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Eine Berathung.
Als Isola Mrs. Shelfer Alles erzählt hatte und noch ein wenig darüber, denn sie besaß eine lebhafte Einbildungskraft, da war das vorherrschendste Gefühl im Busen der kleinen Frau nicht etwa Entrüstung, wie wir erwartet hatten, sondern Furcht, die Furcht vor zwei Unglücksfällen. Ihre erste und hauptsächlichste Befürchtung war die, daß Charley sich erkälten könne; die zweite, daß er Conrad wahrscheinlich bei der nächsten Gelegenheit zu Boden schmettern und todt schlagen würde. Ich versicherte ihr auf's Eifrigste, daß Herr Conrad sich schon vertheidigen werde, selbst wenn Mr. Shelfer sich erfrechen sollte, mit ihm anzubinden.
»Oh, meine Beste, Sie ahnen nicht, was Charley für ein furchtbarer Mann ist. Er hat dem Kegelaufsetzer im Gasthof zum Heuwagen den Schädel eingeschlagen. Ja, das hat er mir selbst erzählt. Ach, er ist ein furchtbarer Mann, wenn er in Hitze geräth.«
»Sie vergessen, Mrs. Shelfer, daß er diesmal nicht in Hitze, sondern in Kälte gerathen ist,« sagte Isola, die gerne einen kleinen Scherz anbrachte.
»In Kälte, Miß Isola?« Mrs. Shelfer verstand nie andere Spässe als ihre eigenen. »Ach so, in das kalte Wasser, meinen Sie. Ja, ja, und es ist ihm recht geschehen, das heißt, wenn er sich nicht erkältet, weil er mich, seine rechtmäßige Frau ›die Alte daheim‹ genannt. Aber Charley ist ein schrecklicher Mensch, ganz schrecklich!«
»Wahrscheinlich ein schrecklicher Feigling,« rief ich, »sonst würde er solche Gemeinheit nicht gegen mich gewagt haben! So vollständig ich ihn verachte, thut es mir dennoch leid, Mrs. Shelfer, weil ich mich dadurch gezwungen sehe, Ihr Haus zu verlassen, und Sie sind wahrhaft treu und gut gegen mich gewesen.«
Ich dachte an Mrs. Huxtable. Aus welch' anderen Wurzeln erwuchs deren Güte!
»Mein Haus verlassen, Miß Valence! Nein, nein, meine Beste, daraus wird Nichts, daran ist gar nicht zu denken! So wie wir uns Alle, Tom, die Amsel und das neue Eichhörnchen, schon an Sie gewöhnt haben! Das wäre eine schöne Geschichte, und noch dazu, wo Ihre Augenwimpern schon wieder wachsen! Wissen Sie auch, wen ich an Ihrer Stelle bekommen würde?«
»Nein, Mrs. Shelfer.«
»Nun, irgend eine schmutzige, unangenehme Person, die mir die Federn aus meinem besten Bett herausstehlen würde, wie es mir schon früher ergangen ist. Mein allerbestes Bett, Miß Isola, das mir meine liebe selige Miß Minto in ihrem Testament vermacht hat. Es giebt kein besseres Bett in ganz London, die Königin kann kein besseres haben, und das pflegte ich ihr auch zu sagen, wenn ich es auflockern half. Mir wässerte der Mund so darnach, daß sie eines Tages zu mir sagte – der Laufbursche hörte es noch auf der Treppe – ›Patty, Du bist mir stets ein treues gutes Mädchen gewesen, Du verdienst es, und Du sollst es auch haben, wenn ich zur letzten Ruhe gebettet bin.‹ Ja, und ich habe ihr auch redlich, treu und ehrlich gedient, das ist wahr. Einmal wohnte ein feiner Kaufmann bei mir, ein ganz ungewöhnlich schwerer Mann, der blieb nur wegen des Bettes drei Jahre lang bei mir wohnen; der wußte ein gutes Bett zu würdigen. Es war herrlich mitanzusehen, wenn er aufstand. Es hob sich so rund und hoch, wie Toms Buckel, wenn er Ihren Hund sieht, Miß Isola.«
»Nun Mrs. Shelfer, ich fürchte, wir können nicht länger warten.«
»Es war, als wenn man Teig an das Feuer setzt. Solches Oberbett giebt es heutzutage nicht mehr. Wenn man mit der Faust auf einer Seite hineinschlug, so quoll es auf der anderen in die Höhe. Oh Gott, ich könnte weinen, wenn ich an die hinterlistige Kreatur denke. Sie war so süß, wie eine Pastinake, und ihr eines Bein war länger als das andere. Ich konnte mir gar nicht erklären, warum sie ihr Bett immer selber machen wollte. ›Danke Mrs. Shelfer,‹ und sie zog die Lippen zusammen, daß ihr Mund wie ein Knopfloch aussah, ›danke, Sie sind sehr gütig, es strengt mich nicht im geringsten an, mein Doktor hat mir die Bewegung zur Stärkung meiner Arme und meiner Brust verordnet.‹ Sie hat, Gott sei Dank, auch eine Bewegung zur Stärkung ihrer Beine bekommen, ein halbes Jahr auf der Tretmühle. Charley hatte mir einen Erlaubnißschein verschafft, und es war mir eine wahre Herzensfreude, sie zu sehen. Aber meine zwanzig Pfund der schönsten Federn sind nie wieder gekommen, das war jedoch noch nicht das Schlimmste.«
»Allerdings nicht,« sagte Isola, »das Schlimmste war die Sünde, Mrs. Shelfer.«
»Das Schlimmste war, daß sie Sägespähne, Werg und Jovanno hineinstopfte, wie wir an dem Geruch merkten.«
»Was meinen Sie, Mrs. Shelfer?«
»Mein Gott, Miß Valence, kennen Sie Jovanno nicht, das Zeug, was von den Seevögeln herrührt und auf dem Meer gefunden wird, und was die Gärtner zum Begießen nehmen?« Verballhornung von »Guano«. S. u.
»Was hat sie denn mit Ihren Federn gethan?«
»Heimlich unter ihrem Hut versteckt und so aus dem Hause geschleppt. Verkauft hat sie sie zu acht Pence das Pfund, und sie waren drei Schillinge und sechs Pence werth. Aber auch der Lumpen- und Knochenhändler, der sie kaufte, hat, Gott sei Dank, zwei Monate gekriegt. Ach, es wird aber nie wieder ein Bett für fünf Pfund Sterling mindestens werden.«
»Ist es das, auf dem ich schlafe, Mrs. Shelfer?«
»Ja, meine Beste, das ist es.«
»Sie haben mich also auf Guano schlafen lassen? Es schien mir allerdings einen sonderbaren Geruch zu haben.«
»Nein, nein, meine Beste, warten Sie nur einen Augenblick. Wir haben das meiste davon wieder herausgeholt und unseren Geraniumtöpfen gegeben. Sie hat es aus einem Sacke gestohlen den Charley im Waschhause aufbewahrte. Früher waren Federn darin gewesen, das muß sie auf den Gedanken gebracht haben. Aber aus Ihrem Fortgehen kann Nichts werden. Nie und nimmer. Nicht wahr, Miß Isola? Und was das Frauenzimmer für Anzüge hatte! Mein bestes Tarlatankleid, das meine liebe Miß Minto mir zur Hochzeit geschenkt hat, wäre ihr nicht gut genug gewesen, um die Treppen damit abzufegen. Treppen, ja die hatte sie genug getreten, als ich sie zuletzt gesehen habe. Sie muß es früher schon einmal versucht haben, sie stellte sich so geschickt dabei an, und davon hatte sie auch den einen langen Fuß.«
»Mrs. Shelfer, denken Sie, daß wir hier die ganze Nacht zuhören sollen?«
»Sie haben Recht, meine Beste, ganz Recht. Aber wenn ich an meine Federn denke, so übernimmt es mich, ich muß mir das Herz abreden oder es würde mir zerspringen. Aber gehen dürfen Sie nicht, Miß Valence; daraus kann Nichts werden. Fragen Sie nur Miß Isola.« Und sie redete Isola an, die ganz bereit war, mit sich reden zu lassen.
»Natürlich nicht, Mrs. Shelfer. Sie haben ganz Recht, meine Beste. Daran wollen wir gar nicht denken. Mr. Shelfer war einfach betrunken. Ich habe es an der Art gesehen, wie er seine Pfeife hielt. Total betrunken und unzurechnungsfähig, und er wird um Verzeihung bitten und es nie wieder thun. Er hatte auch gar nicht die Absicht, sich zu betrinken, der Frost war nur so stark, und die Kälte ist ihm in den Kopf gestiegen. Ich glaube entschieden, sie wäre mir ebenfalls zu Kopfe gestiegen, wenn ich noch länger dort geblieben wäre. Und er weiß ja Nichts von Liqueurbonbons, wie wir im College, das ist doch nicht von ihm zu verlangen.«
Die Treuherzigkeit, mit der sie die letzten Worte sprach, war zu viel für mich. Ich mußte laut auflachen, da ich keinen Mann hatte, der dabei im Spiel war. Die kleine Frau aber weinte allen Ernstes. Ich hatte noch nie eine Thräne in ihren lebhaften, scheuen Augen gesehen, obgleich das Federbett und der Tod des älteren Eichhörnchens Sandy sie beinahe schon zum Weinen gebracht hatten. Sie wendete sich ab, denn sie schämte sich jeder Gemüthsbewegung.
»Gott segne Ihr liebes unschuldiges Herz, Miß Isola. Sie müßten einen König heiraten; Keiner sonst ist gut genug, Ihnen die Schuhe zuzubinden, wovon Sie neulich sprachen. Sie sind so lieb und herzensgut.«
Welcher Beweis von Güte ist wohl mehr geeignet, alte, erfahrene Leute zu rühren, als der Unglaube einer zarten, jugendlichen Natur an das Böse? Ohne meine bitteren Erfahrungen hätte ich so sanft sein können, wie Isola. Gott sei gelobt, daß der Essig des Mißtrauens die Ansteckung nicht ganz verhindern kann.
»Morgen früh, Miß Valence,« fuhr Mrs. Shelfer fort, »nachdem ich ihn heute Nacht noch tüchtig abgekanzelt und ihm dann morgen ein gutes Frühstück gegeben habe, wird er Sie wie ein Kind um Verzeihung bitten und sich nicht getrauen, seine Augen höher als bis zu Ihren Falbeln zu erheben. Ich weiß, daß Sie es ihm vergeben werden.«
»Mrs. Shelfer, ich habe ihm längst vergeben. Ich kann gegen solche Leute (diese drei Worte hätten füglich unterbleiben können) keine Feindschaft wegen so kleiner Vergehen hegen. Ihnen aber bin ich für Ihre vielen Beweise von Güte verpflichtet. Es handelt sich nur darum, ob Selbstachtung und Weltklugheit mir gestatten, hier zu bleiben. Ich will die Entscheidung Miß Isola überlassen. So jung, unschuldig und vertrauend sie auch ist, kann sie doch nicht irren, wo es eine Frage des weiblichen Zartgefühls betrifft. Und Weltklugheit besitzt sie als Londonerin mehr wie ich.«
Hiernach setzte ich mich mit würdevollem Anstand. Doch kaum konnte ich mich des Lachens erwehren, als die Elevin des College sich mit Stolz anschickte, ihr Urtheil zu fällen. Um größer zu erscheinen, schüttelte sie ihre Falbeln herunter, warf ihre runden weißen Schultern zurück (Hut und Mantel hatte sie abgenommen), strich ihr üppiges, wallendes Haar hinter das zierliche, perlweiße Ohr und hiervon noch kaum zufriedengestellt, dachte sie daran, auf eine Fußbank zu steigen; jedoch zog sie ihren Fuß wieder von der richterlichen Tribüne zurück. Nach diesen Vorbereitungen begann sie mit feierlicher Stimme. Sie dachte an das College und ihren Vater im Katheder.
»Miß Valence und Mrs. Shelfer, da Sie mich mit Ihrem Vertrauen beehrt und sich meinem schiedsrichterlichen Ausspruch ohne Vorbehalt der Apellation unterworfen haben, wie ich aus Ihren Worten entnehme, so will ich mich nach meinen schwachen Kräften bemühen, ein klares, verständiges und unparteiisches Urtheil abzugeben. Erstlich bestimme ich, daß Miß Valence in diesem Hause bleibt und das ihr zugefügte Unrecht vergiebt und vergißt. Zweitens empfehle ich Mrs. Shelfer (Etwas zu befehlen maße ich mir in diesem Falle nicht an), daß sie Mr. Shelfer, so lange er nicht demüthig und reuig das Versprechen gegeben hat, sich nie wieder zu betrinken, wie kalt es auch immer sein mag, keinen einzigen Kuß und keinen warmen Bissen zu essen giebt. So lautet mein richterlicher Beschluß.«
»Lieber Gott, Miß Isola, Sie sind ein viel zu milder Kriminalrichter. Er küßt mich niemals, er müßte denn wissen, daß ich etwas Geld eingenommen habe. Aber auf sein gutes Essen hält er Etwas, da haben Sie recht, meine Beste.«
So war diese schwierige Streitfrage erledigt, und Guidice, der mich sehr ungern verließ, begleitete Isola nach Hause. Ehe er ging, legte er seine breite Schnauze noch einmal feierlich in meine Hand und blickte mich dabei mit einer solchen ermuthigenden Beschützermiene an, daß ich nicht umhin konnte, zu lachen, worüber er sich zuerst beleidigt fühlte, es dann jedoch verzieh. Isola erzählte mir, daß er, wenn er sie in seiner Obhut hatte, sich seiner Verantwortung so bewußt war, daß er ihr nicht von der Seite ging und keinem noch so gesprächigen Hunde Rede stand, obgleich er es zu anderen Zeiten liebte, fünf Minuten lang schwatzend stehen zu bleiben. Eines Abends, als er auch mit Isolas Bewachung beauftragt war, drängte sich ein roher Geselle mit einer Bemerkung zwischen sie und den Hund. Guidice schleuderte ihn im Nu zu Boden und stand grollend, wie eine lohfarbene Gewitterwolke mit so wüthendem Knurren und so blitzenden Augen über ihm, daß zwei in der Nähe befindliche Polizisten es für klüger hielten, sich nicht einzumischen. Isola selber sah sich auf die flehentlichen Bitten ihres zu Boden geworfenen Feindes genöthigt, den großen Hund fortzulocken. Als der Undankbare sich aber wieder aufgerichtet hatte, bestand er darauf, daß Guidice festgenommen und zur Polizeistation geschleppt werde. »Sehr wohl, Sir,« sagte der Polizist, »wir wollen die Klage annehmen, wenn Sie ihn selber zur Stelle bringen. Lassen Sie ihn los, Miß, damit der Herr ihn packen kann.« Der »Herr« war im Umsehen verschwunden, und Guidice ging mit seiner Gebieterin unter lautem Hurrahrufen der versammelten Straßenjungen davon.
Conrad sprach am Tage nach Mr. Shelfers unfreiwilligem Bade mit seiner Schwester bei mir vor, um sich über meine Nerven zu beruhigen, die sich jedoch nie in einem besseren Zustande befunden hatten. Er sah meine Zeichnungen an, und ohne sich den Anschein zu geben, als wolle er mich belehren, gab er mir manche Winke, die sich mir später nützlich erwiesen. Ich erfuhr jetzt auch Näheres über seinen Beruf, und es machte mir Freude, daß er nicht, wie ich befürchtet hatte, ein müßiger Flaneur war. Er arbeitete im Gegentheil sehr angestrengt als Bildhauergehülfe, wie er sich selber nannte. Obgleich er zugab, daß er kein Anfänger sei, machte er ernstliche Studien in dem Atelier eines berühmten Künstlers. Aber Isola erzählte mir, und ich glaubte es ihr auf's Wort, daß er seinem Meister weit überlegen sei, und daß stets nach ihm verlangt werde, wenn es sich um einen besonders wichtigen Entwurf handelte, der Genie und Geschmack erforderte. In der letzten Zeit hatte die Kälte seine Arbeit vermindert, denn wie die Atelierräume auch geheizt werden mochten, hatte das Frostwetter doch solchen Einfluß auf das Material, daß die feineren Arbeiten nicht während des strengen Winters vorgenommen wurden. Beim Eintreten des Thauwetters würde er also das Vergnügen, mich zu sehen, zeitweilig entbehren müssen, wenn Isola nicht vielleicht wünsche, daß er sie einmal des Sonntags abhole. Ob ich ihr auch erlaube, an diesem Tage zu kommen? Dies war nun gerade der Tag, an dem ich mir am leichtesten nach der Kirche einen Spaziergang mit meiner herzigen Freundin gestatten konnte, und ich glaube bestimmt, daß ihre Gesellschaft mir mehr frommte, als die Predigt. Isola fand, daß der Gottesdienst sie ganz nervös mache (ihre Nerven waren so stark wie die meinigen) und es ihr deßhalb nicht angenehm sei, am Sonntage nur in Begleitung eines großen Hundes über die Straße zu gehen; Cora sei nach der Messe den ganzen Tag verdrießlich, Conrad müsse es also auf sein Ehrenwort versprechen, sie stets pünktlich abzuholen, gleichgut ob in Hagel, Regen oder Sonnenschein. Dies versprach er so bereitwillig, daß ich mir im ersten Augenblick einbildete, es sei eine abgekartete Sache. Gleich darauf schämte ich mich jedoch dieses Verdachtes. Solches Manöver wäre Isola wohl zuzutrauen, aber Conrads durchaus unwürdig gewesen.