsamkeit auch heute wirken lassen, Frau Tressingham?«

»Freilich, ich halte mich an den Achtstundentag.«

»Dann könnten Sie vielleicht mit meiner Frau noch einmal jenes Stadtviertel aufsuchen. Gehst du mit, Letty?«

Hilda verschwendete ihr bezauberndstes Lächeln an die Hausfrau.

»Kommen Sie, wir werden Wunder wirken.«

Und sie sah es Lettys Gesicht an, wie gern sie mitkam.

 


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