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Isola Roß.
Ich grämte mich recht über den Verlust des letzten Briefes, den ich nach Tossil's Barton geschrieben, weil ich meine kleinen Weihnachtsgaben für die ganze Familie hinein gelegt hatte. Er war eingeschrieben gewesen, aber in jener Gegend, wo die Bestellung der Briefe so vom Zufall abhing, hatte man wohl nicht darauf geachtet. Die Weihnachtsgeschenke, welche ich von dort erhalten, wollte ich mit Denjenigen theilen, die wirklichen Nutzen davon haben würden, und nicht, wie es gebräuchlich ist, mit Solchen, die es nicht bedürfen, aber mit Zinsen zurückerstatten. Am Morgen des ersten Feiertages gingen Mrs. Shelfer und ich, Jede mit einem großen Korbe, nach den Stallwohnungen an der Ecke und theilten an die armen Bewohner so viel Weihnachtsessen aus, wie noch niemals über ihre Thürschwelle gekommen war. Wie dankbar waren die armen Menschen, von denen Jeder freilich das Beste für sich zu haben wünschte.
Die Zeichenschule war jetzt eine Zeitlang geschlossen, und ich arbeitete mehrere Tage hindurch fleißig an der Landschaft für Mr. Oxgall, obgleich ich durch die mir übersandten Vorräthe und die in den Truthahn eingeschlossene Pacht vor augenblicklicher Noth geschützt war.
An dem Tage, der von allen übrigen Tagen im Jahre für mich der traurigste und finsterste ist, konnte ich nicht bei meiner Aufgabe bleiben, und ich ging in die jetzt wieder eröffnete Zeichenschule, um meine Gedanken etwas zu zerstreuen.
Es war am 30. Dezember 1850, genau acht Jahre nach jenem schwarzen Verbrechen, durch das ich vaterlos geworden, und ich begann zu fürchten, daß jedes kommende Jahr meine Unbeugsamkeit und Strenge vermindern würde. Je mehr ich auf das lärmende Gewühl der überfüllten Straßen blickte, je mehr ich mich in das Lesen solcher Werke vertiefte, wie sie in jener goldenen Periode dem reichen, tiefen Humor Thackeray's, dem glänzenden, sprudelnden Witze Dickens' und dem humanen Geiste des größten Schriftstellers unserer Zeit, der als Lord Lytton bekannt ist, entsproßten, desto mehr verlor sich die Schärfe meines auf das Ziel meines Lebens gerichteten Blickes. Am heutigen Tage aber betrachtete ich solche Zerstreuungen und selbst Mrs. Shelfers Geplauder als Verrath.
Ich nahm in dem großen, düstern und heute noch besonders kalten und einsamen Saal meine gewohnten Bücher und Studien vor, doch vergebens bemühte ich mich, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten. Da ich meine Anstrengungen als ganz fruchtlos erkannte, packte ich meine Sachen in die kleine schwarze Tasche und stand auf, um zu gehen. Als ich mich umwandte, sah ich auf dem Tische, wo die Werke der Schüler ausgestellt waren, einen kleinen, mir noch nicht bekannten Kunstgegenstand. Es war die Marmorstatuette eines herrlichen Edelhirsches, wie ich deren hin und wieder im Norden von Devonshire erblickt hatte. Die lauschende Stellung, die Wendung des Halses, die zierliche Haltung des kräftigen Kopfes, selbst das sanfte und dennoch lebhafte Auge und die leicht zitternden Nüstern – jeder Zug war mir bekannt und treu dem Leben nachgebildet. Schönheit, Kraft und Anmuth waren siegreich in dem Ganzen verkörpert. Wohl eine Minute stand ich in Bewunderung versunken da. War dies das Werk eines jugendlichen Bildhauers, so konnte England endlich auf über dem Grotesken stehende Kunstwerke hoffen. Vor mir erschien die ganze Waldlandschaft wie mit einem Schlage; ich sah die Abhänge mit ihrem in allen grünen Farbentönen schimmernden Laubgewande, die Bäume, welche sich von dem mit Brombeergebüschen bewachsenen Steinbruch abhoben; die dazwischen liegenden, hellbeleuchteten Thäler, den Dunst, der über den Gewässern schwebt, dahinter die mit Haidekraut bedeckten Bergkuppen und in weiter Ferne die röthlichbraunen Höhen von Exmoor. Im Vordergrunde des Bildes steht der Hirsch, und ich bin ihm so dankbar für die durch ihn entstandene Vision, daß ich mich zu ihm niederbeuge und ihn küsse, da es Niemand sieht. Beim Herabneigen löst sich das Cordis aus seinem warmen Versteck an meiner Brust. Einer unerklärlichen Eingebung folgend nehme ich das Band von meinem Halse und hänge das kleine Feenherz auf das Geweih des Devonshirer Hirsches. Hinter einem Schranke mit Abgüssen und Modellen springt – welches Modell könnte sich mit ihr vergleichen – das lieblichste aller lieblichen Wesen, meine kleine Isola Roß, hervor.
Ich verberge die Thränen, welche mir in die Augen treten und versuche kalt und zurückhaltend auszusehen. Vergebens – ein Lächeln von ihr würde Belial entwaffnet haben.
»Es ist nicht meine Schuld, mein Herz, nein, wirklich nicht. Oh, bitte, geben Sie mir das Cordetto. Nein, thun Sie es nicht. Es ist die Ursache, daß ich Sie auf den ersten Blick so lieb gewonnen habe. Hier ist auch mein ganzes Geld, Liebste. Längst schon habe ich es mit mir herumgetragen, aber die Börse zugenäht, um es nicht ausgeben zu können, und aufgetrennt habe ich sie nur ein Mal. Ich mußte versprechen, nicht zu Ihnen zu gehen, trotzdem ich drei Tage lang Nichts essen wollte und versucht habe, mit Papa zu schmollen, weil er es nicht beachtete. Sie haben mir mein Ehrenwort abgenommen, und die alte Cora ließ mich keinen Schritt allein gehen, damit ich es nicht brechen konnte. Ich wollte ihnen Ihre Wohnung nicht nennen, mein liebes Herz, aber ich habe die alte Cora so lange durch die Straße auf der Seite, wo Sie wohnen, hin und her gehetzt, bis sie Verdacht zu schöpfen begann. Doch habe ich Sie niemals sehen können, obgleich ich in alle Fenster schaute, bis die Leute mir Kußhände zuwarfen und ich mich schämen mußte.« ö
Die liebe Kleine! Ich wohnte oben und hätte um sie zu sehen auf den Balkon hinaustreten müssen, der nicht größer als ein Schachbrett war. Wäre sie nicht so einfach gewesen, immer auf der Seite zu gehen, wo ich wohnte, so würde sie mich längst erblickt haben, da ich den ganzen Tag in der Nähe des Fensters zeichnete, wenn ich nicht in meiner Schule war.
Ich verzieh ihr gnädigst, daß sie mir nichts Böses gethan hatte, und küßte sie auf das Herzlichste. Ihr Athem war so süß wie Veilchen im Frühlingsklee, und ihre Lippen waren so warm und weich wie das Nestchen eines Zaunkönigs. Als sie meine Verzeihung erhalten hatte, begann sie in dem langen Saal hin und her zu tanzen; den Mantel hatte sie abgeworfen, sie schüttelte ihr Haar, bis die Flechten sich lösten, und die herrliche, schwebende Gestalt glitt wie von einer Wolke getragen dahin. Natürlich war Niemand anwesend, sonst würde selbst die unbedachtsame Isola sich nicht so unbefangen ihrer Lustigkeit hingegeben haben; oder doch vielleicht. Sie war so harmlos, daß sie Niemand etwas Böses zutraute und auch nicht auf die Idee kam, daß Jemand von ihr etwas Böses denken könne.
Nachdem sie sich ein Dutzend Mal in einem raschen, zierlichen und mir (die nie viel vom Tanzen gewußt) gänzlich unbekannten Tanz im Kreise gedreht hatte, kehrte sie zu mir zurück, küßte mich unzählige Mal, küßte dann auch mein Cordis und empfahl mir, mich nie davon zu trennen. Jetzt sei sie ganz sicher, daß ihr Papa mir nicht würde wiederstehen können, und sobald sie es ihm gesagt habe, müsse ich am nächsten Tage in ihr Haus kommen; ich sei zwar, wie sie wisse, schrecklich stolz, aber ob ich ihrem Papachen nicht um ihretwillen vergeben wolle? Natürlich wisse er gar Nichts von mir, sie habe ihm nicht einmal meinen Namen gesagt, obwohl sie ihm meine Geschichte nicht habe verschweigen können, wenigstens so viel sie davon gewußt. Manchmal hätte sie schon denken müssen, daß er sich nicht das Geringste aus ihr mache, aber dann sei er doch wieder so schrecklich eifersüchtig, daß er Niemand erlauben wolle, auch nur ihren Handschuh zu berühren.
Als ich ihr so in das unschuldige, süße Gesicht blickte, mußte ich Letzteres erklärlich finden, aber wie konnte er es ruhig mit ansehen, daß das liebe kleine Geschöpf drei Tage lang keine Nahrung zu sich genommen? Wahrscheinlich hatte sie übertrieben. Obgleich so wahr wie der lichte Tag, ließ sie sich von ihrer warmen Natur und lebhaften Fantasie dazu bestimmen, manche Punkte zu grell zu beleuchten, wie die Sonne selber es zu thun pflegt. Aber ohne dies war ich von vornherein schon gegen den Professor eingenommen; ich kann nämlich die moralisirenden Menschen nicht leiden, besonders nicht, wenn ihre Philosophie eine kalte ist. Trotzdem versprach ich Isola sehr bereitwillig, ihrem Papa zu vergeben, denn ich hatte sie wahrhaft lieb. Ihre Natur war so gänzlich verschieden von der meinigen, so leicht, sanft und elastisch, kurz, die Ergänzung meiner eigenen. Wir plauderten, oder vielmehr sie that es, wohl eine halbe Stunde lang. Dann sagte sie mir, daß die alte Cora sie um drei Uhr abholen werde. Ich erhob mich abermals, um zu gehen, denn ich befürchtete, sie würde in Unannehmlichkeiten gerathen, wenn die alte Amme sie in so vertrautem Gespräch mit einer Unbekannten vorfände.
Isola aber sagte, daß sie nicht das Geringste nach der alten Cora frage und es sich fest vorgenommen habe, mit ihrem Bruder Konrad, dem Bildhauer des Hirsches, hier zusammenzutreffen. Vielleicht würde er mit Cora kommen, aber er sei jetzt so verändert, daß sie nie sagen könne, was er thun würde. Seit sie mich zum ersten Mal gesehen habe, sei Konrad mündig geworden, und was eigentlich vorgefallen sei, könne sie nicht ahnen, aber er und sein Vater wären so hart an einander gerathen, daß er fortgegangen sei und nicht mehr mit der Familie zusammen wohne. Sie glaube, es müsse sich um Geld oder ähnliche häßliche Sachen handeln; aber selbst Cora wisse Nichts darüber; oder wenn sie Etwas wisse, so wolle das alte Geschöpf es doch nicht sagen. Isola hatte sich fast die Augen darüber ausgeweint, doch jetzt glaubte sie sich darin finden zu müssen.
Aber sie wollte die Wahrheit wissen. Es sei zu abscheulich, noch wie ein kleines Kind behandelt zu werden, da sie doch ein erwachsenes Mädchen wäre. Wie viel größer solle sie denn noch werden? Und was noch schlimmer sei, sie hätte sie Beide so gern getröstet, und könne sie das, ohne zu wissen, um was es sich handle? Es sei zu arg, und sie wünsche ein Junge zu sein, ja, das wünsche sie von Herzen.
So erzählte sie, bis ihre zarte Brust sich unruhig hob und senkte, ihre Korallenlippen zitterten, und eine Thräne sich unter den langen Wimpern hervorstahl, während sie sich Trost suchend dichter an mich schmiegte.
Ich umschlang ihre runde, feine Taille und küßte ihr die hellen Tropfen von den Wangen, als ein dunkles, hageres Weib hereinstürzte, das natürlich die alte Cora war. Sie riß das arme Kind aus meinen Armen, und ihre wüthenden Blicke würden genügt haben, ein mit wirklichen Schrecken unbekanntes Mädchen zu ängstigen.
Ich begegnete ihrem finstern Auge mit einer ruhigen Ueberlegenheit, vor der es sich scheu und verwirrt senkte. Dann murmelte sie einige Worte in einer platten Mundart, die mir wie das Gallische aus den Hochlanden klang, und führte ihre Schutzbefohlene nach der Thür.
Sie hatte ihre Gegnerin aber unterschätzt. Sollte ich mich bei Seite schieben lassen, wie ein Pfefferkuchenweib, das ein Kind mit schwachem Magen an sich locken will? Ich ging an ihnen vorüber, und stellte mich dann der alten Hexe in den Weg.
»Seien Sie so gut, liebe Frau, und bleiben Sie hinter mir und dieser jungen Dame. Wenn wir Ihre Gesellschaft wünschen, so werden wir es Ihnen sagen. Isola Roß, komme mit mir, wenn Du nicht die Tyrannei einer rohen Dienerin der Zuneigung einer Dame vorziehst.«
Isola konnte vor Furcht nicht sprechen. Ich weiß nicht, welchen Ausgang die Scene genommen hätte, wenn die alte Hexe, welche zwar finster und etwas eingeschüchtert umhersah, den zarten Arm jedoch noch fest gepackt hielt, nicht zufällig mein Feenherz erspäht hätte, das ich noch nicht wieder verborgen hatte.
Sie starrte es einen Moment mit erstaunten Augen an. Dann änderte sich ihr Betragen vollständig. Sie schmiegte und bückte sich und knixte vor mir, als hätte ich eine Tiara getragen. Sie gab den Arm meiner lieben Isola frei und zog sich demüthig wie eine Negersklavin hinter uns zurück. Meine arme kleine Freundin war ganz kalt und zitterte vor Angst, denn sie hatte (wie sie später sagte) die alte Cora noch nie in solcher Wuth gesehen, und die abergläubische Kleine fürchtete den bösen Blick.
Als wir auf Isolas Haus zuschritten, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, wie köstlich eine Unterhaltung zwischen Mrs. Shelfer und der besiegten Alten sein müsse, wenn ich Letztere mit mir nehmen würde. Aber weise Vorsicht (ich zählte ja schon achtzehn Jahre) und der Gedanke an den feierlichen Tag verhinderte mich daran. So führte ich Isola, während sie mir den Weg angab, direkt nach Hause und wendete mich zuweilen freundlich und ermuthigend nach der alten Cora um.
Das Haus, in welchem sie wohnten, war ein schmales, düster und unfreundlich aussehendes Gebäude, dessen tiefliegendes Erdgeschoß durch ein Geländer von dem Bürgersteig abgegränzt wurde. Ein kleines Mädchen öffnete die Thür, und ich nahm auf den zu dem Erdgeschoß führenden Stufen vor dem Hause Abschied. Die jetzt wieder übermüthig gelaunte Isola küßte mich, und ihre Wange berührte mich wie ein von der Sonne erwärmter Pfirsich. Sie versprach mich am folgenden Tage zu besuchen, was jetzt keine Schwierigkeiten mehr machen würde.
Die alte Cora verbeugte sich tief, als sie mir einen guten Abend wünschte und bat um Erlaubniß, mein Cordetto küssen zu dürfen. Ich gestattete es ihr, wobei ich aber sorgfältig vermied, es aus der Hand zu lassen. Sie bewunderte es so sehr, besonders als ich ihr erlaubte, es näher zu besichtigen, und ihre Augen funkelten dabei so gierig, daß ich überzeugt war, sie würde es bei der ersten Gelegenheit zu stehlen suchen. Deßhalb kaufte ich sofort eine dicke seidene Schnur an Stelle des schwarzen Bändchens, das schon etwas abgetragen war.
Als ich mich vor dem Dunkelwerden zu Hause befand, dachte ich sehr verwundert und mit einigem Triumph über mein Erlebniß nach, während ich hocherfreut war, meine theure Isola wiedergefunden zu haben.