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Auf die Probe gestellt.
Später am Abend desselben Tages saß ich allein in meinem Zimmer am Kaminfeuer, denn ich konnte nicht arbeiten. Ich versuchte Einkehr in mich selbst zu halten und mir die Ursache meiner Neigung für Isola oder vielmehr die unwiderstehliche Anziehungskraft zu erklären, welche mich an sie fesselte. Seltsamerweise wunderte ich mich nicht so sehr darüber, daß sie sich ganz ebenso stark zu mir hingezogen fühlte, obwohl das einen unparteiischen Beobachter vielleicht noch mehr in Erstaunen gesetzt haben würde. Nachdem ich vergebens über diese Frage hin und her gesonnen, begann ich wieder meinem gewohnten finsteren Gedankengang zu folgen.
Acht Jahre waren jetzt vergangen und was hatte ich entdeckt? Nichts außer einigen in langen Zwischenräumen aufgefundenen Spuren, die weniger auf den Thäter als auf die That selbst zurückführten. Und hatte ich mich inzwischen wirklich nach besten Kräften bemüht, meine heilige Aufgabe zu erfüllen? Besänftigende Einflüsse hatten mich umgeben und die Fährte des Hasses war von Thränen bethaut worden. Der Verkehr mit glücklichen Menschen und Dankbarkeit für unverdiente Güte hatten mich weich gestimmt. Es liegt nicht in der menschlichen Natur, mag sie noch so einsam an finsteren Dingen hängen, solchen Mächten zu widerstehen.
Ich konnte es mir nicht verhehlen, daß ich die Religion meines Herzens während der letzten zwölf Monate etwas vernachlässigt hatte. Für die Hingebung, welche ich meiner theuren Mutter gewidmet hatte, bedurfte ich keiner Entschuldigung. Aber seitdem? Was kümmerten mich lachende Kinder, behagliche Familienscenen am Kamin, Singvögel und das Eichhörnchen Sandy? Selbst meine Freundschaft für die liebliche Isola verursachte mir Gewissensbisse; doch nein, sie konnte ich nicht gänzlich aufgeben. Nun aber war ich, Gott Lob, wieder auf dem rechten Wege und so in meine finstere Aufgabe vertieft, wie mein Vater es nur erwarten konnte. Seinem mich stets umschwebenden Geiste legte ich knieend das Gelübde ab, allen Tand von mir zu werfen, bis mein Ziel erreicht sei. Selbst hierbei schien sich jedoch ein sanfter Schatten über mich zu neigen und mir die Worte ins Ohr zu flüstern, welche den Tod meiner Mutter gemildert hatten.
Meine Träumereien, wenn ein so schwacher Ausdruck für sie paßte, wurden plötzlich durch laute Schritte auf der Treppe unterbrochen. Inspektor Cutting, der wenn es nöthig war, so leise wie eine Katze auftreten konnte, liebte es, dieses an der Göttin Echo begangene Unrecht durch verdoppeltes Geräusch wieder gut zu machen, wenn er nicht im Amt war. Pächter Huxtable, ein Mann, der zweimal so schwer wog, würde diese Treppe mit dem halben Aufwand von Lärm erstiegen haben.
Als er in das Zimmer trat, zeigte er indessen eine halboffizielle Miene und ich sah, daß er nicht vergebens gekommen war. In kurzen Worten berichtete er mir, was er bis jetzt gethan, und das war nicht viel; vielleicht war auch mein Verdacht, daß er mir nur einen Theil davon mittheile, begründet. Dann fügte er plötzlich hinzu:
»Miß Valence, ich weiß Courage zu beurtheilen.«
»Wie meinen Sie das, Mr. Cutting?«
»Nun, ich meine, daß Sie eine ungewöhnliche Portion Muth besitzen.«
»Ob Sie darin Recht haben, kann ich nicht wissen, weil mein Muth noch niemals ernstlich auf die Probe gestellt worden ist. Aber ich glaube, daß ich in Bezug auf meine Angelegenheit nicht leicht zu entmuthigen wäre.«
»Würden Sie auch Ihre Geistesgegenwart selbst bei wirklicher Gefahr nicht verlieren?«
»Das kann ich aus demselben Grunde nicht wissen, aber ich bin vollständig bereit, die Probe zu bestehen.«
Ich fühlte, wie mir die Röthe in die Wangen stieg. Wie freudig begrüßte ich die Gelegenheit, mir selber zu beweisen, daß ich nicht feige sei. Er beobachtete mich genau und schien mit mir zufrieden zu sein.
»Was ich Ihnen vorzuschlagen habe, ist mit keiner geringen Gefahr verknüpft.«
»Ich will mich nach Möglichkeit bemühen, nicht ängstlich zu sein. Ich besitze vielleicht mehr Begeisterung als Tapferkeit, aber welchen Werth hat das Leben für mich? Ich will versuchen, mir dies während der ganzen Zeit vorzuführen.
Ohne Zweifel haben Sie gute Gründe, mich der Gefahr auszusetzen.«
»Gewiß habe ich die, Miß Valence. Es ist für Ihren Zweck höchst wichtig, daß Sie in den Stand gesetzt werden, eine gewisse Persönlichkeit, die ich Ihnen heute Abend zeigen werde, zu identificiren; das heißt, wenn ich nicht falsch berichtet bin.«
»Heute Abend! Noch so spät?« Und ich begann schon zu zittern.
»Ja, wir müssen noch heute Abend gehen oder sonst vierzehn Tage warten; und dann würde es, selbst wenn sich uns wieder die Gelegenheit böte, nicht früher sein können. Ich halte es auch um Ihretwillen für besser, als wenn Sie sich vierzehn Tage hindurch ängstigen sollten.«
»Herr Inspektor Cutting, ich ängstige mich durchaus nicht; wenigstens nicht mehr, als andere Mädchen, wenn sie sich von einer unbekannten Gefahr bedroht fühlen. Ich hoffe aber, daß das Andenken meines Vaters und die Gerechtigkeit Gottes mich geleiten werden.«
»Meine junge Dame, ich sehe, daß ich es sicher wagen darf. Hätten Sie sich ihres Muthes gerühmt, so würde ich gezögert haben, obwohl ich schon Beweise Ihrer Entschlossenheit gesehen habe. Die erste und zugleich die einzige Gefahr liegt darin, daß Sie Ihre Geistesgegenwart verlieren könnten, was den meisten Frauenzimmern passiren würde, wenn sie in der Ihnen bevorstehenden Lage wären. Ich wünsche aber, daß Sie sich die Sache erst gründlich überlegen und sich nicht durch übergroßen Eifer, durch Rachsucht oder Abenteuerlust fortreißen lassen, welch' letztere junge Frauenzimmer, die so hohen Muth wie Sie besitzen, gar oft in Verlegenheiten bringt, aus denen sie selbst die tüchtigsten Mitglieder der Polizei nicht immer befreien können.«
»Das Alles weiß ich natürlich. Wie viel Zeit wollen wir noch mit Reden vergeuden? Muß ich mich verkleiden? Wann soll ich bereit sein, und wohin werden wir gehen?«
»Nun werden Sie ungeduldig. Das ist kein gutes Zeichen. Bedenken Sie, daß ich mir leicht einen andern Zeugen verschaffen kann; aber um Ihretwillen ließ ich Ihnen die Chance. Vermuthlich werden Sie heute Abend den Mann sehen, der Ihren Vater tödtete.«
Während er sprach, überlief es mich kalt, und einen Augenblick stockte mir das Blut in den Adern; dann plötzlich durchströmte es meinen Körper gleich einem elektrischen Fluidum. Der Beamte fuhr indessen so kaltblütig fort, als handle es sich um ein auf der Straße gefundenes, betrunkenes Individuum, während er aus Gewohnheit die vorschriftsmäßige Haltung annahm und die Hand gegen seine Schläfe legte:
»In Folge mir zugegangener Mittheilungen sah ich mich veranlaßt, gewisse Nachforschungen anzustellen, welche die Ueberzeugung in mir befestigt haben, daß der Verbrecher, auf den ich fahnde, zu einer bestimmten Stunde dieser Nacht an einer bestimmten Stelle anwesend sein wird. Ich beabsichtige diese Gelegenheit zu ergreifen, um –«
»Ihn festzunehmen!« rief ich in athemloser Hast.
»Diese Gelegenheit zu ergreifen,« fuhr der Inspektor wie ein redender Eichbaum fort, »meine Untersuchung persönlich und in Gegenwart einer Zeugin fortzusetzen. Die hierdurch erzielte Wirkung auf mein Urtheil oder vielmehr auf mein moralisches Gefühl soll auf das Genaueste vermerkt und der Lauf der Gerechtigkeit so beschleunigt werden, wie es mit den Grundsätzen unserer glorreichen Constitution vereinbar ist.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihn freilassen werden?«
»Nein, ich werde ihn nicht freilassen, Miß Valence, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich ihn nicht verhaften werde. Ich sehe, daß Sie geneigt sind, das Gesetz in Ihre eigene Hand zu nehmen. Das kann ich mir nicht gefallen lassen.«
»Oh nein, dazu habe ich keine Neigung. Vor einem Jahre würde ich es gethan haben. Aber jetzt bin ich älter und reifer geworden.«
Ich dachte an meine theure Mutter und begann schon zu fühlen, daß mein Charakter sich änderte.