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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Martinus von Bracara.

Ein etwas älterer Zeitgenosse Gregors von Tours Martinus Bracarensis oder Dumiensis, der mit Fortunat in brieflichem Verkehr und gewiss auch mit Gregor selbst in freundschaftlichen Beziehungen stand, verdient hier als Schriftsteller um so mehr eine kurze Betrachtung, als er allein für uns in jener dunkeln Zeit in einem andern germanischen Reiche, das im fernsten Westen, in Galläcien, die Sueven gegründet, eine höhere, grammatische Bildung vertritt. S. Martini Dumiens. et Bracarens. episcopi opera, veterum ope codd. reg. Matritensis biblioth. et Toletanae correcta etc. in: Florez, España sagrada, Tom. XV, p. 383 ff. – S. Martini etc. Opuscula septem in Migne's Patrol. lat. T. LXXII, p. 22 ff. – – Caspari, Martin von Bracara's Schrift De correctione rusticorum, zum ersten Mal vollständig herausgegeben mit einer Abhandlung über dieselbe sowie über Martins Leben und übrige Schriften. Christiania 1883. (Eine sehr gründliche Untersuchung.) Auch er aber war wie Fortunat eingewandert; und zwar kam er, aus Pannonien gebürtig, um die Mitte des Jahrhunderts zu Schiff aus dem Orient, dem er auch einen Theil seiner für damals bedeutenden Gelehrsamkeit, insbesondere seine Kenntniss der griechischen Sprache verdankte. Er brachte aber von dort nicht bloss einen Schatz seltenen Wissens, sondern auch den Sinn für das asketische Leben aus dessen Heimath selbst mit. So gründete er zunächst zu Dumio, in der Nähe des Königssitzes der Sueven, Bracara, ein Kloster. Als Abt desselben entfaltete er eine bedeutende Wirksamkeit, namentlich auch im Interesse der Ausbreitung des 580 Katholicismus, der erst kurz vor seiner Ankunft bei den arianischen Sueven Eingang gefunden. Insofern rühmte man ihn als den ›Apostel der Sueven‹. So nennt ihn schon zu seiner Zeit Fortunat in einem an ihn gerichteten Gedicht:
        Martino servata novo, Gallicia, plaude,
        Sortis Apostolicae vir tuus iste fuit.

Dies Gedicht (l. V, c. 2) folgt einem ihn ob seiner Gelehrsamkeit überschwenglich lobenden Briefe Fortunats, worin dieser für ein von ihm sehnsüchtig erwartetes Schreiben Martins dankt.
Bald zum Bischof von Dumio erhoben, wurde er später selbst Metripolitanbischof von Bracara, in welcher Eigenschaft er dem dort gehaltenen zweiten Concil 572 vorstand und dessen Capitula verfasste. – Martin, dessen gelehrte Bildung Fortunat wie Gregor von Tours hoch erheben S. in Betreff Fortunats die vorige Anmerkung. Gregor gedenkt Martins in De virtut. Mart. l. I, c. 11 und in der Hist. Francor. l. V, c. 37, bei Gelegenheit seines Todes, wo er eine kurze Lebensskizze von ihm gebend, u. a. sagt: in tantum se litteris imbuit, ut nulli secundus suis temporibus haberetur., erfreute sich weithin des grössten Ansehens, namentlich auch bei seinem Könige Miro (570–83). Er starb im Jahre 580, von dem Volke sehr beklagt.

Dem Gebiet der allgemeinen Literatur gehören seine der Moral gewidmeten Schriften und eine Predigt an, beides Werke von einem eigenthümlichen Charakter. Zwei von den ersteren sind merkwürdig durch den philosophischen, nicht specifisch christlichen Standpunkt, den der Verfasser in ihnen einnimmt, und zwar im zum Theil unmittelbaren Anschluss an einen Philosophen des Alterthums, der seit Minucius Felix kaum eine Berücksichtigung in der patristischen Literatur gefunden hat, an Seneca. Die eine dieser kleinen Schriften: De ira , ist, obgleich auf den Wunsch eines Bischofs, Vitimir von Auria (Orense), verfasst, sogar grossentheils aus wörtlichen Auszügen aus Seneca's gleichnamigen drei Büchern componirt. Martin will hier, dem Vorworte nach, lehren den Zorn zu vermeiden, oder, wo dies nicht geschah, zu mässigen. Mit einer derselben Quelle entlehnten Schilderung des Aussehens des Zornigen eröffnet sich das Büchlein, welches nirgends auf die Bibel verweist. – Bedeutender ist die andere, dem König Miro, welcher ›einen brennenden Durst‹ nach moralischer Wissenschaft hatte, gewidmete Abhandlung: Formula vitae honestae , die zwar als ein solches Excerpt 581 aus Seneca sich nicht nachweisen lässt, doch so in seinem Geist und Stil verfasst ist, dass sie schon im spätern Mittelalter Nicht in dem früheren; Isidor, der Anonymus Mellicensis und Sigebert von Gembloux bezeichnen noch Martin als Verfasser. – Diese Schrift findet sich auch im Anhang der Ausgabe Seneca's von Haase: Opera. Leipzig 1853. Vol. III, p. 468 ff. und vgl. Praef. ibid. p. XXI f., wie auch in unsrer Zeit S. Rossbach, Breslauer philol. Abhandlungen, II. 1888. p. 87., für ein Werk desselben gehalten worden ist. In der Zuschrift an den König erklärt der Verfasser den Titel und zeigt damit selbst das Ziel an, das er in der Schrift verfolgte. Sie soll eine Anweisung zu der Sittlichkeit sein, wie sie Laien ohne die Vorschriften der Bibel nur durch die eingeborene menschliche Intelligenz erlangen können, während die hohe sittliche Vollkommenheit den wenigen erhabenen Gottesverehrern – d. i. den Asketen – vorbehalten ist. Den Titel erklärend sagt der Verfasser in der Widmung von dem Büchlein: quem idcirco tali volui vocabulo superscribi, quia non illa ardua et perfecta, quae a paucis et peregregiis deicolis patrantur, instituit, sed ea magis commonet quae et sine divinarum scripturarum praeceptis naturali tantum humanae intelligentiae lege etiam a laicis recte honesteque viventibus valeant adimpleri. Wir haben also auch hier wieder die stoische Eintheilung der Pflichten, in mittlere und vollkommene, wie sie Cicero in dem Werke De officiis gibt und Ambrosius in seinem diesem nachgebildeten adoptirt hat. S. oben S. 158. Zu der Honestas vitae aber führen vier Tugenden, hebt dann Martin seine Darstellung an; worauf er die vier Cardinaltugenden eine nach der andern behandelt, schätzbare Lebensregeln in kurzen Sätzen ausführend. Diesen vier ersten Kapiteln folgen noch vier, in welchen das › Mass‹ jeder der behandelten Tugenden, die, wenn sie ihre Grenzen überschreiten, zu Fehlern werden können, erörtert wird. In dem ganzen Büchlein findet sich kaum ein christlicher Anschein, wie im Kapitel 4, wo die Furcht und die Liebe Gottes von dem, der die Gerechtigkeit pflegen will, verlangt werden, während ebendort andrerseits die Nothlüge wenigstens zum Schutze der Wahrheit zugelassen wird.

Ferner besitzen wir von Martin drei Tractate: Pro repellenda iactantia, De superbia und Exhortatio humilitatis , welche aber offenbar zusammen ein Werkchen bilden, das, wie mir gewiss scheint, auch an den König Miro gerichtet ist. Der Autor hat das Werk zunächst für einen bestimmten Leser geschrieben, wie die Anreden zeigen, der Ausdruck derselben aber wie prudentia tua lässt schon eine besondere Rücksichtnahme erkennen, noch mehr thut dies die Entschuldigung im Eingang der Exhort. humil.: Et si forte durius aliquod videor loqui, veritatis haec culpa, non mea est. Directer weist dann schon auf einen König hin der bald danach folgende Satz: Nemini verius debere aliquid dici quam ei, qui praesidet multis. Endlich lässt der vierte Absatz ebendort kaum einen Zweifel noch mit solchen Stellen wie: cum multos gubernaveris – – Non enim ad alium mihi de vana gloria aut superbia virum est loqui (auch ein Beweis dafür, dass die drei Tractate ein Werk bilden), nisi ad te quicumque prior es aliis etc. etc. Und für wen musste der Gegenstand sich besser eignen als für einen Herrscher? 582 Dasselbe ist nun ganz im Gegensatz zu der Formula vitae honestae durchaus christlicher Natur, sowohl dem Vorwurf wie der Ausführung nach. Die Superbia galt ja dem Christen für das schwerste aller Laster, die Iactantia aber ist nur ihr Anfang, wie Martin sagt: indem der Mensch das Gute, dessen er sich rühmt, sich selbst und nicht Gott, zuschreibt, wird der Eitle zum Stolzen. Die Demuth aber, diese specifisch christliche Tugend, bildet ja den Gegensatz zu der Superbia. Hier schöpft nun der Verfasser aus der Bibel, die öfters angezogen wird, und aus christlichen Quellen. So aus Cassian, De institut. coenob.; so heisst es z. B. bei Martin: superbia non alium quempiam, sed ipsum per se Deum meretur habere contrarium und bei Cassian l. l. l. XII, c. 7. Quantum est malum superbiae, ut non angelum, non alias virtutes sibi contrarias, sed ipsum Deum adversarium habere mereatur. Und weiter, Martin: Cetera enim vitia vel in eos ipsos, qui illa perpetraverint, retorquentur, vel in alios homines videntur admitti, und bei Cassian ibid.: Illa namque vitia vel in unumquemque delinquentium tantummodo retorquentur, vel in suos participes i. e. in alios homines videntur admitti.

Die Predigt: De correctione rusticorum ist auf Anregung des Bischofs Polemius von Asturica zwischen 572 und 574 abgefasst S. Caspari, p. LXXXIX. und an diesen gerichtet. Nach einem Synodalbeschluss sollten nämlich die Bischöfe im Suevenreiche bei Gelegenheit der Kirchenvisitation dem Volke eine Predigt halten, um es vor dem Götzendienst und andern Todsünden zu verwarnen und im Glauben an die Auferstehung aller Menschen und das jüngste Gericht zu stärken. Polemius hatte nun von Martin, wie die Zuschrift desselben besagt, zum Zweck einer solchen Strafpredigt an die noch im Aberglauben befangenen Bauern, ›über den Ursprung der Götzen und ihre Verbrechen‹ etwas wissen wollen. Martin sandte ihm hierauf diese Predigt, die nun nicht bloss 583 den Wunsch des Bischofs in ihrem ersten Theile erfüllt, sondern überhaupt ein Muster für die von dem Synodalbeschluss geforderte Predigt sein soll.

Nach einer Aufforderung zur Aufmerksamkeit an die Zuhörer gibt Martin zunächst eine Geschichte der Idolatrie, indem er mit dem Fall der Engel beginnt, der Verführung der Erzeltern durch Satans Neid sowie der Sündfluth gedenkt, und dann berichtet, wie nach der Wiederbevölkerung der Erde die Menschen von neuem Gott vergassen. Da fingen sie an Gottes Geschöpfe ( creaturas) anzubeten, indem sie Sonne, Mond und Gestirne, Feuer und Wasser verehrten, als wären diese von sich selbst entstanden. Das benutzten nun der Teufel und seine Diener, die vom Himmel herabgeschleuderten Dämonen, um den Menschen in verschiedenen Gestalten zu erscheinen und sich selbst auf hohen Bergen und in Wäldern durch Opfer verehren zu lassen, indem sie sich den Namen von verbrecherischen Menschen früherer Zeiten beilegten, so von einem Magier Jupiter, dessen Weib und Schwester Juno und ihren Töchtern Minerva und Venus (c. 7). Nicht nur Thier-, sondern auch Menschenopfer liessen sie sich darbringen. Im Meer, in Flüssen, Quellen und Wäldern walten noch immer böse Geister, welche den Menschen, die sich nicht durch das Kreuzeszeichen zu schützen wissen, schaden und sie quälen, weil dieselben nicht aus ganzem Herzen an Christus glauben, sodass sie sogar nach den Namen der Dämonen die Wochentage nennen (c. 8). Hiergegen polemisirt dann der Autor ebenso wie gegen den Irrthum Unwissender und der Bauern, das Jahr mit den Calenden des Januar statt mit dem Aequinoctium zu beginnen (c. 10). Dabei bekämpft er zugleich die abergläubische Feier der Motten- und Mäusetage ( dies tinearum et murium ), an denen diesen Thieren Brod und Zeug ausgesetzt wurde, um sie für das ganze Jahr abzuspeisen, wie die Menschen auch selbst glaubten, dass wenn sie im Beginne des Jahres schwelgten, sie das ganze Jahr vollauf hätten (c. 11). Auch vor den Augurien, der Beobachtung der Stimmen der Vögel warnt hier der Redner. Die Dämonen sind es, von denen die Menschen sich betrügen lassen. Sie von deren Verehrung zu dem Kultus des wahren Gottes zurückzuführen, hat Gott seinen Sohn gesandt, der am Ende der Welt wiederkommen wird, um zu richten und die, welche nach der Taufe zum Götzendienst zurückkehren, zur Hölle zu verdammen.

584 Es folgt nun mit c. 15 ein zweiter, paränetischer Theil, worin der Redner die Zuhörer auffordert zu überlegen, wie sie den bei der Taufe mit Gott geschlossenen Bund gehalten haben. Und hier kommt er von neuem auf ihren Aberglauben zurück, die Verehrung der Felsen, Bäume und Quellen, das Anzünden von Kerzen auf den Kreuzwegen, die Augurien, die Feier heidnischer Feste Vulcanalia et Calendas observare, mensas ornare, lauros ponere, pedem observare, effundere [in foco] super truncum frugem et vinum, et panem in pontem mittere , quid est aliud nisi cultura diaboli? c. 16., die Beobachtung gewisser Tage bei der Hochzeit (des Freitags) wie bei Reisen, das Bezaubern von Kräutern u. a. Incantare herbas ad maleficia et invocare nomina daemonum incantando. l. l., während sie das Zeichen des Kreuzes ausser Acht lassen. Dagegen achten sie auf signa diaboli, wozu auch das Niessen ( sternutus) gehört. Ebenso gedenken sie nicht des Symbolum und des Gebets des Herrn und halten sich an teuflische Zaubersprüche und Lieder. Die Predigt ermahnt dann zur Besserung, denn der wahrhaft Reuige dürfe die Verzeihung Gottes erhoffen. Den Schluss bildet endlich die Aufforderung zu einer rechten Sonntagsfeier.

Diese Volkspredigt ist in einem einfachen klaren Stile geschrieben, wie denn der Verfasser im Eingang sagt, dass er den Bauern durch bäuerlichen Ausdruck die Speise würzen wolle. Et cibum rusticis rustico sermone condire, was ja, wie auch die für jene Zeit treffliche Sprache zeigt, nicht mit lingua rustica identisch ist. Von welchem grossen geschichtlichen Interesse sie ist (so allein schon in Betreff der Romanisirung des suevischen Landvolks), wird ihre Inhaltsangabe gezeigt haben.

Von den übrigen Werken Martins seien noch erwähnt eine aus dem Griechischen von ihm übersetzte Sammlung von Aussprüchen ägyptischer Väter ( Aegyptorum patrum sententiae ), während eine andre dergleichen, die Verba seniorum , wenigstens auf seine Anregung und wohl auch mit seinem Beistand von einem Paschasius übertragen ist Mit Unrecht ist dagegen Martin eine andere Sammlung moralischer Sentenzen, die den Titel Liber de moribus führt, und in den Handschriften fälschlicher Weise dem Seneca zugeschrieben wird, seit dem 16. Jahrhundert beigelegt worden. S. Caspari, S. XXXII ff. Sie findet sich auch im Anhang der Ausgabe Seneca's von Haase, Vol. III, p. 462 ff.; ferner gehört ihm 585 wahrscheinlich auch ein kleiner Aufsatz De pascha , von kirchlich archäologischem Interesse, an, der von der Berechnung des Osterfestes handelt. Ueber die Echtheit der Schrift s. Caspari, p. XLVII f. und Krusch in Sybels Histor. Zeitschr. Bd. 52, S. 129. – Eine Epistola ad Bonifacium über die Taufe, die von kirchengeschichtlichem Interesse, liegt uns hier zu fern. – Martin hat sich auch in Versen gelegentlich versucht: so hat er für den Eingang einer dem h. Martin geweihten Basilika eine Aufschrift in Hexametern, eine andre für ein Refectorium in Distichen, und ein ihm selbst gewidmetes Epitaphium verfasst. – Es fand sich also auch in dem an der äussersten Grenze des Abendlandes gelegenen germanischen Reiche in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts noch eine literarische Thätigkeit und selbst eine solche, die an die Antike anknüpfend, nicht im unmittelbaren Dienste der Kirche war.

 


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