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Zwölftes Kapitel.

Ein Lichtschimmer.

 

Giebt es irgend einen geschliffenen Bergkrystall, der nur in halb so viel Prismen schillert, wie sie den menschlichen Geist in einer Minute durchstrahlen? Wurde jemals eine Maschine erfunden, die so viele Fäden durch einander schlingt?

Augenblicklich ist der ganze Mechanismus meines Denkens auf die kleinsten Dinge gestellt. Vor zwei Minuten noch gab es für mich nichts Kleineres in der Welt, als mein Ich. Jetzt bildet es wieder den größten Punkt in meinem Gedankenleben. Muß ich stets so von Zimmer zu Zimmer tasten, werde ich nimmer sicher sein können, wo der Tisch ist, auf dem mein Theetopf steht, nie wieder lesen, schreiben oder zeichnen können? Soll ich niemals mehr wissen (so wenig auch daran liegt), wie mich mein Anzug kleidet, oder ob mein Haar in Ordnung ist, nie wieder mein eigenes ernstes Antlitz sehen, auf das ich thörichterweise stolz gewesen, und niemals (das Schlimmste von Allem) das Lächeln eines anderen Angesichts schauen können? Soll ich, ein erwachsenes Mädchen voller jungfräulicher Gedanken und Fragen, mit dem Bewußtsein, daß ich bestimmt bin, ein Glied in der Kette des Lebens zu bilden, soll ich niemals daran denken dürfen, zu lieben und wieder geliebt zu werden, ich meine anders, als in jener Art süßer Neigung, welche mich mit Isola verbindet?

Als ich noch ein Kind war, gedachte ich, nachdem mein Werk vollbracht sein, und der Geist meines Vaters das Verbrechen gesühnt wissen würde, mich hinzulegen und zu sterben. Seit ich aber zur Jungfrau herangereift bin, seit ich aufgehört habe die Männer anzuschauen, sie hingegen nach mir zu blicken beginnen, ist eine leise, mir selber unerklärliche Veränderung über meine Träume gekommen.

Habe ich meinen Vorsatz geändert? Ist mein Sinn gebrochen? Nein, denn die nahe Aussicht auf Erfüllung meines Willens begeistert mich zu neuer Hoffnung. Dennoch sehe ich jetzt über den Gipfeln des Hasses ein früher nie gesehenes Leuchten, die Möglichkeit einer Heimath. Ich sah dies, hätte ich sagen müssen, denn wie kann ich jetzt noch vom Sehen sprechen?

 

Am vierzehnten Morgen hatte ich alle Hoffnung aufgegeben. Man sagte mir, daß es hell und sonnig sei, denn ich fragte stets nach dem Wetter und war an sonnigen Tagen besonders niedergeschlagen. Jetzt hatte ich schon gelernt, mich ohne Mrs. Shelfers Hülfe anzukleiden. Dennoch trete ich aus alter Gewohnheit vor den Spiegel, um mein Haar zu ordnen und ziehe die Vorhänge von den Fenstern zurück.

Fort mit der nassen Binde, ich bin ihrer überdrüssig. Wozu soll ich noch länger versuchen, mich selber zu täuschen?

Plötzlich sehe ich einen Lichtschimmer, zwar nur schwach wie ein Irrlicht, aber ich bin ganz sicher, daß es ein wirklicher Lichtschein war. Ich gehe näher an das Fenster und öffne die Augen, doch der Schein wiederholt sich nicht. Der plötzliche Wechsel hatte ihn hervorgebracht. Gleichgut, ich weiß, was ich gesehen habe, Etwas, das mich oft in meinen Träumen täuschte, doch diesmal war es keine Täuschung. Es war ein echter Sonnenblick.

Ich kann nichts weiter beginnen, keine Nadel mehr befestigen. Die Sonne durchzittert mich wie die Memnonssäule In älteren deutschen Texten findet sich für die tönende Memnonstatue der Ausdruck Memnonssäule. Es handelt sich dabei um einen der Memnonkolosse, so benannt in griechisch-römischer Zeit nach einem halbgöttlichen König der Äthiopier; sie stehen westlich der Stadt Luxor. Den Hintergrund bildet die mythologische Bedeutung des Memnon; dieser galt den alten Griechen als Sohn der »Göttin der Morgenröte« Eos und Tithonos, des Sohnes des trojanischen Königs Laomedon. Als Memnon seinen Onkel Priamos im Trojanischen Krieg unterstützte, wurde er durch den Griechen Achilleus getötet. Seine Mutter Eos entführte den Leichnam nach Aithiopia und beweint Memnon noch immer. Ihre Tränen, die jeden Morgen als Tau vom Himmel fallen, rührten Zeus so sehr, dass er Memnon Unvergänglichkeit gewährte. Seitdem antwortet er morgendlich seiner Mutter Eos mit einem Klagelaut, wenn sie ihn mit den ersten Sonnenstrahlen streichelt, eine passende Assoziation zu den Geräuschen, die der rechten Statue der Memnonkolosse jeden Tag bei Sonnenaufgang entwichen. Deren Ursprung dürfte wahrscheinlich in Vibrationen der großen Bruchstelle des Kolosses beim schnellen Durchgang der nächtlichen Kälte durch die Erwärmung der ersten Sonnenstrahlen zu suchen sein.. Ich sinke auf die Kniee und danke dem Schöpfer der Menschheit und des Lichtes. Als der Doktor an jenem Tage kam und mir in die Augen blickte, bemerkte er eine entschiedene Veränderung.

»Miß Valence, die Krisis ist vorüber. Ich gratulire Ihnen von ganzem Herzen. Noch vierzehn Tage, und Sie werden besser als jemals sehen können.«

Ich lachte und weinte und hatte trotz meiner Blindheit die größte Lust zu tanzen. Darauf wollte ich den Doktor küssen, da ich aber Mrs. Shelfers Schritte auf der Treppe hörte, sprang ich ihr übermüthig entgegen und ließ meine Freude an ihr aus.

»Oh, Du meine Güte, liebes Herzenskind, wenn ich jetzt ein junger Herr wäre –«

»Miß Valence, ich bin ganz erstaunt,« sprach Dr. Franks, und wie ich hörte, lachte er dabei, »wenn Jemand noch vor zwei Minuten von mir verlangt hätte, daß ich ihm die gelassenste und würdevollste junge Dame in London auswählen solle, so würde ich gesagt haben: ›Da brauche ich nicht lange zu suchen, ich weiß, wo sie zu finden ist,‹ aber jetzt, auf mein Wort –«

»Wenn Jemand Sie bitten sollte, ihm das dankbarste, erfreuteste und glücklichste Mädchen in London zu zeigen, so wissen Sie, wo Sie es zu suchen haben. Erlauben Sie, daß ich Sie küsse, Dr. Franks, nur ein einziges Mal. Ich will Ihre Töchter nicht berauben. Ihnen verdanke ich Alles.«

»Nein, der Vorsehung, sich selber und einer ungewöhnlich guten Bindehaut haben Sie es zu verdanken. Nun seien Sie aber vernünftig, mein liebes Kind; ein wenig Exstase ist verzeihlich, Sie dürfen Ihre Kur indessen nicht durch übergroße Erregung gefährden. Es ist, wie ich von Anfang an hoffte, nur ein Fall von Epiphytic« (wenn ich nicht irrte, nannte er es so) »doch darf die Heilung nicht übereilt werden. Je gründlicher der Heilprozeß, desto weniger steht eine Wiederholung zu befürchten.«

»Oh, ich bin mit einem Auge zufrieden, ja, mit einem halben. Können Sie mir das versprechen?«

»Wenn Sie nur meine Verordnungen befolgen, so kann ich Ihnen beide Augen klarer denn je versprechen, und Mrs. Shelfer sagt, daß sie wunderbar klar und hell gewesen sind. Aber was ich anordne, muß geschehen. Langsam und sicher.«

Er gab mir einige kurze Verhaltungsregeln, die alle auf dasselbe Prinzip der stufenweisen Gewöhnung hinausliefen.

»Und jetzt, Miß Valence, sage ich Ihnen als Arzt Lebewohl. Von nun an besuche ich Sie nur noch als Freund, was Sie mir, wie ich weiß, wegen des Interesses, das ich an dem Fall und Ihnen selber nehme, gütigst gestatten werden. Die wunderbare junge Dame der Mrs. Shelfer darf am Donnerstag vorgelassen werden. Aber zeigen Sie derselben Ihre Augen nicht. Junge Mädchen sind immer neugierig. Wenn irgend ein junger Herr existirt, der so glücklich ist, Ihre ungeduldige Erwartung zu rechtfertigen, so werden Sie kurzen Prozeß mit ihm machen, wenn Ihre Sehkraft wiedergekehrt ist. Ihre Augen werden die glänzendsten in London sein, was viel sagen will. Ich fürchte jedoch, er wird Sie kaum wieder erkennen, ehe Ihre Augenwimpern gewachsen sind, und Ihr ganzer Gesichtsausdruck ist auch für jetzt noch verändert.«

»Eines aber wird sich niemals verändern, obgleich ich keinen Ausdruck dafür finden kann, und das ist meine Dankbarkeit für Sie.«

»Das ist hübsch von Ihnen, liebes Kind.

Sie küßten mich soeben, erlauben Sie jetzt mir einen Kuß.«

Er küßte mir die Stirn und ging. Er war der erste wahre Gentleman, den ich seit meinem Abschied von Pächter Huxtable angetroffen hatte.



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