Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Am Rande des Grabes.

 

Wir blickten einander einen Augenblick prüfend an. Sie war sichtlich stärker geworden bei ihrem »der Sorge für das Seelenheil und geistlichen Berathungen gewidmetem Leben in Cheltenham,« wie sie es nannte. In zärtlichster Begrüßung stürzte sie mir entgegen.

»Liebste Clara, mein Herz, ist es möglich? Bist Du es wirklich? Du bist so gewachsen und hast Dich in jeder Beziehung so vortheilhaft verändert, daß ich Dich kaum wieder erkenne. Diese strahlenden Farben, und dazu Deine Augen, Dein Haar – ach, wie stolz hätte Deine gute, liebe Mutter auf Dich sein müssen! Du reizendes Mädchen, ich muß Dir einen Kuß geben. Was, nicht einmal das hübsche Händchen bekomme ich?«

»Nein, Mrs. Daldy. Nie werde ich einer Person die Hand reichen, die meinen Vater zu beleidigen wagte. Mich hätten Sie tausendmal beleidigen können, und ich würde es Ihnen vergeben haben!«

»So lassen wir doch die Vergangenheit ruhen, liebes Kind. Oh, wäre doch nur etwas mehr vom christlichen Geiste in Dir! Beugen wir uns zu dem Saum des Gewandes unseres sanftmüthigen und demüthigen« (ich will den heiligen Namen nicht niederschreiben, den sie gebrauchte) »laßt uns arme, gemeinsam im Staub kriechende, sündige Menschenkinder –«

»Lassen Sie, bitte, jede Gemeinschaft zwischen uns aus dem Spiel.« Ich verlor die Geduld, und sie bemerkte ihren Vortheil.

»Selbst nicht als Sünder, meine Liebe? Ich glaubte in meiner Demuth, daß wir allzumal Sünder seien.«

»Gewiß sind wir das, aber nicht allzumal Heuchler.«

Sie behielt sich wunderbar in der Gewalt, abgesehen von ihren Augen.

»Ach, ihr stürmischen jungen Leute könnt das geläuterte, demüthige Herz nicht verstehen, welches nur durch schwere Prüfungen und die Gnade Gottes erlangt wird. Du, Clara, könntest es niemals verstehen lernen.«

Diesen letzten Satz rief sie in einem so gänzlich von dem Uebrigen verschiedenen Ton, und außerdem war er so wahr, daß ich mich nicht enthalten konnte, zu lächeln.

»Seit wir uns zuletzt gesehen haben, bin ich schwer geprüft und gezüchtigt worden. Ich beuge mich vor der Ruthe. Es geschieht Alles zum Heil unserer Seelen. Bis zu jenem gebenedeiten Tage, wo alle Garben –«

»Mrs. Daldy, auch ich habe viel erlebt und gelitten, seit wir uns zuletzt begegnet sind, und wenn ich mich schon damals nicht durch diese Scheinreligiosität täuschen ließ – können Sie es da jetzt für möglich halten? Es wundert mich, daß Sie Ihre Zeit so vergeuden.«

In der That sprach sie mehr aus Gewohnheit in diesem Ton, als daß sie gehofft hätte, irgend einen Eindruck hervorzubringen.

»Nun, Miß Vaughan, wenn ich also nur so mit Ihnen sprechen soll, wie ein Weltkind zum anderen, so lassen Sie uns wenigstens Hand in Hand gehen, da es im Rathe der Vorsehung beschlossen ist, daß unsere Interessen die gleichen sein sollen.«

»Wieso?« Ich nahm mich nach besten Kräften zusammen, um sie noch eine Zeit lang anzuhören.

»Ehe ich weiter mit Dir rede, möchte ich Dich fragen, ob Du einen ebenso scharfen Blick für Deinen lieben Vortheil hast, wie für die Entdeckung dessen, was Du ›Heuchelei‹ zu nennen beliebst? Ach, es dient Alles zu meinem Besten.«

Ihre sprechenden Augen glänzten bei dem Gedanken, daß sie mich jetzt fangen würde. Ich stellte mich, als sei es schon geschehen.

»Und wenn dem so wäre, was dann?«

»Dann will ich Dir etwas sagen. Setze Dich zu mir, Clara.«

»Danke, ich will lieber stehen.«

»Zuvörderst, ehe ich Dir irgend welche Mittheilungen mache, müssen wir einige kleine Anordnungen zu unserem beiderseitigen Nutzen treffen, um dann mit vereinten Kräften zu handeln. Zuerst mußt Du mir ein Versprechen geben, und dann will ich Dir etwas erzählen, was von der höchsten Wichtigkeit für Dich ist.«

»Betrifft es meinen Vater?«

»Nein, es betrifft nicht ihn, sondern Deinen Onkel, der jetzt im Sterben liegt. Ach, alle Dinge dienen zu unserem Besten. Ich fürchte, es ist keine Aussicht auf seine Besserung vorhanden, und die Verfügung über dieses herrliche Besitzthum wird vollständig in unseren Händen sein, wenn wir unsere Karten richtig ausspielen und vereint handeln. Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Denke doch nur, 15000 Pfund jährlich, denn so viel ist es jetzt ohne diesen schönen Landsitz werth. Oh, Clara, alle Freuden der Welt werden zu unseren Füßen liegen!«

In ihrer gierigen Aufregung vergaß sie ihre ganze Frömmigkeit; sie gefiel mir aber besser so. Gleich darauf bemerkte sie, daß sie ihr schlechtes Herz zu offen vor mir dargelegt hatte. In meinen Augen spiegelte sich kein Strahl der aus ihren Blicken leuchtenden Habsucht wieder.

»Woran leidet mein armer Onkel?«

»Zuerst bekam er einen Schlagfluß, dann ein schleichendes gastrisches Fieber, und jetzt liegt er an völliger Ermattung darnieder. Erinnerst Du Dich noch der Beerdigung Deiner lieben seligen Mutter?«

»Natürlich.«

»Und hast Du umhin können, schon damals die große Veränderung zu bemerken, die mit ihm vorgegangen war? Noch in derselben Stunde, als er die Nachricht ihres Todes erhielt, war er plötzlich erkrankt. Trotzdem bestand er darauf, am Tage ihrer Bestattung allein auszugehen. Es muß ihn Etwas erregt haben; er kam kränker nach Hause, und in der Nacht bekam er einen leichten Schlaganfall. Doch gewann er für eine Zeit lang den Gebrauch seiner Gliedmaßen wieder, obgleich nicht seine frühere Lebenslust – wenn davon überhaupt die Rede bei ihm sein konnte. Mehrere Monate hindurch lebte er ganz wie sonst, nur ritt er anstatt eines muthigen Reitpferdes einen ruhigen Pony. Er besorgte nach wie vor die Gutsverwaltung, empfing die Michaelispacht und legte große Summen theils in Ländereien, theils in Fonds an. Er nahm sogar noch große Verbesserungen vor, denn wie Du weißt, war er stets ein sehr tüchtiger, liberaler Verwalter und Landwirth.«

»Das habe ich nie bestritten. Es kann keinen besseren geben.«

»Doch plötzlich, nach den ganz still verlebten Weihnachstagen (wegen Deiner theuren Mutter wollte er durchaus keine Festlichkeiten gestatten) fand man ihn am Morgen des letzten Tages im Jahr starr und steif, vollständig angekleidet an seinem Arbeitstische sitzen, auf dem zwei geladene und gezogene Pistolen lagen. Weder seine Gesichtszüge noch sein Puls verriethen das geringste Leben. Sein Körper war starr und zugleich schlaff, wie ein ausgestopfter Sandsack. So wenigstens drückte sich der Diener aus, der ihn gefunden.«

»Wie schrecklich!«

»Ja, wahrlich; zuerst wurde sein Zustand nur für einen Starrkrampf gehalten, doch als dieser schwand, blieb die Lähmung zurück. Ich wollte sofort zu Dir schicken.«

Bei diesen Worten begegnete ihr Blick unwillkürlich dem meinigen, und ich sah, daß sie log.

»Doch ich wurde überstimmt. Dein armer Onkel blieb bettlägerig, es war jedoch keine eigentliche Lebensgefahr vorhanden, bis dieses schreckliche schleichende Fieber eintrat. Er muß eine eiserne Natur haben, um es so lange auszuhalten. Der Doktor sagt, das Fieber rühre theils von der Lähmung der Nerven her.«

»Wer ist der Doktor?« Fast war mir zu Muthe, als ob ich meinen Onkel hätte lieben können.

»Ein ausgezeichneter Arzt. Sein Name ist Churchyard.«

»Das ist nicht unser alter Familienarzt. Woher ist dieser Herr gekommen?«

»Von Cheltenham, glaube ich.«

»Das müssen Sie doch genau wissen, wenn er ein ausgezeichneter Mann ist, da Sie selber dort wohnen.«

Ich bemerkte, daß sie ihn mitgebracht hatte.

»Es ist gleichgültig, woher er gekommen ist,« antwortete sie gereizt, »und ich habe seinen Wohnort nicht konstatirt. Ich fürchte, daß alle Aerzte Europas Deinen armen guten Onkel nicht retten könnten.« Hier fiel sie ihrer Gewohnheit gemäß, wenn der Tod erwähnt wurde, wieder in den frömmelnden Ton zurück. »Ach, leider ist es so! Das Einzige, was ihm jetzt noch frommen kann, wo sein armer, sündiger Leib verfällt –«

»Danke, ich kenne das schon. In welchem Zimmer liegt mein Onkel?«

»Du denkst doch wohl nicht daran, ihn um Mitternacht zu stören?«

»Achtet der Tod vielleicht auf die Stunde? Wenn er wirklich im Sterben liegt, so muß ich ihn sofort sehen.«

Sie schien entschlossen, mich zurückzuhalten.

Ich war entschlossen, zu gehen. Es ist unnöthig, ihre Gegengründe zu wiederholen und ebenso unnöthig zu sagen (oder es müßte mir völlig mißlungen sein, mich zu schildern), daß sich dieselben ganz nutzlos erwiesen. Ich war nur erstaunt, daß sie nicht mit mir kam.



 << zurück weiter >>