Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Achtzehntes Kapitel.

Des Toten Botschaft.

Banister King sah den Portier und dessen Frau mit einem stummen, aber desto ausdrucksvolleren Blick an. Und da Bryson keine Antwort bekam, wiederholte er:

»Tot, Herr. Tot und begraben.«

»Gestern vor acht Tagen«, fügte seine Frau hinzu.

King hatte inzwischen seinen Schlüssel gefunden, ging in seine Wohnung und stellte einen kleinen Kasten, in dem sich die sorgfältig verpackte Vase befand, auf den Tisch. Einen Augenblick starrte er vor sich hin. Dann steckte er die Hände in die Taschen, pfiff nachdenklich vor sich hin und ging endlich wieder hinaus zu Bryson.

»Wie kam es?« fragte er kurz. »Ganz plötzlich?«

Bryson schüttelte den Kopf und deutete auf seine Frau.

»Ganz plötzlich. Sie hat ihn gefunden.«

»Wie ein unschuldiges Kind lag er im Bett, als wenn er schlief«, sagte Frau Bryson traurig. »Aber ich wußte, daß er tot war, wenn mein Mann es auch nicht glauben wollte.«

»War er krank gewesen?«

»Nicht eine Minute, Herr«, erwiderte King. »Ich sah ihn den Tag vorher, er war so gesund, wie wir hier. Starb im Schlaf, Herzschlag, wie der Doktor sagte. Und der Coroner und die Geschworenen sagten dasselbe. ›Natürlicher Tod‹ war das Verdikt.«

»So war eine Untersuchung?« fragte King.

»Wir haben alle Zeitungen darüber aufgehoben«, bemerkte Frau Bryson. »›John‹, sagte ich zu meinem Mann, ›wir wollen alles aufheben, Mr. King wird es lesen wollen, wenn er heimkommt.‹ Sie liegen alle unten, mit einer schwarzen Schnur zusammengebunden.«

»Ich möchte sie gern sehen«, sagte King.

Er nahm die Zeitungen und setzte sich damit in sein Zimmer, das ihm heute noch stiller vorkam als sonst. Er las alles, was sie ihm erzählen konnten. Aber die Berichte enthielten keinen Fingerzeig für ihn. Wichtig erschien ihm nur die Tatsache, daß Avory den letzten Abend im Amaranthklub verbracht hatte. Denn King erinnerte sich des lebhaften Interesses, mit dem Avory dem Geheimnis Barthelemys und des Klubs nachgespürt hatte. Und er hielt es für durchaus möglich, daß während seiner Abwesenheit Umstände eingetreten sein mochten, die es Barthelemy oder sonst jemand ratsam erscheinen ließen, Avory aus dem Wege zu räumen. Trotz des ärztlichen Gutachtens schien es King zweifelhaft, ob der Freund wirklich an Herzschlag gestorben war.

Er legte die Zeitungen beiseite und kümmerte sich zunächst um seine eigenen Angelegenheiten. Da waren erstens die Briefe. Er hatte zwar ebensowenig Bekannte wie Avory, und ihm schrieben nur Leute, die Bücher, Bilder oder dergleichen zu verkaufen hatten. Er wußte aber, daß Briefe da sein würden, und so ging er zu dem Kasten. Als er ihn geöffnet hatte, fand er zwischen Briefen, Zeitungen und Drucksachen die Karte mit den wenigen Zeilen, die Avory in der Eile darauf gekritzelt hatte.

King ließ alles andere liegen und sah lange auf die Karte des Toten, ehe er sie las. Dann begriff er den Inhalt nicht gleich. Aber als ihm einfiel, was inzwischen geschehen war, daß Avory wenige Stunden, nachdem er dies geschrieben hatte, gestorben war, wurde er sich dessen bewußt, daß er mit dieser Karte vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis um Avorys Tod in Händen hielt.

Folgendes hatte der Freund in Eile geschrieben:

»Heute nacht ist im Amaranthklub etwas geschehen, das Barthelemy in meine Hände liefert. Garnier ist im Augenblick bei ihm. Ich bin im Begriff, mit ihnen zu sprechen. Die Sache ist nicht ohne Gefahr. Bin ich zur üblichen Zeit nicht zu Hause, dann weißt du, daß ich um halb drei dorthin ging.

R. A.«

Das Datum fehlte, aber King war überzeugt, daß die Karte in der Nacht vor Avorys Tod geschrieben war. Er sah noch einmal in die Zeitungen. Ja, Avory hatte die meiste Zeit lesend in der Halle verbracht. Das heißt, er hatte auf jemand gewartet. Um zwei hatte er den Klub verlassen. Aber was war nachher geschehen?

King versuchte, in seiner Art die Ereignisse zu rekonstruieren.

1. Nachdem Avory den Klub verlassen hatte, war etwas geschehen, das seinen Verdacht gegen Barthelemy und Garnier verdichtete.

2. Nachdem er festgestellt hatte, daß die beiden in Barthelemys Haus waren, beschloß er, sie sofort zu stellen.

3. Erst ging er zur Jermynstraße. Da er King nicht antraf, schrieb er die Karte.

4. Dann verschaffte er sich Zutritt zu Barthelemys Haus.

5. Was nun auch dort geschehen sein mochte, er kam heil heraus, ging ruhig zu Bett, und – starb im Schlaf.

War Avory ermordet worden?

Die zweite Frage, wer ihn ermordet hatte, war müßig. Wenn er in einer geschickten, teuflischen Art aus dem Wege geräumt worden war, bestand über den Täter kein Zweifel. Aber – war er überhaupt getötet worden?

King war Mitglied eines kleinen und sehr exklusiven Klubs, dem Gelehrte, Forscher, Sammler, Philosophen angehörten. Das Haus befand sich in der Nähe des Hanover Square. Jedes Mitglied war Spezialist auf irgendeinem Gebiet. Und King erinnerte sich an einen bekannten Arzt, der ein Standardwerk über Toxikologie geschrieben hatte und dadurch berühmt geworden war. King begab sich zu einer Stunde in den Klub, wo er gewiß war, diesen Mann anzutreffen. Nachdem er ihn in eine ruhige Ecke bugsiert hatte, begann er:

»Ich möchte Sie etwas fragen. Wenn Sie wollen, sage ich Ihnen nachher auch den Grund. Kann man einem Menschen Gift einflößen, ohne daß er es sofort merkt, ein Gift, das erst nach einigen Stunden wirkt und keinerlei Spuren im Körper zurückläßt?«

Der berühmte Mann dachte einen Augenblick nach. Dann nickte er und sagte:

»Gewiß, ein solches Gift gibt es.«

»Um ganz pedantisch vorzugehen: Setzen wir den Fall, ein Mann trinkt mit einem anderen –«

»A trinkt mit B«, schlug der berühmte Mann vor.

»Schön, A trinkt mit B. B tut heimlich Gift in As Glas. A geht nach Hause, legt sich zu Bett und stirbt im Schlaf. Es findet die übliche Untersuchung statt. Die Ärzte finden keine Spur von Gift, sie sagen, der Mann sei an Herzschlag gestorben.«

Der Spezialist lächelte.

»Das ist er natürlich auch.«

»Ja?«

»Natürlich, Ursache aber war das Gift.«

»Ich verstehe. Und das Gift würde keine Spur zurücklassen?«

»Es gibt nun einmal Gifte, die in der von Ihnen angedeuteten Weise wirken und deren Anwendung bei einer gewöhnlichen Autopsie von einem einfachen Arzt nicht festgestellt werden kann.«

»Aber von einem Spezialisten?«

»Ein Spezialist, der weiß, nach welchem Gift er zu suchen hat, würde vielleicht die Spuren nachweisen können.«

»Vielleicht nur?«

»Nur vielleicht. Es gibt Gifte, die überhaupt keine Spuren zurücklassen.«

»Das ist Tatsache?«

»Unerschütterliche Tatsache.«

King sah den anderen scharf an.

»Haben Sie von dem Fall Avory gelesen?«

»Freilich, und, um die Wahrheit zu sagen, ich dachte mir schon, daß Sie diesen Fall im Auge hatten.«

»Stimmt. Ich bin überzeugt, daß Avory ermordet worden ist. Ich glaube sogar, den Mörder zu kennen. Und die Tat kann nur so geschehen sein, wie ich andeutete.«

»Sie glauben, man hat ihm Gift gegeben?«

»Und ich glaube es nicht grundlos. Wenige Stunden vor seinem Tode war er mit Männern zusammen, deren Schicksal in seiner Hand lag. Denn er wußte ein Geheimnis von ihnen, dessen Bekanntgabe sie ruiniert hätte. Es lag in ihrem Interesse, ihm den Mund zu stopfen, ihn aus dem Wege zu räumen. Bis drei Uhr morgens war er mit ihnen zusammen. Nach Angabe der Ärzte ist er gegen acht im Schlaf gestorben. Nach dem, was ich von Ihnen gehört habe, glaube ich, daß sie ihm einen tödlichen Trank vorgesetzt haben.«

»Möglich, wenn einer von ihnen sich auf Gifte verstand.«

»Zuzutrauen ist das beiden, gerissene Halunken, wie sie sind. Aber da die Ärzte nun einmal keine Spuren gefunden haben, was läßt sich dabei tun?«

»Ein Fachmann könnte die Spuren finden, das wäre denkbar.«

»Was könnte man also tun?«

»Wenn genügend Verdacht vorliegt, könnte der Staatsanwalt die Exhumierung der Leiche anordnen. Sie müßten natürlich beweisen, daß die Betreffenden Interesse an der Tat hatten und imstande wären, ihm das Gift beizubringen.«

»Das hoffe ich fertig zu bekommen«, erwiderte King mit grimmigem Lächeln.

»Bitte halten Sie inzwischen reinen Mund über die Sache.«

»Teilen Sie mir das weitere mit, der Fall interessiert mich«, sagte der Spezialist.

»Ich denke, ganz London wird sich noch dafür interessieren. Aber vorläufig bin ich noch am Anfang.«

King war zunächst etwas in Verlegenheit, wie er die Sache anpacken sollte. Als erstes beschloß er, sich das medizinische Bad neben Barthelemys Haus ein wenig anzusehen. So ging er am anderen Morgen hin, nachdem es eben geöffnet war. Ein eleganter Angestellter in schwarzem Anzug empfing ihn.

»Mein Arzt«, begann King, »hat mir eine Reihe medizinischer Bäder verordnet. Ich möchte gleich damit beginnen. Je eher, je –«

Er brach ab und trat zur Seite, um einer tiefverschleierten Dame Platz zu machen, die aus einem Nebenraum kam, hastig an King und dem Angestellten vorbeiging und auf die Straße trat. Der Angestellte führte ihn in das Wartezimmer.

 


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