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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Gesundheitsmaßregeln.

 

Die Morgenluft war kalt und frisch, und sie trug die Töne des Landlebens durch das offene Fenster herein. Wer konnte an das Fieber denken, während der klare Thau auf dem Rasen glitzerte, und die Fliederbüsche ihren üppigen Blüthenknospen kaum genügenden Schatten zu gewähren vermochten, während der helle Ton des Sensenschärfens erklang und die blinkende Schneide zischend über die Grasfläche strich. Von den Stallungen im Hofe erscholl das beruhigende Pfeifen der Reitknechte, das kurze Stampfen der munteren Rosse (ich wähnte, mein eigenes Lieblingsthier Lilla herauszukennen) und darauf der barsche Zuruf: »Ruhig, alte Mähre, stillgestanden!« Drüben in der Allee pfiff der watschelnde Kuhhirt auf seinem Wege nach der Kleeweide, das Milchmädchen sang, den Eimer an der Seite, und das Wild kam truppweise, die Hörner zu Boden gesenkt, aus dem Gebüsch hervor. War das nicht eines von meinen Lieblings-Rothkehlchen, welches auf das Fensterbrett hüpfte, herausfordernd auf sein eigenes Bild in dem Kruge schaute und dann versuchte, sich seine letzte Wintermelodie in das Gedächtniß zurückzurufen?

»Es ist kalt, Jane, recht kalt, und wir haben die ganze Nacht außer dem Bette zugebracht. Jetzt haben die Mäher uns entdeckt. Sie halten einen Augenblick in der Arbeit inne; wie sie die Köpfe zusammenstecken, sich jenseits des Hahnenfuß-Beetes halten und darüber einig werden, daß das Gras unter unserem Fenster nicht gemäht zu werden braucht. Wahrlich, wären sie Papisten, sie würden sich bekreuzen, und das erspart manchen Fluch. Das Gras müßte aber gemäht werden, Jane. Es ist seit mindestens acht Tagen nicht geschnitten. Ich will sie anrufen. Ach nein, es möchte meinen Onkel stören.«

Kein Laut dringt aus dem Schlafzimmer.

Die tiefste Stille herrscht darin. Ich will hineingehen und nachsehen.

Dort liegt mein Patient ganz so, wie ich ihn zuerst sah, nur mit dem Unterschied, daß ich ihm das gelichtete eisgraue Haar geordnet und eine nasse Kompresse auf die eine, seine brennende Schläfe gelegt habe.

Und dennoch, wie ich ihn näher betrachte, sehe ich, daß das Antlitz nicht ganz so erdfahl mehr ist. Oder sollte es der Unterschied zwischen dem Kerzenschimmer und dem Morgenlichte sein? Während ich ihn noch so ansehe, schreckt er empor, als ob meine Augen ihn belebt hätten. Er stöhnte nicht, noch schrie er, er öffnete nur die trüben Augen weit und blickte mich matt und ruhig an. Es währte einige Zeit, ehe er mich erkannte. Dann vollzog sich allmählich eine große Veränderung in seinem langen, unsicheren Blick. Ich fürchtete den Einfluß der Erregung und suchte seine Aufmerksamkeit durch eine abermalige Dosis Hefen abzulenken. Dreimal nahm er sie geduldig wie ein artiges Kind, ohne jedoch die Augen von mir abzuwenden. Plötzlich jedoch wurde der Blick verschwommen und unruhig, die Anstrengung des blutüberfüllten Gehirns und die Mühe des Schluckens waren zu viel für seine geschwächten Kräfte gewesen. Er verfiel wieder in seinen schlafsüchtigen Zustand, doch diesmal zeigte sich eine merkliche Veränderung. Der Puls, welcher bisher nur in der heißen Seite geklopft hatte, war jetzt auch in dem anderen Handgelenk ganz schwach zu fühlen, und die Spannung der Muskeln hatte etwas nachgelassen. Die Cirkulation des Blutes trat allmählich wieder ein, und der Athem war zu spüren, obgleich er noch kurz und unregelmäßig ging.

Ich habe weder die Zeit, alle Symptome der fortschreitenden Besserung zu beschreiben, noch besitze ich genügende medicinische Kenntnisse, um es mit Klarheit thun zu können. Nur so viel will ich noch berichten, daß die sechsstündige Bewußtlosigkeit sich an jenem Tage um die Hälfte verkürzte, die Athemzüge regelmäßiger wurden, und ein gelinder Schweiß durch die geschlossenen und trockenen Poren brach. Jane wollte diesen durch eine zweite Decke unterstützen, doch ich gestattete es nicht, da ich die Erschöpfung für den total geschwächten Organismus fürchtete. Als der Schweiß sich gelegt hatte, beorderte ich eine zweite Decke, um eine plötzliche Abkühlung zu verhindern.

Jedes Mal, wenn unser Patient wieder zum Bewußtsein erwachte, machte er den Versuch, zu sprechen, ich aber legte ihm die Hand auf den Mund, und er brachte es sogar zu einem Lächeln, als er sah, daß ich unbedingten Gehorsam verlangte. Am Abend wollte er die Arme nach mir ausbreiten, versuchte dann jedoch in einer schwachen Erinnerung an den Charakter seiner Krankheit mich von sich zu stoßen. Ich empfand eine so gespannte Theilnahme und eine so tiefe Freude, daß es mir sicher das Herz gebrochen hätte, wenn er mir jetzt noch entrissen worden wäre.

Als die Sonne an jenem Tage unterging, und ich mit der Wärterin durch das Fenster des Ankleidezimmers beobachtete, wie die schrägen Strahlen über den Rasen huschten, wie die Krähen sich aus ihren geräuschvollen Nestern in die Lüfte schwangen, da verdunkelte eine schwarze, von einem gelben Rand umsäumte Wolke die Sonne für einen Augenblick. Sie milderte das Licht in eigenthümlicher Art und schien es nach unten zu werfen. Ich blickte durch meine Finger, um den schönen Anblick besser zu genießen. Da sah ich einen weißlichen Nebel oder Dunst aufsteigen, der sich vor die Scheibe der untergehenden Sonne legte und mir den goldenen Rand der Wolke verbarg. Ich konnte mir nicht erklären, woher dieser Dunst kommen mochte. Weder große Hitze, welche starke Dunsterzeugung hätte hervorrufen können, noch Nebel waren vorhanden, und die Sonne »zog nicht Wasser.« Was ich dort drüben sah, glich aber jenem zitternden, klaren Schimmer, den man oft an heißen Julivormittagen auf Wiesenpfaden bemerken kann. Ich lenkte Janes Aufmerksamkeit darauf, nicht etwa in der Erwartung einer Aufklärung, sondern um doch Etwas zu sprechen.

»Aber, Miß, Sie wissen nicht, was das ist? Ich sehe es jeden Abend. Wenn die Sonne fort ist, wird es noch einmal so deutlich und ganz weiß sein.«

»Was ist es denn? Können Sie es mir nicht sagen? Ist Alles hier ein Geheimniß?«

Ich war etwas reizbar und ärgerte mich selber, daß ich es war. Uebermäßige Aufregung und zu wenig Schlaf waren schuld daran.

»Nein, Miß, es steckt durchaus kein Geheimniß dahinter. Jedermann weiß, daß es nur der Dunst ist, welcher aus dem überwölbten Pfuhl aufsteigt, in den alle Abzugsröhren aus dem Hause münden. Ein Theil der Wölbung soll eingestürzt sein; der Boden zittert, wenn die Leute dort mähen, und sie fürchten sich, die Walze über die Stelle zu führen.«

»Ist es möglich? Und Sie als erfahrene Krankenwärterin wußten dies! Hat auch mein Onkel hiervon etwas gewußt?«

»Das kann ich nicht sagen, Miß, doch wahrscheinlich nicht, da er es sonst wohl hätte ausbessern lassen. Aber es kann ja nicht schaden, da noch die Erde und das Gras darüber sind.«

»Wirklich nicht? Obwohl Sie diese Dünste aufsteigen sehen? Schließen Sie sofort die Fenster, Jane.«

Sie glaubte, mein Verstand habe von Allem, was ich durchgemacht hatte, gelitten; trotzdem gehorchte sie mir aber.

Zufällig hatte ich auf Isolas dringende Bitte einer von den vielen Vorlesungen des Professors Roß beigewohnt. Sie hatte vergessen, wovon dieselbe handeln sollte. Der Gegenstand erwies sich als ein höchst widerwärtiger und durchaus nicht salonfähiger – Mephitis. Isola wollte davon laufen, ich aber kenne keine solchen Thorheiten, wo es Leben und Gesundheit betrifft, und ich hörte mit großer Aufmerksamkeit und sogar Bewunderung zu, denn er behandelte seinen Stoff geschickt und mit Beredtsamkeit.

»Nun, Jane, öffnen Sie schnell alle Thüren und das Flurfenster, welches an der entgegengesetzten Seite liegt. Wann halten Sie es für thunlich, unseren Patienten aus diesem Zimmer hinauszubringen? Die Luft hier ist tödtliches Gift.«

»Aber Miß, er kann doch sicherlich kein angenehmeres und luftigeres Zimmer haben. Und meine Sachen sind hier so gut in Ordnung, Alles so bequem zur Hand, und so viele Wandschränke!«

»In dieser Giftatmosphäre darf er auf keinen Fall bleiben; wann kann er transportirt werden?«

»Morgen schon, Miß, wenn wir nur genügend Leute hätten, und solche, die es mit Geschick thun!«

»Sicher können wir Leute genug bekommen. Es pflegten hier fünfundzwanzig Diener zu sein, und ich habe Nichts davon gehört, daß mein Onkel die Zahl verringert hätte.«

»Nein, Miß, aber ich möchte den heiligsten Eid darauf ablegen, daß wir Keinen von ihnen herbekommen.«

»Unsinn! Entweder sie kommen her, oder sie verlassen das Haus. Wir werden nur zwei oder drei Leute gebrauchen, und ich werde ihr Leben so viel wie möglich durch Vorsichtsmaßregeln zu schützen suchen. Sie mögen sich vorher mit allen ihren Kleidern in desinficirenden Flüssigkeiten baden, und sie dürfen die ganze Zeit hindurch rauchen.«

Die Wärterin lachte ingrimmig und schüttelte das graue Haupt.

»Und räuchern wollen wir ebenfalls, Jane, fürchterlich räuchern. Englische Männer werden doch zu viel Selbstachtung besitzen, um sich so kindisch zu zeigen, und sich von uns Beiden, einer Frau und einem Mädchen, geradezu beschämen zu lassen?«

»Das ist einerlei, Miß, sie werden nicht kommen; ich kenne sie recht gut, die Bande, welche jetzt im Hause ist.«

»Nun, so holen wir uns den Wildmeister Hyatt und dessen ältesten Sohn. Das sind Männer, wie ich weiß. Und wenn die nicht ausreichen, so senden wir nach Gloucester zu Thomas Henwood. Aber warum öffneten Sie die Flurthür nicht, wie ich es Ihnen sagte?«

»Verzeihen Sie, Miß, weil ich es nicht kann.

Sie ist von außen gesperrt.«

»Wollen Sie damit sagen, daß man gewagt hat, uns einzuschließen?«

»Allerdings, Miß, wir sind seit heute Morgen eingesperrt.«

»Aber weßhalb haben Sie mir das nicht gesagt?«

»Weil ich fürchtete, Sie aufzuregen, Miß. Ich kenne Ihre Heftigkeit, wenn Ihnen ein Unrecht geschieht, schon von damals her, als Sie erst so groß waren, und Aufregung würde Sie in dieser Fieberluft sicherlich tödten. Die gefühllosen Bestien! Aber ich denke mir, daß sie es nicht wissen.«

»Sie wissen es recht gut, wenigstens die leitende Kraft weiß es. Und aus diesem Grunde will ich auch alle Entrüstung niederkämpfen. Seit ich so groß war, Jane, habe ich viel Trübsal erlitten, und ich bin von meinem hohen Erbinnenton zurückgekommen. Ich kann mich jetzt beherrschen.«

»Dann, Miß, will ich Ihnen zeigen, was uns heute zugeschickt ist. Es war um den Henkel der Kaffeekanne gewickelt.«

Und sie gab mir ein zusammengerolltes Papier folgenden Inhalts:

»Zum Schutze des Hauspersonals hat Mrs. Fletcher angeordnet, daß zwischen den Personen im Krankenzimmer und der übrigen Dienerschaft keinerlei Verbindung mehr stattfinden soll. Die Zwischenthür wurde gesperrt, weil in der vergangenen Nacht eine höchst sündhafte, unchristliche Handlung verübt ist. Die nöthigen Vorräthe sollen einmal täglich, und zwar um zehn Uhr Vormittags gesandt werden. Weder leere Gefäße noch Briefe werden angenommen. Jeder Versuch, diese Vorschriften zu übertreten, wird durch Entziehung der Vorräthe bestraft werden. Den Dienern ist verboten, unter die Fenster des Krankenzimmers zu kommen. Der Herr nehme Euch in Seinen gnädigen und barmherzigen Schutz nach Seinem heiligen Willen. Ihr werdet ersucht, das erste Kapitel der Epistel Pauli an die Philipper zu lesen. Es liegen drei heilige Bibeln auf den Kommoden und Toilettentischen.«

Als ich dies las und aus der Blasphemie am Schluß ersah, daß es von Niemand anders, als von jenem schrecklichen Weibe herrühren konnte, bemächtigte sich meiner eine tiefe Niedergeschlagenheit. Dieselbe entstammte weder einer egoistischen Furcht, noch der Zähmung meiner Heftigkeit, sondern dem demüthigenden Gefühl, daß ich zu derselben Rasse gehörte, wie die Urheberin solcher Teufelei. Im ersten Augenblick war ich zu entrüstet, um sprechen oder auch nur denken zu können. Meine Entrüstung wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch durch den Umstand erhöht, daß ich am Morgen ungefähr um neun Uhr gesehen hatte, wie sie das Haus in unserer besten geschlossenen Kutsche verließ. Die Wagenfenster hielt sie fest geschlossen, bis sie sich jenseits des Rasenplatzes, der Rosenlaube und des leichten eisernen Thores befand.

Als sie die erste Windung der Allee erreicht hatte, ließ sie die Scheibe herunter und warf mir eine graziöse Kußhand zu. Ich glaubte indessen nicht, daß sie nach Cheltenham zurückgekehrt war. Sie würde jetzt, wo in unserem Hause so viel für sie auf dem Spiel stand und von ihrer Leitung abhing, sicherlich in der Gegend bleiben, wenn auch nur, um den weiteren Verlauf der Ereignisse zu beobachten.

Schneller als ich es zu erwarten hoffte, gewann ich meine Selbstbeherrschung wieder. Das Entsetzen überwog den Zorn in mir und stärker als Beides wurde mein Entschluß, am Leben zu bleiben und zu siegen. »Es kann keinen Gott geben,« rief ich in meiner vermessenen Unwissenheit aus, »wenn dieser Teufelsplan triumphiren darf.«

Zuerst untersuchte ich die Thür, welche uns von dem übrigen Hause abschnitt. Meines Onkels Zimmer lagen im westlichen Flügel, sehr nahe an denen, die meine theure Mutter inne gehabt, und nicht weit von den meinigen. Sie bildeten ein Stockwerk der westlichen Giebelseite. Die drei Schlafzimmerfenster und das des Ankleidezimmers lagen nach Westen hinaus, während man durch das große Flurfenster, durch welches ich Mrs. Daldys Abreise gesehen, südlich die Allee hinunter blicken konnte, deren eine Krümmung auch von den Fenstern des Schlafzimmers zu überblicken war. Eine eichene Thür am Ende des Hauptkorridors trennte die Zimmer dieser Giebeletage von dem ganzen übrigen Hause. Diese Thür hatte Jane von innen verschlossen, weil sie fürchtete, daß Andere sie einschließen würden, wie dieselben schon gedroht hatten. Jetzt bemerkten wir aber, daß man eine große Schraube durch die Thür in den Pfosten gebracht hatte, noch ehe wir aufgestanden waren, und daß es für uns unmöglich war, sie mit Gewalt zu öffnen.

Nun fragte ich Jane, ob sie glaube, daß wir jetzt, wo Mrs. Daldy abgereist war, noch in den Händen unserer Feinde seien. Würde Mrs. Fletcher nicht sofort ihre Autorität wieder geltend machen? War es nicht anzunehmen, daß Matilda Jenkins uns zu Hülfe eilen würde? Die Wärterin, welche mit allen Vorgängen im Domestikenzimmer vertraut war, versicherte mir, daß wir auf beide Fälle nicht zu hoffen hätten. Robert, ein dem Trunke ergebener Methodist, der aus der Gemeinde in Cheltenham hervorgegangen, war Mrs. Daldys Vertreter und würde Matilda schon bewachen, um deren Gunst er sich bewarb. Was Mrs. Fletcher betraf, so sei sie wohl in derselben Lage wie wir. Aus dem, was ich über Robert vernahm, schloß ich, daß er wahrscheinlich geheimen Befehl erhalten hatte, mich an der Station zu verläugnen, einestheils, um mich mit einem Pröbchen Unverschämtheit zu regaliren und anderntheils, um meine Ankunft vorher berichten zu können.

Das war indessen gleichgültig. Aber aus diesen Zimmern mußte ich hinausgelangen, entweder durch die Thür oder die Fenster, und zwar ohne Verzug. Glaubte man, so leicht über Clara Vaughan triumphiren zu können? Noch dazu in ihres Vaters Haus? Die Fenster befanden sich nach meiner Schätzung ungefähr zwanzig Fuß über dem Erdboden, und die Zimmer darunter waren leer. Sofort beschloß ich einen Fluchtversuch auf diesem Wege, und noch ehe der Mond soweit heraufgestiegen war, um den westlichen Theil des Hauses zu erhellen. Die gute Jane war entsetzt über diesen Gedanken, und als ich dabei beharrte, beschwor sie mich, ihr den Versuch zu überlassen, wenn derselbe überhaupt gemacht werden müsse.

»Jetzt lassen Sie es genug sein, Jane. Wir dürfen unsere Zeit nicht mit dergleichen vergeuden. Sie haben Ihren Mann, der theilweise von Ihnen abhängt, und mehrere Kinder zu bedenken. Nach mir fragt Niemand etwas.« (Ich hoffte freilich, daß diese Annahme nicht ganz begründet sein möge.) »Auch wissen Sie, daß ich viel beweglicher und leichter bin als Sie. Helfen Sie mir das Federbett hinunterwerfen.«

So wurde ihr im Ankleidezimmer befindliches Bett schleunigst nach dem Fenster getragen und gerade unter dasselbe auf das Gras geworfen.

Dann banden wir die beiden starken, schon abgerissenen und zusammengedrehten Klingelzüge an die doppelten Gurten des Schiebefensters.

Als wir die untere Hälfte des Fensters ganz heraufgezogen, die Scheibe mit einigen nassen Handtüchern geräuschlos zerdrückt und die Splitter sorgfältig entfernt hatten, um das Zerschneiden des Seiles zu verhindern, sahen wir, daß letzteres noch nicht einmal die Hälfte der Höhe maß.

Dennoch wollte ich den Sprung wagen, wenn ich nur so weit hinabgleiten konnte. Nachdem ich mein Kleid mit einem zusammengedrehten Laken umwickelt und den Zipfel desselben so an einen meiner Knöchel gebunden hatte, daß ich nicht im Gebrauch meiner Gliedmaßen gehemmt war, überlegte ich mir, während ich in dem tiefen Schatten auf dem Fensterbrett saß, wie ich den Sprung am besten unternehmen könne. Sollte ich beim Herabgleiten das Gesicht oder den Rücken der Mauer zuwenden? Ich entschied mich für das Erstere; freilich mußte ich mich so rückwärts hinunterlassen, doch brauchte ich dann nicht zu fürchten, mit dem Hinterkopf gegen die Mauer anzuprallen. Auch eine Verrenkung des Knöchels fürchtete ich, aber unsere Familie war stets fest und kräftig in den Gelenken gewesen.

So schwang ich mich denn hinaus und begann langsam hinabzugleiten. Jane's Hand hatte ich so lange fest gehalten, bis ich mich auf der Fahrt befand. Obgleich ich nicht sehr geübt im Turnen war, glitt ich ganz vorzüglich fast bis an das Ende des Strickes, während der Vorsprung des Fensterbrettes sowohl wie der flinke Gebrauch meiner Füße mich vor dem Anstreifen gegen die Mauer bewahrten. Dann ruhte ich einen Augenblick auf einem vorspringenden Sims, und wieder ging es Hand vor Hand am Strick hinunter. Doch schlug ich so heftig mit den Fingerknöcheln gegen das Gesims, daß ich vor Schmerz den Strick beinahe losgelassen hätte. Nun bog ich meinen Körper vor, und mit einem tüchtigen Stoß gegen die Mauer schloß ich die Augen und ließ den Strick los. Ich fiel rücklings hinab und gerade auf das Federbett. Ich war nicht im geringsten betäubt, doch fürchtete ich mich im ersten Moment, zu versuchen, ob meine Glieder noch unverletzt seien.

Da saß ich und streifte das Bettlacken ab.

Jetzt erhob ich mich und konnte – leider – in meinem Triumph ein »Alles gut, hurrah!« kindischer Weise nicht unterdrücken. Sofort bemerkte ich, daß mein Ausruf an unrechter Stelle gehört worden. Lichter begannen hinter den Fenstern im Erdgeschoß und in den Ställen auf dem Hofe hin und her zu huschen, und ich wußte, daß Jagd auf mich gemacht werden würde.

Nachdem ich meines Vaters Haus auf so würdevolle Art verlassen hatte, war es da wohl anzunehmen, daß ich mich ergeben und fangen lassen würde? Nun, Clara, Du konntest ja Deine sämmtlichen Kindermädchen im Laufen übertreffen, also hurtig, sei schnell wie der Wind! Fort ging's in rasender Eile hinüber nach dem Schatten der Allee, während Jane die Geistesgegenwart besaß, aus dem Fenster zu rufen: »Feuer, zu Hülfe, zu Hülfe!« Hierdurch wurde der Feind vorläufig etwas abgelenkt, ich gewann einen beträchtlichen Vorsprung, und das Pförtnerhäuschen, das der alte Whitehead bewohnte, war nur eine halbe Meile entfernt. War ich erst einmal dort, so hatte ich Niemand mehr zu fürchten. Ich mußte sehr leicht beim Herabspringen davon gekommen sein, denn ich flog so schnell dahin wie ein Reh.

Aber mein Unstern wollte, daß das leichte eiserne Thor zwischen dem Grasplatze und dem Park verschlossen war. Was in aller Welt sollte ich nun thun? Ich sah mehrere Männer über den freien Platz laufen, und was das Schlimmste war, sie sahen auch mich. Vergebens rüttelte ich an den Thorflügeln, sie rasselten, aber gaben nicht nach. Hätte ich ächte Geistesgegenwart besessen, so wäre ich den Männern dreist entgegen gegangen und hätte es darauf ankommen lassen, ob sie mich, die ich soeben frisch aus dem Fieberraum kam, anrühren würden. In der Aufregung des Moments dachte ich gar nicht hieran, sondern sprang in das Gebüsch und verkroch mich unter dichtem Lorbeer. Plötzlich hörte ich, wie sie den Hauptweg hinunter stürzten und unter groben Flüchen zu suchen begannen. Zwei von ihnen kamen gerade auf den Busch zu, in dem ich verborgen war, und beinahe hätten sie mich mit einer Heugabel in die Seite gestochen, die dummen Kerle trugen aber Laternen, die sie im Mondschein blendeten. Darauf gingen sie weiter mit Murren und Brummen, woran ich deutlich hören konnte, wie ich mich vor ihnen zu hüten hatte. Ich schloß endlich aus der eingetretenen Stille, daß die Suchenden sich nach rechts gewendet, und nun kroch ich aus meinem Blätterversteck und schlich links auf die Mineralquelle am Rande des Gehölzes zu, wo sich, wie ich wußte, ein kleines Thor befand, das in eine Lichtung des Parkes führte. Der Verhau, den ich im Dunkeln wegen der unten liegenden, losen Steine nicht zu überspringen wagte, schloß sich hier an eine hohe, eichene Umzäunung an. Wahrscheinlich hatte sich der Mörder meines Vaters durch dieses Thor hereingeschlichen.

Mit einem mich bei dieser Erinnerung ergreifenden kalten Schauder glitt ich längs der schattigen Plätze auf das kleine Thor zu. Beinahe hatte ich es erreicht, als ich zwei meiner Verfolger gerades Wegs auf mich zukommen sah. Zu meiner Rechten befand sich die Parkumzäunung, links der Erdwall, den ich nicht erklimmen konnte, ohne deutlich gesehen zu werden. Die Flucht hätte mich meinen Feinden entgegen getrieben. Sollte ich mich schließlich besiegt in mein Geschick ergeben und vielleicht gar Unverschämtheiten ausgesetzt sein? Denn ich wußte, daß die Leute angetrunken waren.

Das Laken, welches mir zum Zusammenraffen meines Kleides gedient, hatte ich in dem Gedanken, daß es sich mir in irgend einer Art als nützlich erweisen könne, zusammengefaltet mit mir genommen. Sofort trat ich in den Schatten des Zaunes und warf das weiße Lacken um mich.

Von der Stirn herabfallend war es in malerischen Falten über meinen rechten Arm drapirt. Regungslos stand ich gegen die schwarze Bretterwand gelehnt, und zwei lange Strähnen meines schwarzen Haares schlängelten sich über die weiße Hülle herab. Die Männer kamen, von der Verfolgung ermüdet, murrend heran, und an ihren Stimmen erkannte ich meine Freunde Jakob und Bob. Plötzlich erspähten sie die große, weiße, Grauen erregende Gestalt. Sie standen sofort wie gebannt, und ich hörte, wie ihre Zähne an einander schlugen. Mit einer langsamen gespenstigen Geberde erhob ich meinen weißdrapirten Arm und stöhnte leise und geisterhaft. Da fiel die Laterne klirrend zu Boden, und laut kreischend flohen die Männer, so schnell ihre Beine sie zu tragen vermochten.

Herzlich lachend wickelte ich mein Laken wieder zusammen, und den Richtweg durch den Park nach der Wohnung des alten Whitehead nehmend, erreichte ich dieselbe, ohne auch nur dem alten Hirsche Tulip zu begegnen.

Der alte Mann holte in hitziger Entrüstung seine alte Muskete hervor (er hatte einst in der Miliz gedient) und schwor, daß er sofort auf die verfl– Schurken losgehen wolle. Statt dessen schickte ich ihn nach den beiden Hiatts und dem Dorfpolizisten, und bald schloß sich das ganze Dorf unaufgefordert an. Nachdem die gute Mrs. Whitehead mir meinen zerrissenen Anzug aufgesteckt und mich mit einem soeben für ihre kleine saubere Enkelin gekauften Hute versehen hatte, zog ich wieder in den Mondschein hinaus und diesmal an der Spitze einer treuen Armee, um mir meine Heimath zurückzuerobern.

Hiatt öffnete mit Leichtigkeit das Thor, welches vorher meinen Anstrengungen getrotzt hatte, und wir zeigten uns am Haupteingange als eine Kriegsmacht, die eine feste Burg eingeschüchtert haben würde. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß wir den Sieg vollständig davon trugen.

Der Belagerungszustand ward aufgehoben, Mrs. Fletcher und Tilly wurden auf freien Fuß gesetzt, die Rädelsführer alle miteinander davongejagt und, was am wichtigsten war, mein armer Onkel wurde, ohne daß er es wußte, in ein freundliches, gesundes Zimmer gebracht. Die stämmigen Dörfler von Gloucestershire verlachten jeden Gedanken an Gefahr.

Ehe ich, ermüdet von allen meinen Abenteuern in dieser Nacht, einschlief, zogen mir zwei Betrachtungen träumerisch durch den Sinn.

Die erste diktirte mir meine Eitelkeit: »Ah, Mrs. Daldy, Sie kennen Clara Vaughan noch sehr wenig!«

Die zweite war: »Himmel, wie erstaunt würde Conrad über dies Alles sein! Und wie seltsam, daß sein Vater auf diese Weise meinem Onkel das Leben gerettet; denn er wäre sicherlich gestorben, wenn er in dem ungesunden Zimmer hätte bleiben müssen!«



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