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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Eine plötzliche Botschaft.

 

Isola verließ mich an jenem Tage früher als gewöhnlich, weil sie fürchtete, daß ihr heute nicht gerade liebenswürdig gelaunter Vater böse auf sie werden möchte. Sie grämte sich natürlich über den neuen Zwist; sie glaubte, daß ich (ihre Ideen waren von etwas losem Zusammenhang) in irgend einer Art zu tadeln sei. Dessen ungeachtet vergab sie mir bald das Verbrechen, welches ich nicht begangen hatte.

Heute konnte ich nicht mehr malen, ich wollte nachdenken. Plötzlich erscholl ein lautes Klingeln und noch lauteres Klopfen an der Hausthür. Mrs. Shelfer's kleine Füße kamen eiligst die Treppe herauf getrippelt und es schien, als ob ihre grauen Augen thatsächlich zuerst hereinkamen. Die schwarze Haube hing ihr oben auf dem Kopfe wie ein zurückgeschlagenes Kutschenverdeck.

»Oh, meine Beste, sehen Sie her! Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht so erschrocken.«

Sie hielt mir auf volle Armeslänge ein geschlossenes Couvert mit der Aufschrift »Miß Clara Vaughan« entgegen. Ich riß es auf und las:

»Mr. Vaughan liegt im Sterben. Kommen Sie sofort.

Mrs. Fletcher

»Ein Telegramm, mein gutes Herz,« rief Mrs. Shelfer, »von der electro-telegraphischen Gesellschaft, die Dräthe glühen noch ganz roth und er sagt, Sie müßten den Empfang bescheinigen und ob er eine Antwort mitnehmen solle und er bekäme achtzehn Pence. Oh Gott, wie soll ich das nur überleben! Solche Aufregung habe ich nicht gehabt, seit mein Bruder John das Zeitliche gesegnet, und er war so schön angeputzt, ich sagte zu dem Kirchner in Barbican –«

»Bitte, gehen Sie mir aus dem Wege. Ich will nur das Formular unterschreiben, und dann lassen Sie mich auf eine Minute allein. Eine Antwort ist nicht nöthig.«

Sollte ich reisen? So wenig ich meinen Onkel liebte – konnte ich, seines Bruders Tochter, ihn unter Miethlingen und Fremden sterben lassen? Vor einem Jahre noch würde ich es gethan und es für Gottes Gericht angesehen haben. Jetzt gedachte ich des Todes meiner theuren Mutter und meine Bedenken galten nur der Ungewißheit, wie er mein Kommen aufnehmen würde. Ich zögerte jedoch nur sehr kurze Zeit, ließ dann eine Droschke bestellen, übergab Guidice Mrs. Shelfer's Obhut, schrieb ein kurzes Billet an Isola, raffte einige Kleidungsstücke zusammen und war reisefertig.

Selbst inmitten dieser eiligen Vorbereitungen überfiel mich eine egoistische Furcht, und ich schärfte Mrs. Shelfer ein, mein Reiseziel zu verheimlichen. Sie sollte nur sagen, daß Einer meiner Verwandten auf dem Lande plötzlich erkrankt sei. Da für sie die Bezeichnung »auf dem Lande« nur eine mit Meilensteinen versehene Wüste bedeutete, so war meine Angabe in ihrem Munde nicht auffallend unbestimmt.

Als ich im Hausflur auf die Droschke wartete, erhob der arme Hund, welcher von Unruhe erfaßt irgend ein Unglück witterte, ein langgedehntes, nicht endenwollendes Jammergeheul.

»Oh, meine Beste,« rief Mrs. Shelfer, »lassen Sie mich die Droschke abbestellen. Die Reisekosten würden doch nur fortgeworfen sein. Der gute Herr ist jetzt schon mausetodt. Im dritten Haus hier nebenan befand sich ein Dachshund mit einem eingekerbten Ohr, als mein Bruder John krank war; er hieß Jack, glaube ich, nein, Tom – oh, was rede ich nur, Bob – Charley wird es wissen –«

»Telegraphiren Sie mir den Namen, Mrs. Shelfer. Da ist die Droschke.«

Das schwerfällige Stampfen und Trappeln des müden Gaules, das Knirschen der Räder, ein überflüssiges Prr – und wir öffnen die Thür.

Guidice springt sofort in die Droschke und nimmt aufrecht, mit aus dem Maul hängender Zunge und freudig schnaufend den ganzen Raum des Wagens ein. Es erfordert die vereinten Kräfte, Ueberredungskünste und Befehle des Droschkenkutschers, der Wirthin und meinerseits, um ihn wieder herauszubringen. Dann kriecht er mit eingezogenem Schweif, herabhängenden Ohren und gesenkten Augen, theils hineingelockt, theils gedrängt, in den engen Flur zurück, wo er einen von zwei heißen Thränen begleiteten Kuß von mir erhält. Noch über die Straßenecke und den Platz hinaus höre ich sein jämmerliches Geheul.

Anderthalb Stunden nach Empfang der Depesche saß ich in einem Coupe zweiter Klasse und der Zug fuhr unter gellendem Pfeifen von der Station Paddington ab. Ich war eine Zeit lang wie betäubt von der Hast und Plötzlichkeit meiner Abreise. Der Aprilabend hüllte die Landschaft schon in seinen grauen Schatten, und ich hatte die bewaldeten Wellenlinien von Pangbourne schon vorüber fliegen sehen, während der Dampf seine silberweißen Ringe auf die dunkeln vielfingerigen Tannen warf, ehe ich meine Gedanken wieder sammeln konnte. Als der Zug durch die Felder und Hügel in Schlangenwindungen dahinglitt, während das Rebhuhn seinen abendlichen Ruf anhob, die Fasanen aus dem Unterholz zur Fütterung hervorkamen, und die Krähen ihre dunkelen Flügel ausbreiteten, da endlich waren Staub und Tumult der Stadt meilenweit zurückgeblieben, und die funkensprühende Fahrt ging in die thauige, frische, einsame Mondnacht hinein. Obgleich ich allein im Coupé war, suchte ich mich vergebens aus Vorsorge in den Mantel des Schlafes zu hüllen. Jede Ader, jede Pore durchströmte volles, wogendes, elektrisches Leben. Die freie, ländliche, herrliche Natur! Oh, himmlische Schönheit des Landes! Wie hatte ich mich nur so lange in den düsteren Mauern der Stadt vergraben können! Für jeden Gedanken, der mir dort langsam durch das Gehirn schlich und sickerte, flossen jetzt tausende, nicht durch mein Gehirn, nein, durch meine Seele! Gedanken kann ich sie nicht nennen, denn weder Wille, noch Folgerungen, noch bildliche Vorstellungen sind mit ihnen verknüpft. Es ist nur ein reicher Strom, dessen Ursprung und Endpunkt mir gleich unbekannt sind. Wie soll ich Anderen schildern, was mir selber unerklärlich ist?

»Station Glost'! Glost'! Umsteigen nach Chelt'm!« Dieser Ruf unterbrach plötzlich meine Träumereien. Es war elf Uhr Abends. Ich hatte keine Reisedecke mitgenommen. Die himmlische Schönheit der ländlichen Natur hatte verabsäumt, mich warm zu halten. Ich trat auf den Perron hinaus und begann noch wie traumbefangen nach meiner Reisetasche zu suchen, denn ich hatte kein schweres Gepäck bei mir. Der Mond stritt draußen mit dem Gaslicht, wie in mir die Poesie der Natur widerstrebend vor den Anforderungen des modernen Lebens zurückwich.

»Wünschen Sie einen Miethswagen, Miß?« fragte der einsame Gepäckträger.

»Jawohl,« sagte ich.

»Wohin, Miß?«

»Nach Vaughan St. Mary.« In jenem Abschnitt meines Lebens ließ ich das hochtönende »Vaughan Park« fallen. Es erschien mir als zu vornehm für mich, und mir genügte auf derselben gesellschaftlichen Stufe mit Conrad zu stehen.

»Oh, es ist eine Equipage für Sie da, die Sie schon mit jedem Zug erwartete, Miß.«

Und mit zehnfacher Höflichkeit geleitete der Träger mich über den freien Platz zu einer der Familien-Staatskutschen, die mein Vater und ich stets verabscheut hatten. Zufällig nahmen der Kutscher und Lakai im benachbarten Restaurationszimmer noch eine kleine Erfrischuug zu sich, während die Pferde wiehernd auf die Trense bissen. Widerwillig kamen die Leute heraus und glotzten mich in dem hellen Mondschein an. Ich war sehr einfach in billigen, schwarzen Stoff gekleidet, denn ich trug noch tiefe Trauer um meine liebe Mutter, aber dennoch, glaube ich, hätte jeder noch so unerfahrene Diener mich für eine Dame halten müssen. Die Männer waren halbbetrunken und verdrießlich über die Störung, auch schien ihnen mein Anzug und Reisesack nur eine geringe Meinung von mir einzuflößen.

»Sie wollen behaupten, daß Sie Miß Vaughan sind?« stotterte der taumelnde Kutscher, die Hände in den Taschen und eine kurze Pfeife im Munde. »Das kann eine Jede sagen, und ich muß Ihnen geradehin gestehen, daß ich es nicht glaube. Hältst Du es für wahrscheinlich, Bob?«

»Wahrscheinlich? Ja, für einen Narren, aber nicht für Unsereinen. So dumm bin ich nicht. Vielleicht würde das junge Frauenzimmer uns auf ein paar Fragen antworten, Jacob.«

»Oh, Dich soll nur Einer zufrieden lassen, Bob, besonders wo es sich um junge Mädchen handelt.«

»Gepäckträger, bitte, schnell eine Droschke oder eine Miethskutsche, wie es hier heißt.«

»Sehr wohl, Miß, Ich besorge Ihnen gleich die beste in Gloucester; und, Miß,« fügte er vertraulich hinzu, »wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich die Kerle sicherlich morgen aus dem Hause jagen. Wie die beiden hier in's Zeug gegangen sind, seit der Sechs-Uhr-Zug angekommen ist! Ja, zur Zeit, als der selige Squire Vaughan noch lebte –«

»Schon gut, bitte, den Miethswagen.«

Zwei Minuten später befand ich mich in einer klirrenden, rasselnden und stoßenden Halbchaise auf dem Wege nach meines Vaters Haus. Etwa drei Meilen von Gloucester fuhren Jacob und Robert, die neben einander auf dem Bock saßen, in rasendem Tempo an uns vorüber. Der Gepäckträger mußte sie wohl schließlich überzeugt haben, daß ich eine echte Vaughan sei, und sie hatten sich nach Möglichkeit beeilt, um sich zuerst Gehör zu verschaffen.

Endlich fuhr ich durch das Parkthor, das der liebe alte Whitehead beim Ton meiner Stimme zitternd öffnete und das noch so knarrte wie vor Zeiten. Dann ging es weiter die große Allee hinauf, in der ich jeden Baum studirt hatte, und wo Tulip, der Nestor unter den Hirschen, herankam und, mir das im Mondlicht silbergrau schimmernde Gesicht zuwendend, stehen blieb. Mein armer alter Freund kannte mich so gut, wie Guidice, aber ich hatte keine Zeit, mit ihm zu sprechen. Sobald die Glocke gezogen ward, flog der schwere Riegel, an dem ich ehemals mit solchem Stolz meine kindliche Kraft erprobt hatte, mit verdächtiger Geschwindigkeit zurück.

Obgleich er die von Sally als ockerfarbig beschriebene Livree mit einem einfachen grauen Anzug vertauscht, sein Gesicht in eine nichts weniger als joviale Länge gezogen und eine den tiefsten Respekt bezeigende Haltung angenommen hatte, war der öffnende Diener für ein scharfes Auge unverkennbar der dem Bacchus huldigende Bob.

»Mit Verlaub, Miß,« begann er, indem er sich äußerst geschäftig stellte, »mit welchem Zuge sind Sie gekommen? Ich habe gehört, daß die Equipage Sie den ganzen Tag vergebens erwartet hat. Ich sah sie von dem Fenster der Vorrathskammer selber zurückkommen, und im Hofe erzählten die Leute, daß sie den letzten Zug abgewartet hätten.«

»Ich kam mit dem Zuge, der um halb elf Uhr eintreffen sollte.«

»Dann ist es allerdings derselbe gewesen, von dem Samuel und Humphrey sagten, daß sie auf ihn gewartet hätten. Die beiden Menschen sind aber zu unverständig. Und Sie in einem gewöhnlichen Miethswagen kommen zu lassen, Miß!«

»Ich sah meines Vaters Equipage mit zwei rohen, ganz betrunkenen Dienern. Sie heißen jedoch nicht Samuel und Humphrey, sondern Jakob und Robert.«

Fremde Diener umringten mich darauf mit einer Dienstbeflissenheit, die mich nach so langer Ungewohnheit ganz widerlich berührte. Da war kein einziges bekanntes Gesicht, Niemand, den ich mich entschließen konnte, nach meines Vormunds Befinden zu fragen. Aus der mir entgegengebrachten Unterwürfigkeit schloß ich aber, daß er nur noch kurze Zeit zu leben habe.

»Wollen Sie gütigst in das kleine Gesellschaftszimmer treten, Miß? Es brennt dort ein gutes Feuer im Kamin, und eine Dame erwartet Sie.«

»Danke. Bringen Sie, bitte, meine Sachen auf mein kleines Zimmer, das heißt, wenn Sie wissen, welches früher das meinige genannt wurde.«

»Tilly weiß es, Miß. Ich werde Tilly gleich holen!« rief der dienstfertige Bob.

»Wenn Matilda Jenkins noch hier ist, so wünsche ich, daß sie mich während meiner Anwesenheit bedient.«

Darauf wurde ich in das Zimmer geführt, wo die Dame mich erwartete. Sie hatte der Thür den Rücken zugewandt, und ich konnte nur sehen, daß sie sehr reich und gesellschaftsmäßig gekleidet war. Ein starker Essiggeruch erfüllte den Raum, und zwei Räucherkerzchen waren angezündet. Als ich um den Tisch ging, erhob sie sich zögernd, und ich stand Mrs. Daldy gegenüber.



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