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Eine kurze Wiederbelebung.
Ehe die Woche noch vergangen war, konnte mein Onkel täglich eine kurze Zeit außer dem Bette zubringen, wenn er genügend von weichen Kissen gestützt wurde. Ein Arm blieb jedoch ganz gelähmt und eine Seite theilweise steif und unempfindlich. Seine Besserung schritt langsam und mühselig fort, wie es nicht anders bei Jemand zu erwarten war, der nicht aus den Klauen des Todes, nein, aus dem Rachen desselben gezogen worden. Längere Zeit hindurch war auch sein Geist noch schwach und getrübt.
Mich, die ich nach meiner Art zum Beobachten geneigt bin, interessirte und entzückte es, zu sehen, wie Geist und Körper Hand in Hand täglich kräftiger wurden. Eine große und demüthigende Lehre empfing ich durch die Wahrnehmung, wie zögernd die Macht zurückkehrte, welche die Einbildungskraft leitet und beherrscht. Das Objektivglas des Geistes, welches selbst bei hervorragenden Verstandeskräften nicht ganz achromatisch Wörtlich: farblos. Bei optischen Linsen bedeutet es, dass der Effekt unterschiedlicher Brechung von Lichtstrahlen verschiedener Wellenlänge korrigiert wird, hier übertragen auf geistige Tätigkeit. ist, war hier schon seit langer Zeit dem Brennpunkt der Linse des geistigen Auges entrückt. Zusammenhanglose und verzerrte Bilder waren daran vorübergezogen, die sich nur unvollkommen oder gar nicht auf der Netzhaut des Gehirns abgespiegelt hatten. Dieser Zustand war das gerade Gegentheil von demjenigen meiner eigenen Verstandeskräfte. Ich besitze kein ausgedehntes Vorstellungsvermögen, aber die Bilder, welche es mir zeigt, sind lebhaft und ich sehe sie in scharfen Umrissen; jedes einzelne ist meinem Bewußtsein nicht aufgezeichnet, sondern eingegraben. Ob ich sie in Worten zum Ausdruck bringen kann, das ist eine andere Frage, mit der mein Vorstellungsvermögen Nichts gemein hat. Wenn es meinem inneren Auge die Gegenstände deutlich, obgleich oft verkehrt, zur Anschauung gebracht hat, bleibt es dem Urtheil überlassen, sie nach besten Kräften zum Ausdruck zu bringen.
Der Charakter meines Onkels war nun sehr verschieden von dem meinigen. Von Natur waren seine Verstandeskräfte viel höher geartet als die meinen; doch schien er nicht im geringsten stolz auf sie zu sein. Weder der Schatten noch die Last irgend eines festen düsteren Vorsatzes war je auf sie gefallen, noch hatten sie, so viel ich wußte, den rauhen Griff des Schicksals gefühlt. Deßhalb bedurften sie mehr Zeit, um sich zu erholen, als für die meinigen, wie ich glaube, erforderlich gewesen wäre.
Unter den vielen Wünschen der Mrs. Daldy befanden sich sehr wenige, die sie nicht mit ihrem strengreligiösen Sinn zu vereinigen wußte. »Es besteht nicht eins von den Dingen, welche wir für wünschenswerth und zuträglich für uns halten« (so hörte ich sie vor Jahren einmal sagen), »die wir nicht ohne Bedenken vor dem Thron der Gnade offenbaren könnten. Selbst die Pulsschläge jenes kleinen, unerweckten Herzens« (hiermit meinte sie das der kleinen Clara Vaughan, welche sie am Morgen »ganz zufällig« auf den Fuß getreten hatte) »selbst sie sind dort droben gekannt und geprüft. Die unendliche Barmherzigkeit kennt alle Dinge, welche uns zur Belehrung und Befestigung im Glauben dienen. Ja, strauchelnde Sünder! Der Mangel des ächten gottseligen Wandels kann nur durch Gebet ausgefüllt werden. Nicht wahr, Herr Kirchenältester, das können auch Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen?« »Ja wohl, meine liebe Madame, nur durch Gebet und Prüfung des Herzens. Oh, über den Abgrund der Bosheit des unbußfertigen Herzens!« Und er nahm ein zweites Glas Sherry. An diesem Abend arbeitete sie, wie ich mich erinnere, sehr angestrengt für ihre Verhältnisse, und am folgenden Tage überreichte sie mir zwei Lesezeichen, die mit vielen Löchern durchstochen waren und die Form von Galgen hatten. Auf dem einen waren in Kreuzstich die Worte gestickt: »Bete ohne Unterlaß,« und auf dem anderen, »Ringe im Gebet.« Erstes Buch Mose, Kap. 34. Ich warf alle beide vor ihren Augen in das Feuer.
Hieraus erhellt, daß sie mich noch immer in ihre Andachtsübungen einschloß und ohne Zweifel auf gut Biblisch, um meine Erlösung von dieser sündigen Welt betete. Dr. Churchyards letzter Bericht hatte ihre Furcht bis auf den höchsten Gipfel getrieben, und anstatt im Gebet zu ringen, hatte sie in panischem Schrecken die Flucht ergriffen, als sie hörte, daß die Fieberwärterin leibhaftig in der vergangenen Nacht gesehen worden sei. »Wir müssen die uns gnädig verliehenen Mittel gebrauchen,« sprach sie zu Mrs. Fletcher, ehe sie dieselbe einschloß, »und die uns gewährten Wohlthaten annehmen. Es wäre sündlich von mir, meine liebe Mrs. Fletcher, eine solche Warnung zu mißachten.«
Es war sowohl weise, wie gottesfürchtig von ihr, sich eine Zeitlang fern zu halten, während ihre Pläne der Vollendung entgegenreiften. Für jetzt schien es mir indessen, als ob dieselben gänzlich fehlschlagen wollten. Mein Onkel kam geistig und körperlich wieder zu Kräften, während mich die heimathliche Luft, das Gefühl des Triumphes und tägliche Bewegung im Freien bei blühender Gesundheit erhielten. Mein Patient, der es sonst kaum ertragen konnte, wenn ich ihn auf eine Stunde verließ, bestand darauf, daß ich täglich einen weiten Spazierritt unternahm. Lilla war ebenso entzückt wie ich über die frische Frühlingsluft und die herrliche, wohlbekannte Gegend. Und wie schmeckte mir Speise und Trank danach!
Ich hätte Gott nicht genug danken müssen, daß ich von der furchtbaren, gefährlichen Krankheit verschont blieb. Aber das schlimmste Unheil, das die plärrenden Frömmler anrichten, ist der Widerwille, den sie Anderen gegen die wirkliche Frömmigkeit einflößen. Ich muß gestehen, daß ich noch tagelang, nachdem ich mit jener glatten Scheinheiligkeit in Berührung gekommen war, unfähig blieb, mein Gebet mit der Unbefangenheit eines Kindes zu sprechen.
Drei Personen waren jenem Fieber im Dorfe erlegen, ehe es in unser Haus einzog, und jetzt griff es mit Schnelligkeit um sich. Von meinem Onkel ermächtigt, ließ ich die Abflußkanäle sofort nachsehen und verbessern, wodurch die Epidemie gehemmt wurde. Auch waren von nun an weder der moderige Geruch noch der weiße Dunst auf unserem Gebiete mehr bemerkbar.
So vergingen drei Wochen. Keine Nachrichten von London oder Devonshire, keine Erklärungen zwischen meinem Onkel und mir, noch irgend welche Anordnungen in Betreff meiner Zukunft; vorläufig war mein Onkel noch viel zu schwach, um die geringste Erregung vertragen zu können, und er schien Nichts weiter zu wünschen, als sich passiv meiner Sorge zu überlassen. Seine Augen folgten mir beständig, wenn ich im Zimmer herumging, und er ließ sich sogar, wenn ich fortritt, in den Sophakissen aufrichten, um mir die Allee hinunter nachzuschauen, und so fand ich ihn auch stets auf meine Rückkehr wartend. Inzwischen aber sehnte ich mich danach, wieder einmal in einem gewissen kleinen, nach Norden gelegenen Zimmer zu verweilen, das in einer obskuren Straße von London, einem Käseladen gegenüber lag. Nachts träumte ich von Guidice, am Tage von Isola, doch seltsamerweise niemals von Conrad. Der Hofhund, welcher sich sonst nie eines besonderen Interesses von meiner Seite erfreut hatte, wurde plötzlich von mir geliebkost und gefüttert (aus letzterem machte er sich entschieden mehr) zum großen Aergerniß der Mrs. Fletcher und zum Schrecken der Stallknechte, denen meine Anwesenheit durchaus ungelegen war. Ueberdies war der Hund selber, obgleich ich versuchte, ihn mit allen möglichen ritterlichen Eigenschaften auszuschmücken, nur gemeiner, geistloser Natur und weder mit liebenswürdiger Sinnesart noch mit gutem Geschmack begabt, außer für Knochen und Bratenfett. Vielleicht war mein Maßstab auch ein zu hoher für einen Bullenbeißer und ich von Vorurtheilen befangen.
Jedenfalls war diese wie jede andere Art Selbsttäuschung nutzlos und jeder Tag fiel für mich langsamer aus der Wage der Zeit; jeden Abend blickten die Sterne müder vom Himmel herab, als ob sie nur noch wenig Lust besäßen, ihre Schuldigkeit zu thun. Wie lange, lange Zeit müßt Ihr noch in Eurer ruhigen Weise im Kreise herumwandern, als wenn der ganze Himmel versteigert werden solle, und Ihr, das Terrain abzumessen hättet, während ich, die mehr Feuer in sich birgt, als Ihr ausstrahlen oder entwenden könnt, dem unter einem Blatt verschütteten Glühwürmchen gleiche und gar keinen Leitstern sehe!
Es ist Mai, Mitte Mai; ich bin voller Leben und Kraft. Der Fittich des Todes ist wie eine Aprilwolke vorübergeflogen. Bin ich nicht an meinem letzten Geburtstag achtzehn Jahre alt geworden? Bis jetzt habe ich meine Jugend noch nicht genossen und mehr Unglück als Jahre durchlebt. Bei Hunger und Kummer bin ich im letzten Jahre erstarkt. Jetzt hat mich die Macht, welche Erde und Himmel im Gleichgewicht erhält, mit Freude und Licht erfüllt.
Doch bin ich meiner Lebensaufgabe nicht abtrünnig geworden, weil ich mein Herz dieser Fluth von Liebe und Glück geöffnet habe. Noch beharre ich strenge bei meinem Vorsatz. Noch bleibe ich dem Gelübde treu, wenn die Kindespflicht es gebieten sollte, die Liebe mit Füßen zu treten und dem Glück den Rücken zu wenden.
Während dieser ganzen Zeit hatte ich keine Ahnung, wo die Königin der Scheinheiligen weilen mochte, obgleich dieselbe ohne Zweifel Alles wußte, was sich bei uns zutrug. Sobald die Kunde von der überraschenden Besserung zu den Ohren des Dr. Churchyard gelangte, erschien derselbe und beanspruchte alles Verdienst für sich und sein letztes Recept. Als ihm die unangenehme Thatsache vorgeführt wurde, daß die Medicin gar nicht genommen worden, kam er nicht im geringsten aus der Fassung, sondern behauptete, von uns mißverstanden zu sein. Das von ihm erwähnte Recept sei das vorletzte gewesen. Jedenfalls erhöhte er seinen Ruhm bedeutend dadurch und beförderte »als Werkzeug der Vorsehung« noch mehr Leute in das Jenseits als bisher. Auf Mrs. Fletchers Frage (ich ließ mich nicht zu einer Erkundigung bei ihm herab) erwiderte er, daß die würdige und fromme Mrs. Daldy in letzter Zeit nicht in Cheltenham gesehen worden sei. Ihr Sohn war indessen dort und spielte in der Londongesellschaft den Herzensräuber ersten Ranges, welche Rolle gerade für ihn paßte.
Der Doktor hegte den Glauben und verbreitete das Gerücht in Cheltenham, daß die edle Dorcas Das Neue Testament (Apg. 9, 36-43) kennt sie als die einzige Jüngerin Jesu; sie opferte sich hingebungsvoll für bedürftige Witwen und Waisen auf, wobei ihr die Fähigkeit zu nähen zugute kam. in einer armseligen Hütte inmitten der Pesthöhlen weile und dort sowohl ihr Leben in Gefahr bringe, wie ihr Hab und Gut opfere, um die Leiden der vom Fieber Heimgesuchten zu lindern. Dies war mehr als ich ruhig mit anhören konnte, und ich fragte den würdigen Doktor, der immerhin ein Weltmann war, welche drei reichen Persönlichkeiten Dorcas denn mit sich genommen habe. Zuerst gab er vor, mich nicht zu verstehen, dann lächelte er schlau und gab dem Gespräch eine andere Wendung. Ich hatte nämlich auf die allgemein bekannte Thatsache angespielt, daß sie ihren Aufwand und ihres Sohnes verschwenderisches Leben durch einen ausgezeichneten Robber Whist bestritt. Sie spielte jetzt eine bessere Partie.
Dr. Churchyard beendete seinen Besuch, indem er ein anderes Recept schrieb, das ich nach seiner Abreise sofort dem Gatten der Venus Die ist Vulcanus. D.h. Clara wirft das Rezept ins Feuer., dem rechtmäßigen Verwalter metallischer Medicin übergab.