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Versöhnung.
London! London! So lautet noch immer der Ruf meines sehnsüchtigen Herzens. Und überdies – wurde ich nicht schon seit langer Zeit durch die Pflicht dorthin zurückgerufen? Wie stand es mit dem Manne, den ich beständig im Auge behalten mußte, und mit dem ich jetzt den Kampf unter günstigeren Verhältnissen als früher aufnehmen konnte? Mein erster Ausgang an jedem Morgen galt den Gräbern meiner Eltern, und ohne jene ruchlose Hand würde Keines von Beiden dort gelegen haben. Wie einsam fühlte ich mich, wenn ich dort saß, wie traurig und öde war die Welt für mich, mochte Reichthum oder Armuth, Sieg oder Niederlage mein Loos sein!
Eines Morgens, als ich dort wiederum saß, war mein Gemüth durch die Träume der vergangenen Nacht erregt, und ich gelobte in Gegenwart jener unsichtbaren verklärten Geister, daß Niemand als Der, dessen Namen ich flüsterte, jemals Hand in Hand mit mir auf diesem Rasen knieen solle.
Durch diese mir selber vorgeschriebene Handlung aus meiner gewohnten Stimmung gerissen, trat ich in die alte Kirche, welche stets für mich geöffnet war, und dort kniete ich an dem Altargitter. Umgeben von Wappenschildern, Helmen und Trophäen, mitten unter den Marmorbildern vieler meiner Vorfahren, die ausgestreckt mit im Gebet gefalteten Händen auf ihren Grabmälern lagen, stattlichen weißen Ritterdamen und alten, das heilige Symbol umklammernden Kreuzfahrern, brachte ich das Gelübde auf den ausgehöhlten Steinstufen dar, die Letzte meines Stammes zu sein, wenn er, dem mein Herz gehörte, nicht um mich freien würde.
Es war eine verwegene, unheilige Handlung, an der Stätte, wo Generationen in Staub zerfallen waren, Alles um mich her von der Zeit unterjocht war, und manch' stärkeres Herz als das meine, manch' größerer Geist nicht einmal mehr die Verwüstung seines Stammgutes hätte verhindern können, und deren längst vergangene Freuden und Leiden, Liebe oder Haß, Vorsicht oder Uebereilung jetzt weniger Bedeutung für die Welt hatten, als das Thier, welches über ihnen graste.
Im Hause wartete mein Onkel schon in seinem bequemen Rollstuhl nicht weit von der Seitenthür auf mich, damit ich ihn hinausbegleite. Dies war der beste Weg, auf dem wir ihn in das Freie bringen konnten, weil der Haupteingang über einige Stufen führte. Bis jetzt war mein Onkel seit seiner schrecklichen Krankheit noch nicht in die Luft gekommen; ich schloß aber aus meiner eigenen Erfahrung, daß er nach einem frischen Luftzug schmachten müsse, und nach langer Berathung war beschlossen worden, es heute zu wagen. Von ganzem Herzen sehnte er sich hinaus, aber anstatt Ungeduld zu bezeigen, lächelte er mir dankbar zu. Jetzt bemerkte ich, daß er ein angenehmes gewinnendes Lächeln besaß, eine Gabe, die Gesichtern von melancholischem Ausdruck nicht selten verliehen ist. Ich erwiederte es mit einem Kuß, und wir segelten langsam hinaus. Wie schwelgte er in dem ersten Athemzug aus der reinen balsamischen Himmelsluft! Er streckte einen seiner schwachen Arme aus (den anderen konnte er nicht bewegen) und versuchte, sich aufzurichten, wie eine Blume in der Sonne. Dann sog er die wogende Freiheit mit vollen Zügen ein, und eine Zeit lang war er berauscht. In dem herrlichen krystallhellen Bade schien er der Erde zu entschweben. Als er sich endlich wieder gesammelt hatte, blickte er mich an und sprach:
»Sie können jetzt gehen, John.«
Vor einem Jahre würde er nur gesagt haben: »Gehen Sie, John;« aber Krankheit ist eine vortreffliche Erzieherin. Als John unseren Augen entschwunden war, ließ mein Onkel seine Freuden- und Dankesthränen ungehindert fließen, deren er sich, meiner Meinung nach, keineswegs zu schämen hatte. Ich küßte ihn wiederholt; mein warmes leidenschaftliches Gemüth wurde stets von solchen Zügen mit Theilnahme und Entzücken erfüllt. Darauf legte er seine gesunde Hand auf die, welche kalt und starr war, hob so beide empor und dankte dem Spender alles Guten in schweigendem Gebet.
»Clara, mein liebes Kind,« sprach er endlich, »wie kann ich Dir jemals den tausendsten Theil meiner Dankbarkeit für alle Liebe und Güte zeigen, mit der Du mich überhäuft hast? Wahrlich, es sind feurige Kohlen! Und sie haben mein selbstsüchtiges Herz erwärmt. Dem widerwärtigsten Tode entgegenblickend, in vollem Schmuck der blühenden Jugend und –«
Ich will nicht Alles wiederholen, was er sagte, weil es mir nicht geziemen würde, doch bin ich gezwungen, nach Allem, was vorhergegangen, seine Gefühle für mich zu schildern.
»Und Alles dies mir, mir, der Dein bitterster Feind gewesen ist, der Dich aus Deines Vaters Haus vertrieben und Deiner Mutter Tod verschuldet hat!«
Hier unterbrach ich ihn, damit er sich nicht der Aufregung zu sehr hingeben solle.
»Theurer Onkel, sprich doch nicht mehr darüber, denke nicht mehr daran. Es war Alles meine Schuld. Du weißt, daß ich nicht bleiben wollte, obgleich Du mich oft genug dazu aufgefordert hast. Es bestand stets eine Schranke zwischen uns, nämlich meine eigene Widersetzlichkeit.«
»Nein, es war mein Stolz, Clara, mein besseres Sein war Dir stets in Liebe zugethan. Wie konnte ich anders, als Deine Aufrichtigkeit, Deinen Muth und Deine aufopfernde Liebe für Deinen Vater bewundern? Obwohl ich zugeben muß, daß Du sehr erbittert gegen mich warst, so hätte ich doch durch die richtigen Mittel Deine Abneigung vielleicht besiegen können. Hätte ich Dir die Geschichte meines Lebens erzählt, so würdest Du mich mehr beklagt als verdammt haben. Doch mein Stolz verbot es mir, und ich machte den oft begangenen Fehler – ich betrachtete Dich als ein Kind, weil Du es an Jahren warst. Ich vergaß die treibende Kraft des Kummers zu berücksichtigen. Selbst jetzt, so niedergedrückt und gedemüthigt ich durch die Macht des Himmels bin, kann ich meine seltsame Geschichte nicht ohne ein tiefschmerzliches Gefühl erzählen.«
»Dann, lieber Onkel, werde ich sie Dich sicher nicht erzählen lassen.«
»Und doch ist es meine Pflicht, und je früher ich es thue, desto besser ist es. Obwohl ich für den Augenblick durch Deinen Muth und Deine wunderbare Geschicklichkeit vom Tode errettet bin, fühle ich, daß es nur eines Schlages, wenn auch eines geringen bedarf, um mein Ende herbeizuführen. Sollte es aber Gott gefallen, mich schon morgen abzurufen, so würde ich in Frieden sterben, da ich Deine Verzeihung gewonnen habe.«
»So erzähle mir Deine Geschichte wenigstens nicht heute. Auch will ich Dich nicht so reden hören. Denke daran, daß ich noch immer Ober-Krankenpflegerin bin. Lasse uns nun einmal sehen, wie schön der Hahnenfuß blüht.«
Ich rollte seinen Stuhl über das Gras und begann Blumen zu pflücken, mit denen er wie ein Kind spielte. Um ihn wennmöglich von seinen Gedanken abzulenken, schlug ich dummes Ding einen falschen Weg ein.
»Ach, lieber Onkel, Du wirst mich auslachen und sagen, daß ich noch ganz so schlimm wie früher bin; aber sobald Du wieder wohl bist, will ich fort, trotzdem Du so gut und lieb gegen mich bist.«
»Wie, Clara,« sprach er heftig zitternd, »kannst Du jetzt nicht einmal bei mir leben? Alles soll Dein sein, wie es sich von selbst versteht. Ich will Dir nicht in den Weg treten, sondern mich in ein stilles Eckchen zurückziehen und Dich nicht zu oft stören. Oh Clara, theure Clara, geh' nicht von mir! Du weißt, daß ich ganz hülflos bin und nicht lange mehr leben kann, und Du bist mein Alles, mein Stolz und meine Freude! Aber nicht an mein Wohl denke ich. Ich kann nicht vorhersagen, und Du bist noch viel weniger dazu im Stande, welches Unheil geschehen mag, wenn Du dieses Haus wieder verlassen würdest. Jene verschlagene Heuchlerin wird sich sofort wieder einstellen, sie, die aus der ganzen Dienerschaft Feiglinge gemacht und sich selber in ihrer Feigheit von mir gewandt hat, die mich einsam in meinem Bette sterben lassen wollte, während sie mir alle meine Schlüssel entwendet hatte. Wenn ihre Verrätherei gelingt, so werde ich im Grabe keine Ruhe finden. Ich weiß, daß sie mich noch vergiften würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte, und sie irgend einen Vortheil dadurch zu erreichen wüßte.«
Es war das erste Mal, daß er von Mrs. Daldy zu mir sprach, und ich war über seine Bitterkeit erstaunt, denn ich hatte Nichts von irgend welchem Streit gehört. Was in aller Welt konnte dies zu bedeuten haben?
»Geh nicht fort, Clara,« flehte er, während ihm kalter Schweiß auf die Stirne trat, und jede Muskel seines abgemagerten Antlitzes zuckte. »Geh nicht von mir, meine Herzensclara! So lange Jahre hindurch habe ich Niemand gehabt, den ich lieben konnte; wenn Du gehst, muß ich sofort sterben und, was noch schlimmer ist, in dem Bewußtsein sterben, daß Du beraubt wirst.«
Er fiel in den Stuhl zurück und blieb mehrere Minuten lang bewußtlos liegen. Als er in Folge meiner Bemühungen wieder zu sich kam, sah er mich so kummervoll an, und aus seinen Augen blickte eine solch tödtliche Angst, daß ich mit schwerem Herzen versprach, ihn, so lange er nicht ganz wieder hergestellt sei und meine Pflege nicht entbehren könne, nie anders zu verlassen, als mit seiner Erlaubniß, oder wenn unumgängliche Nothwendigkeit dafür vorhanden sei.
Er versuchte sogar mich zu überreden, meine in London zurückgelassenen Sachen nicht selber zu holen, sondern sie durch einen zuverlässigen Diener einpacken und befördern zu lassen. Doch konnte ich ihm hierin nicht nachgeben, da ich fühlte, daß ich von Isola nach aller Güte, die sie mir erwiesen, und der Liebe, welche ich für sie empfand, persönlich Abschied nehmen mußte, und was konnte eine so kurze Abwesenheit auch schaden?
Mein Onkel wünschte, daß ich Isola zu einem langen Besuch mitbringen solle, aber hiervon konnte zu einer solchen Zeit nicht die Rede sein; auch würde die lebhafte, fröhliche Isola bald ein recht langes Gesicht in unserm von Krankheit heimgesuchten, langweiligen Hause bekommen haben.
Endlich wurde bestimmt, daß ich am folgenden Montag nach London reisen, einen vollen Tag dort verweilen und am dritten Tage mit meinen unbedeutenden Habseligkeiten zurückkehren solle.
Dann machte mein Onkel mir noch einen Vorschlag, von dem ich aber Nichts hören wollte.
Er hatte die Absicht, seine sämmtlichen Besitzthümer, bewegliches wie unbewegliches Eigenthum, durch eine Schenkungsakte an mich abzutreten, mit Ausschluß einer kleinen Jahresrente für sich selbst und der Summe von 10,000 Pfund, die er für einen besonderen Zweck bestimmt hatte, welchen er mir später gelegentlich mittheilen wollte. Nur so, sagte er, habe er das Gefühl, gerecht gegen mich zu handeln, und daß ich gegen Mrs. Daldys Pläne etwas geschützt sei. Auf letztere gab ich sehr wenig und hielt es für die Folge der Erschütterung seines Geistes, daß er so viel Gewicht darauf legte. Unter keinen Umständen wollte ich den Gedanken aufkommen lassen, daß er sich so berauben solle. Geld konnte ich bis zu jedem Betrage haben, obgleich ich sehr wenig brauchte, da ich mich abermals durch eine heilige Pflicht von der langwierigen Verfolgung meines Ziels und von allen Tändeleien, die anderen Mädchen Vergnügen bereiten, zurückgehalten sah. Ich bat meinen Onkel, die Güter einem ehrlichen Verwalter in Obhut zu geben und mir zur Ersparung von Weitläufigkeiten ein mäßiges Jahrgeld auszusetzen. Hierin willigte er endlich und trug mir eine so große Rente an, daß ich noch, nachdem ich die letzte Null gestrichen hatte, mehr besaß, als ich hätte ausgeben können. Das Erste, was ich that, war, daß ich dem guten Pächter den Rest der mir geliehenen Summe nebst den Zinsen zu 10 Procent gerechnet, sandte, was mir in Anbetracht, daß er keine Sicherheit in Händen gehabt, nicht übertrieben schien.
Nun sah ich mit größter Spannung der Zeit entgegen, wo mein armer Onkel kräftig genug sein würde, mir ohne Gefahr für seine Gesundheit seine Lebensgeschichte zu erzählen. Ohne Zweifel mußte dieselbe auch einiges Licht auf das Geheimniß meiner eigenen werfen. Dieser Gedanke sowohl wie mein Pflichtgefühl, versöhnte mich einigermaßen mit dem Aufschub, den meine Lebensaufgabe wiederum erlitt. Er würde sie mir sofort in seiner heißen Dankbarkeit für mein feierliches Versprechen erzählt haben, aber an jenem Tage war er schon so angegriffen vom vielen Sprechen, daß ich es nicht zugab, und als der belebende Einfluß der frischen Luft vorüber war, fühlte er sich wieder schwächer als zuvor.