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Zweifel und Bedenken.
Aus Sallys genauer Beschreibung des Rockes mit den Knöpfen ersah ich, daß ein Diener von Vaughan St. Mary ausgeschickt worden, um nach mir zu fragen. Mein Vater hatte glänzende Livreen und den Puder verabscheut, aber Mr. Edgar Vaughan war zu den alten Familiengebräuchen zurückgekehrt oder er hatte vielmehr geduldet, daß sie sich von selber wieder herstellten, denn solchen Fragen gegenüber war er ganz gleichgültig. Was konnte ihn jetzt bestimmen, eigens nach meinem Aufenthaltsort zu forschen? Ich wußte es nicht, noch war ich sehr begierig, es zu erfahren, schrieb aber dennoch sofort an die Bewohner von Tossils Barton, erstlich, um ihnen ihre Liebesgaben zurückzusenden, welche größtentheils in seit Generationen werthgehaltenen Erbstücken bestanden, und zweitens, um ihnen die Mittheilung meiner Adresse freizustellen.
Dann hielt ich wieder einmal Einkehr in mich selbst. Es scheint mir, als ob sich mein Geist jedes Mal, wenn ich mit der Pächtersfamilie und deren bescheidener Seelengröße in Berührung komme, erweitere. Ich gleiche dann dem Wurm, der sich nach langer dürrer Sommerhitze von erfrischendem Regen belebt fühlt. So befreit Gott in seiner Gnade uns zu Zeiten von dem Staube der Formen und Modethorheiten, der uns zu ersticken droht, und zerstreut den trüben Dunst, mit welchem wir selber uns umgeben, durch einen reinen kräftigen Luftzug. Wir athmen dann eine frischere Brise, als die in Mausoleen eingeschlossene Luft. Anstatt uns aber daran zu laben, läßt der kühle Hauch uns erschauern, und fröstelnd legen wir den Respirator Atemschutzmaske. wieder an.
Der Einblick in mein Inneres gewährte mir jedoch wenig Trost. Ich lebe nicht wie die Mehrzahl der Menschen nur mir selber. Zwar lasse auch ich mir von der Außenwelt keine Verletzung meines Innern gefallen und suche mir dasselbe unwillkürlich vor Unbill zu wahren. Aber um in der Hülse zu reifen, eine Kruste in der Flasche anzusetzen, im Gehäuse zu verrosten, dazu bin ich stets zu sehr ein Spielball von Wind und Wetter gewesen, und niemals werde ich in jener Abgeschlossenheit gedeihen können, die dem britischen Geschmack zusagt. Dennoch besitze ich eine zähe Ausdauer und einen festen beharrlichen Willen, diese echt angelsächsischen Charakterzüge. So weise ich alle Sehnsucht nach Tossils Barton und Vaughan Park, sowie jene leidenschaftlichen und süßeren Träume, welche sich kürzlich in meine Seele geschlichen, von mir und kehre wieder mit Ernst und Eifer zu meiner Aufgabe des Gelderwerbs zurück.
Guidice ist unverändert treu und erheitert mir oft meine Einsamkeit. Er hat weder seinen Herrn noch mich um Erlaubniß gefragt, auch keine formelle Einladung erhalten; dennoch betrachtet er sich hier ganz wie zu Hause, obwohl er schon längst genesen ist, und die Stallverpflegung ihm nicht mehr schaden kann. Ein Mal, als wir an dem Eingang vorübergingen, bezeigte er eine Anwandlung von Gewissensbissen. Um sich davon zu befreien, schnupperte er dort herum und blieb einen Augenblick stehen, worauf er die Schnauze wieder emporhob, den Schweif stolz aufrichtete und munter weitertrabte. Seitdem vermeidet er stets jene Seite der Straße. Er ist noch freundlich gegen Isola, aber er betrachtet sie augenscheinlich nur noch als eine angenehme Bekanntschaft. Jedes Mal, wenn sie eintritt, kommt er aus seiner Ecke hervor, streckt sich gähnend, beschnuppert ihren Anzug, um zu erfahren, wo sie gewesen ist und mit welchen Hunden sie etwa gesprochen hat. Tom, die Vögel, das Eichhörnchen und ein Meerkätzchen (Mrs. Shelfers jüngstes und liebstes Hausthierchen), sie Alle betrachtet er von seinem erhabenen Standpunkt als naturgeschichtliche Sehenswürdigkeiten, die ihm aber davon abgesehen nicht das mindeste Interesse einflößen. Er darf jetzt frei im Hause herumlaufen, kennt den Mechanismus sämmtlicher Thürschlösser und stellt sich in allen Zimmern zu den Mahlzeiten ein. Selbst die kleine Schneiderin hält er seiner Beachtung werth. Jeder im Hause liebt ihn, weil er so sanftmüthig, klug und treu ist. Kommt er dann zu mir zurück, so giebt er mir einen allerdings etwas fettigen Kuß (nur als eine Form, wie ich befürchte) und ruft: »Mein Gott, was ist das für ein Leben!« worauf er sich auf den Kaminvorleger niederläßt und in Gedanken versinkt.
Von Niemand außer seinem Herrn und mir läßt er sich weiter als bis an die Ecke unserer Straße locken. Miß Florance, die Schneiderin, fragte einmal, ob Guidice sie begleiten dürfe, was ich nicht ohne Eifersucht erlaubte. Obgleich sie eine Tasche mit seinem, wahrscheinlich aus Knochenmehl gebackenen Lieblingszwieback mitnahm und ein Stück davon in der Hand hielt, folgte er ihr nur bis zur Ecke; dann machte er entschlossen, oder, wie sie es nannte, höchst unartig, Kehrt und trabte, die Augen auf meinen Balkon gerichtet, schnurstracks nach Hause. Ich gab ihm mehr Zwieback, als er von ihr erhalten hätte. Dies Alles war sehr angenehm, aber es hatte zwei Nachtheile. Erstens verlangte Guidice, daß ich nur ihn malen und jeden anderen Kunstzweig vernachlässigen sollte. Diesem unvernünftigen Wunsche konnte ich nicht willfahren. Abgesehen von jedem anderen Bedenken, weigerte sich Mr. Oxgall, nachdem er mir drei Studien von ihm abgekauft hatte, seine Porträts ferner zu nehmen, ehe nicht diese drei verkauft seien.
Der zweite Nachtheil war noch ernsterer Natur. Entweder legte ich durch die Verpflegung des Hundes seinem Eigenthümer eine Verpflichtung auf, oder ich war ihm zu Dank verpflichtet, indem ich die Gesellschaft des Hundes ausschließlich für mich in Anspruch nahm. Jeder dieser Gesichtspunkte war unangenehm, und der letztere wurde mir bald unerträglich. Ich sprach mit Isola darüber, denn ich konnte mich nicht gut gegen ihren Bruder aussprechen, der freilich das Dilemma, in dem ich mich befand, längst hätte wahrnehmen müssen.
»Oh, Donna,« rief Isola, »welchen Unsinn Du sprichst! Uns verpflichtet! Nein, wir sind Dir entschieden sämmtlich zu großem Dank verpflichtet. Und wie mancher Skandal wird uns dadurch zu Hause erspart, denn der Hund kann den Papa nicht leiden. Kommt Conrad aber zu uns, so ist es ihm unerträglich, wenn Guidice wie ein Dieb ausgeschlossen wird, ein so ehrlicher, treuer Hund, wie nur je einer mit dem Schweif gewedelt hat.«
»Ja, das ist er; nicht wahr, Du bist ein Bayard Pierre du Terrail, Chevalier de Bayard (etwa 1476-1524), französischer Feldherr. Seine Biographie Le Loyal Serviteur, die ein Jahr nach seinem Tod von seinem ehemaligen Leibarzt und Sekretär Symphorien Champier verfasst wurde, fand weite Verbreitung und trug zu seinem sprichwörtlichen Ruf als »Ritter ohne Furcht und Tadel« bei. und Aristides Aristeides (um 550-467 v. Chr.) mit dem Beinamen »der Gerechte«, athenischer Staatsmann und Feldherr. Als Gegner der Flottenpläne des Themistokles wurde er von 482 bis 480 v. Chr. durch das Scherbengericht verbannt. in einer Person?«
Die Vereinigung der Gerechtigkeit und Ritterlichkeit blickte mich schweifwedelnd an und nickte Isola ernsthaft zu.
»Aber längst schon habe ich gesagt, daß Conny für Guidice Pension bezahlen müßte, und er fühlt das ebenfalls, wir wußten jedoch nicht, wie wir es Dir vorschlagen sollten, Donna, Du bist so furchtbar stolz.«
»Das bin ich allerdings.«
»Und doch glaube ich sicher, daß es Guidice das Herz brechen würde, wenn er wieder von Dir gehen sollte, nicht wahr, Guidice?«
Er antwortete ihr nicht, sondern kam zu mir, legte seinen großen Kopf auf meinen Schooß und schaute zu mir auf, wie nur ein Hund blicken kann. Jener traurige Blick sprach so deutlich wie möglich: Du weißt, daß ich nur ein Hund bin, Du aber, Clara, bist ein menschliches Wesen, also weißt Du Alles, was wir Hunde wissen und noch viel mehr, nur der Geruchssinn geht Dir ab. Du kannst zu uns und zu Deines Gleichen sprechen, wir Hunde aber können nur mit einander reden. Mache nun keinen unedlen Gebrauch von Deinem Vorrecht. Ich weiß, daß ich geboren bin, um Dir treu zu dienen, und ich liebe Dich von Herzen. Ich kann nicht sagen, wohin ich nach meinem Tode komme, aber ich weiß sicher, daß ich sterben werde, wenn Du mich so von Dir jagst.
Ich küßte ihn also und versprach, ihn nicht zu verlassen, und wenn ich auch zweimal täglich den ganzen Weg nach dem Stalle gehen solle, um ihn zu sehen.
»Und dann noch Eins, liebste Clara«, fuhr die Schwester seines Herrn fort, »ich betrachte ihn jetzt mehr als meinen denn als Conny's Hund. Du weißt doch, daß wir ihn zusammen erhalten haben« (ich hörte dies jetzt zum ersten Mal) »und ich habe Conrad meine Hälfte nur so lange geliehen, wie er für ihn bezahlen wollte.«
Die liebliche Isola war gleich anderen lieblichen jungen Mädchen sehr scharfsinnig in Bezug auf Geldangelegenheiten. Sie war zwar durchaus nicht knauserig. Jene warmfühlende Seele war im Stande, Alles was sie besaß, in einer augenblicklichen Rührung ihres Herzens zu verschenken, und ihr Herz wurde sehr leicht und selbst von dem kleinsten Leid gerührt. Was aber die kleinen geschäftlichen Interessen des Lebens betraf, so wäre sie trotz ihrer Unschuld vollständig befähigt gewesen, einem Fleischwaarenladen vorzustehen oder sich für Geld in Kost zu geben, ja, sogar möblirte Zimmer zu miethen, mit welcher Steigerung ich jedoch keineswegs beabsichtige, Mrs. Shelfer zu nahe zu treten, die in Anbetracht ihrer Versuchungen der Inbegriff aller Ehrlichkeit war, besonders seit Guidice sich hier befand.
In Bezug auf diese unbedeutenden, wie auf manche wichtigeren Sachen bin ich das gerade Gegentheil der lieben Isola. Für die meisten Männer würde sie eine viel bessere Frau werden als ich, obgleich sie niemals mit der Innigkeit und Tiefe lieben wird, deren ich fähig bin. Sie kann nicht einmal hassen wie ich. Wenn ich hasse, so thue ich es gründlich. Mein Haß ist nie oberflächlich, und nur mit großer Mühe kann ich ihn unterdrücken oder aufgeben. Isola spricht vom Hassen, hat aber nie erfahren, was dies Wort bedeutet. Abneigung kann sie empfinden und wie eine Spielpuppe hätscheln. Sie zählt dieselbe zu ihren Tugenden, obschon sie nicht einmal zu schmollen versteht. Der Haß ist ihr eine zu schwere Last. Den Hohn, welcher bei den meisten Frauen da eintritt, wo sie es unter ihrer Würde halten, zu hassen, kennt sie kaum. Vielleicht lernt sie ihn später kennen, wenn ihre Welterfahrung sich erst mehr ausbildet und befestigt.
Außerdem besteht noch ein großer Unterschied zwischen Isola und mir. Obgleich sie niemals daran denken würde, Jemand ernstlich zu täuschen oder eine bösartige Lüge auszusprechen, so nimmt sie es dennoch nicht allzu genau in Bezug auf kleine Unwahrheiten, wenigstens ist sie geneigt, die Farben so stark aufzutragen, daß Andere ein falsches Bild erhalten. Dies versteht sie dann vor sich selber auf das Wärmste zu rechtfertigen. Doch richtet sie selten Unheil an. Ihre kleinen Verirrungen begeht sie meistens halb unbewußt, und sie entstehen immer aus Gutmüthigkeit.
»Da nun Conrad den Hund so lange besessen hat, liebste Clara,« fuhr die kleine Weisheit fort, »so war ich schon längst an der Reihe, für ihn zu bezahlen, und deßhalb schulde ich Dir jetzt wöchentlich eine halbe Krone für seine Verpflegung und noch eine halbe Guinee für Deine ausgezeichnete ärztliche Behandlung.«
Ich hatte große Lust, sie beim Wort zu nehmen, es wäre eine so große Ueberraschung gewesen; welche Schande aber für Guidice und mich!
»Oh, Donna,« sprach sie weiter, »Du ahnst nicht, wie viel der liebe Conny von Dir hält. Ich werde ganz eifersüchtig. Er denkt weit mehr an Dich als an mich.«
Ich beugte mich über meine Zeichnung, und auf meinen Wangen lag mehr Carmin als auf meiner Palette. Es war zu ärgerlich! Und Isola stand mir noch dazu gerade gegenüber.
»Warum antwortest Du mir nicht, Clara? Wie schändlich von Dir! Ich glaube sicher, daß Du Dich ganz ebenso gern bewundern lassen magst, wie ich, trotz all' Deiner Erhabenheit. Ach, da kommt Conny selber,« und zu meiner Freude trat sie auf den Balkon hinaus. »Dachte ich es doch. Ich erkannte seinen Schritt. Er trägt stets so schwere Stiefel, obgleich er einen ebenso hübschen Fuß hat, wie ich. Auch Guidice kennt seinen Schritt.«
Ach, auch ich kenne ihn! Wie schwach und thöricht von mir, die ich ein Leben wie meines vor mir habe!
»Ich werde ihm die Thür öffnen,« ruft seine Schwester. »Wie unhöflich, daß er jetzt kommt, wo Du so beschäftigt bist!«
Hiermit läuft sie fort, und nachdem sie ihn mit Würde hereingeführt hatte, wieder hinaus, um das Meerkätzchen zu liebkosen. Ich weiß, daß ich etwas erregt aussehe. Ich bin von einer Gluth überhaucht, als ob ich in die Sonne getreten wäre. Conrad beachtet es nicht, oder er verheimlicht seine Wahrnehmung. Er steht vor meiner Staffelei. Wie sehne ich mich nach seinem Beifall! Natürlich nur wegen seines Kunstverständnisses und seines angeborenen Geschmacks. Ich fürchte noch, ihm in das Gesicht zu sehen und warte auf seine Worte. Da streckt Guidice sich mit einem furchtbaren Gähnen und kommt geradewegs auf mein Werk zu, vor dem er sich aufstellt. Hätte ich diese Frechheit und abscheuliche Unmanier vorhergesehen, so würde er weniger Brod und Milch zum Frühstück erhalten haben. Conrad bemerkt meinen Aerger, und er ist zu natürlich, um ein Lächeln verbergen zu können. Das Lächeln ist ansteckend, und ich bekomme nur einen lobenden Blick. Er genügt mir aber, und ich bin entschlossen, das Bild zu behalten, möge Mr. Oxgall bieten, was er will.
Wie unsere Augen sich begegnen, sehe ich, daß er nicht in seiner gewohnten Stimmung ist. Es muß ihn Etwas verdrossen haben. Oh, daß ich wagen dürfte, ihn zu fragen, was es ist! Mir ist ebenfalls das Herz so schwer, und ich bin mit mir selber unzufrieden. Ist das ein Wunder? Meine Natur ist ebenso wahr und gerade wie stolz und leidenschaftlich, und trotzdem habe ich mich seit vielen Wochen unter ihrem Niveau bewegt. Ich habe mich sogar zur Falschheit erniedrigt. Vielleicht war nichts Unehrenhaftes in meiner Namensveränderung, wenn ich mein Ziel in Betracht zog. Vielleicht war auch noch eine genügende Entschuldigung für die Aufrechthaltung meines Incognitos bei unserem ersten Zusammentreffen in London zu finden. Aber war es auch recht und ehrenhaft, noch jetzt bei meinem angenommenen Namen zu beharren, wo ich nicht umhin konnte, seine wachsende Neigung zu vermuthen? Es mochte auch sein, daß das Weh, welches ich bei dem Allen fühlte, nicht allein von meinem Gewissen herrührte. Hatte ich nicht auch selbstsüchtige Besorgnisse? Als ich jetzt vor ihm stand, wurde mein Herz von einer Furcht durchzittert, die zwar nicht so heftig, aber tiefer war, als diejenige, welche ich in der Dunkelheit vor den Verschwörern empfunden hatte.
»Miß Valence,« hub er endlich an, »es thut mir von Herzen leid, daß Ihnen, wie ich höre, gestern Abend unhöflich begegnet worden ist.«
Er war so bewegt, daß er den gleichgültigen Gesprächston zu verlieren begann. Ich hatte zum zweiten Mal einen Abend im Hause des Professors in der Lukas-Straße zugebracht, und jetzt erst erinnerte ich mich, daß der Professor Roß allerdings einen etwas absprechenden Ton gegen mich angenommen hatte, aber ich fühlte mich nicht dadurch gekränkt, weil er mir gleichgültig war, und ich wußte, daß dies einmal in seinem Wesen lag. Isola hatte es, ohne sich etwas Böses dabei zu denken, ihrem Bruder erzählt. Ihr Vater war ohne Zweifel ärgerlich, weil ich ihm mein »Cordis« nicht verkaufen konnte.
»Oh, Mr. Roß,« erwiederte ich »das habe ich durchaus nicht beachtet. Von einem so gelehrten Manne, wie Ihrem Herrn Vater, ist es nicht zu verlangen, daß er geduldig auf alle Fragen eines neugierigen jungen Mädchens antworten soll.«
»Dem wissenschaftlichen Interesse einer Dame sollte jeder Gentleman bereitwillig zu genügen suchen. Alle wahrhaft hochgebildeten Männer der Wissenschaft lieben es, von einem feinfühlenden, verständnißvollen Geiste um Belehrung gebeten zu werden.«
Es war nicht das erste Mal, daß Conrad durch Andeutungen die wissenschaftlichen Verdienste seines Vaters herabsetzte. Mir erschien das durchaus nicht hübsch und noch weniger ehrerbietig, doch sind viele meiner Gefühle erschrecklich altmodisch. Eine verlegene Pause trat ein, denn was hätte ich antworten können, ohne den Einen oder den Andern zu tadeln? Konnte ich Conrad auch nicht völlig beistimmen, so war mein Herz doch ganz auf seiner Seite, denn ich hatte längst bemerkt, daß er sich zu Hause nicht glücklich fühlte. Er stand mit zornigem Antlitz da; den Stuhl, welchen ich ihm geboten, hatte er abgelehnt. Plötzlich ergriff er meine beiden Hände und sah mir voll in das Antlitz, obgleich seine Augen einen feuchten Glanz hatten. Ich heftete meinen Blick mit einer unbestimmten Besorgniß auf sein Gesicht. Wie es kam, weiß ich nicht, aber in jenem Moment fiel mein stets widerspänstiges dichtes Haar mir über Wangen und Hals. Er fuhr zurück, doch ohne meine Hände freizugeben.
»Ohne Zweifel habe ich Sie schon vor längerer Zeit einmal gesehen. Lassen Sie mich nachsinnen.«
Ich wußte sofort, was seinem Gedächtniß zu Hülfe kam. An der in meinen Zügen ausgeprägten Furcht erinnerte er sich meiner. Ich beabsichtigte, es ihm eines Tages zu sagen, aber ich wollte nicht, daß er selber es herausfinden sollte. Trotzdem ich mich als eine Heuchlerin verdammte, sah ich ihn fest und lächelnd an.
»Sie werden mir meine Bitte verzeihen, Miß Valence; Sie wissen, daß ich mir niemals Freiheiten gegen Sie herausnehmen würde.«
Daß ich dies wußte, las er in meinen Augen; er ließ meine Hände fallen und fuhr fort:
»Sie werden mich für sehr schwach und schlecht halten, aber ich bin höchst unglücklich.«
Ich fuhr zusammen; wie sehnte ich mich, ihn trösten zu dürfen. Was nützt Einem der Stolz, wenn er nicht einmal den Augen gebieten kann?
»Es ist eine Schmach für mich, Sie mit meinen Sorgen zu belästigen. Sie dürfen es mir aber nicht als Unmännlichkeit auslegen. Ich thue es nur wegen meiner theuren Schwester Isola. Ich habe jetzt außer ihr Niemand mehr, den ich zu lieben wagen darf, und nun bin ich schließlich gezwungen, sie zu verlassen.«
»Beabsichtigen Sie lange fortzubleiben?« Dies brachte ich ziemlich gefaßt hervor, obgleich es mir sehr schwer fiel.
»Ich werde nicht von London abwesend, aber dennoch von Isola getrennt sein. Das Haus, in dem sie wohnt, kann ich nicht mehr besuchen. Seit langer Zeit schon habe ich nur noch sehr selten, und allein, um sie zu sehen, dort verkehrt. Sie hat den Befehl erhalten, auch nicht mehr zu mir zu gehen. Am heutigen Tage habe ich mich zu sehr heftigen Reden hinreißen lassen. Doch damit will ich Sie nicht behelligen. Ich gestehe, daß ich unrecht gehandelt habe, aber ich bin schwer gereizt worden. Der Zweck meines Anliegens ist ein zwiefacher. Erstens flehe ich Sie an, wenn ich mir so viel herausnehmen darf, des Professors Wesen geduldig zu ertragen, damit ihr nicht untersagt wird, Sie zu besuchen; dann würde sie keinen Menschen mehr haben, der sie liebt. Zweitens bitte ich Sie um Etwas, wozu ich kaum den Muth finde, weil ich Ihnen nicht Alles erklären kann; würden Sie mir gestatten, hin und wieder hierher zu kommen, um meine theure und einzige Schwester zu sehen?«
»Sie meinen doch nicht, hinter dem Rücken ihres Vaters?«
»Nie würde ich Sie durch solches Ansinnen beleidigt haben, Miß Valence. Ich verlange Nichts, was Sie verstecktes Spiel nennen können. Sie sind so offen und aufrichtig, daß Sie niemals irgend eine Heimlichkeit haben würden. Ebensowenig bin ich an dergleichen gewöhnt. Mir ist nur verboten, sie dort aufzusuchen oder sie einzuladen, mich in meiner Wohnung zu sehen. Der Professor besitzt augenblicklich noch große Macht, aber er erdreistet sich nicht, mich von meiner Schwester zu verbannen.«
Seine Augen blitzten, während er sprach, mit einem ganz unkindlichen Ausdruck. In der Erinnerung, wie ich meinen theuren Vater geliebt hatte, war ich ebenso befremdet wie betrübt, fühlte mich aber nicht berechtigt, es zu zeigen.
»Noch Eins erbitte ich von Ihnen, Miß Valence. Die arme Isola hat niemals Kummer kennen gelernt. Wenn dies sie bekümmern sollte, so suchen Sie sie aufzurichten und zu trösten, denn ich werde niemals Ihre gütige Erlaubniß dadurch mißbrauchen, daß ich zu oft komme, um sie zu sehen.«
Er zog meine Hand an seine Lippen, aus Dankbarkeit für die von ihm über Alles geschätzte Güte, wie er sich ausdrückte, und seine Stimme zitterte, als er sich zum Gehen wandte. Dennoch hatte ich ihm weder eine Güte erwiesen, noch eine Erlaubniß gegeben; aber ich war nicht ruhig genug, um Recht von Unrecht unterscheiden zu können. Es erschien mir seltsam, daß ich, die ich meistens so bestimmt war, jetzt gar Nichts mehr entscheiden konnte und ganz rathlos war. Der Eisberg des Selbstvertrauens, den ich mir in den kalten und öden Jahren aufgebaut hatte, trieb jetzt schmelzend unter der hellen Sonne der Freundschaft auf den warmen Meeresfluthen der Liebe dahin.