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Vierzehntes Kapitel.

Professor Roß.

 

Betrat der Professor mein Zimmer auch unter sehr ungünstigen Auspizien, so währte es nicht gar lange, bis er die Vögel in eine andere Himmelsrichtung gescheucht hatte. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit begegnete ich einem Manne von großen und vielseitigen Kenntnissen, einem Manne, der sein Leben in der Anhäufung von Gelehrsamkeit zugebracht und gelernt hatte, sich dieselbe am besten nutzbar zu machen. Vielleicht war der letzte fruchttragende Zweig des sauersüßen Baumes etwas zu stark kultivirt. Früher war ich so thöricht gewesen, mir einzubilden, daß meine gelegentlichen kleinen Beobachtungen der Natur eigenartig und ursprünglich seien. Für Thomas Henwood, Pächter Huxtable und selbst Mr. Shelfer, den Gärtner, war ich ein Orakel in Bezug auf das Wetter, den Himmel und die verschiedenen Insekten. Außerdem hatte ich in den meisten Büchern, welche ich gelesen, so viele Schnitzer über Gegenstände gefunden, die an der Eingangsthüre zum Tempel der Natur liegen, daß ich, wenn ich auf sie zurückblickte, glauben mußte, die Schwelle überschritten zu haben.

Wie das Sprichwort sagt, rächt die Natur sich stets, und deßhalb wurde ich wie ein unerfahrenes Plappermäulchen belehrt, daß ich noch nicht einmal einen Grashalm gründlich kenne. Zwar erwartete ich nicht, wie Mr. und Mrs. Shelfer, daß sich aus einer gekochten Raupe ein lebendiger Schmetterling entwickeln würde, und ebenso wenig glaubte ich mit Pächter Huxtable, daß Hagebutten und Mehlbeeren einen kalten Winter bedeuten, weil der liebe Gott sie für die Drosseln zur Nahrung bestimmt. Aber im Grunde wußte ich von den Gesetzen und Grundbedingungen der Natur nicht mehr als sie. Mein geringes Wissen war nichts als Flick- und Stückwerk. Ich wußte etliche Einzelheiten, aber was waren sie im Vergleich mit dem, was gründlich unterrichtete Leute erforscht haben? Meine Beobachtungen konnten mit Fug und Recht mein eigen genannt werden, aber anstatt mir allein zu gehören, waren sie fast sämmtlich schon vor Jahrhunderten festgestellt. Ich hatte nur wie ein wandernder Zigeunerbube das Feld durchstreift, das schon eine Armee vor mir durchforscht hatte.

Dies Alles argwöhnte ich schon, nachdem der Professor nicht zehn Minuten in meinem Zimmer geweilt hatte, und er ließ mich auch nicht lange in Zweifel darüber. Um gerecht gegen mich zu sein, muß ich sagen, daß ich mich nicht sehr darüber grämte. Meine kleinen Beobachtungen waren theils aus Interesse am Walten der Natur, theils aus Gewohnheiten, die einer dunkleren Quelle entsprangen, hervorgegangen. Jetzt waren sie mein Eigenthum, trotzdem Tausende sie mit mir theilten.

Als der Professor mir meine Unwissenheit und Irrthümer klarlegte und mir bewies, daß mein geringes Wissen aus zweiter Hand stammte – was sicherlich nicht der Fall war – da versuchte ich keine Entgegnung. Ich war zu jung, um zu streiten, und ich interessirte mich zu sehr für die Sache, um ungeduldig zu werden. So zerstückelte er gleichzeitig mein Wissen und meinen Schinken mit ebenso viel Vergnügen wie Eleganz. Er schien weder das Eine noch das Andere zu beabsichtigen, sondern that es nur so nebenbei und wie zufällig, während er in seiner geistigen Encyklopädie blätterte.

Endlich fühlte Isola, die der Vorlesungen müde war, wie sie deren täglich hörte und wieder vergaß, daß es höchste Zeit sei, mir zu Hülfe zu kommen.

»Nun, Papachen, Du glaubst Alles zu wissen, nicht wahr?«

Er war gerade auf die Moose übergegangen und ich wußte, daß er hier über Manches im Irrthum war, wagte jedoch nicht, es zu sagen.

»Isola, zu den vielen Dingen, die ich niemals entdecken werde, gehört auch die Methode, Dich in Ordnung zu halten.«

»Das wollte ich mir auch verbitten. Aber Papa, ich weiß noch Etwas, wovon Du Nichts verstehst. Wie lange Zeit hat dazu gehört, diesen köstlichen Schinken zu kochen? Clara und ich, wir wissen es Beide.«

»In Bezug auf diesen Gegenstand bekenne ich meine gänzliche Unwissenheit.«

»Hört, hört! Papa, Du hältst stundenlange Vorlesungen über isothermische Gesetze, Fluiden, Faserstoff und Fettablagerungen und kannst nicht einmal sagen, wie lange Zeit dieses zarte Fett der Siedehitze ausgesetzt werden muß? Nun will ich Dir Etwas sagen, Papa. Wenn Du mich wieder wie gestern vor den jüngeren Elevinnen ausschiltst, so rufe ich nur: ›Schinken, Papa, Schinken!‹ Und Du sollst sehen, wie die Mädchen Alle lachen.«

»Es ist nichts Neues für sie, Kind, über Dich zu lachen. Ich fürchte, Du wirst niemals etwas Anderes als Naseweisheit lernen.«

Er sprach diese Worte leichthin und bemühte sich, seine ganze Art und Weise damit in Einklang zu bringen, doch seine Augen straften ihn Lügen.

Isola rannte schnell zu ihm hin und bot ihm ihr nie fehlschlagendes Mittel dar. Sie war so holdselig, daß ihr Niemand widerstehen konnte. Als sie an ihren Platz zurückkehrte, winkte sie mir triumphirend zu und fuhr fort:

»Nun, Papa, wenn Du wieder gut bist, sollst Du auch etwas Schönes zu sehen bekommen. Clara wird Dir ihr Cordetto zeigen, nicht wahr, Liebste? Es ist doppelt so groß, wie das Deine und mehr als zweimal so hübsch.«

Ich nahm es von meinem Halse, wo ich es während meiner ganzen Krankheit getragen hatte. Isola sagte mir fortwährend, daß es mir die Sehkraft gerettet habe und denselben Glauben sprach auch die alte Cora aus, indem sie sich bekreuzigte und fünfzig Heilige anrief. Lange Zeit nachher erfuhr ich, daß Cora es für das Herz der heiligen Jungfrau hielt, welches für ewige Zeiten in das Material, das deren Gatte verarbeitet hatte, verwandelt worden war. Wenn dies der Fall war, so hatte es sich auch vervielfältigt.

Professor Roß nahm mein hübsches Cordis und besichtigte es genau, nachdem er damit an das Fenster getreten war, um ein besseres Licht zu haben.

»Es ist ohne Zweifel das schönste in ganz Europa,« sagte er endlich. »Ich habe nur eins gesehen, das damit zu vergleichen wäre, und das hatte einen Fehler im Mittelpunkt. Würden Sie sich davon trennen, Miß Valence?«

»Nein, ich habe versprochen, das nie zu thun.«

»Dazu darf ich Nichts sagen. Ich würde aber stolz gewesen sein, es in meine Sammlung aufzunehmen.«

»Es mit Dir herumzutragen, meinst Du, Papachen. Du weißt, daß Du trotz all' Deiner Gelehrsamkeit ein abergläubischer alter Papa bist.«

So schwach meine Augen noch waren, konnte ich doch einen finsteren Blick des Verdrusses in den seinigen sehen. Isola erschrak. Sie fühlte, daß sie zu weit gegangen war und wagte nicht einmal, ihm den Versöhnungskuß anzubieten. Der Gegenstand wurde nicht mehr erwähnt, und ich gab dem Gespräch eine andere Wendung. Als er aufstand, um fortzugehen, ersann ich jedoch einen Vorwand, um Isola bei mir zu behalten.

»Adieu für heute, Miß Valence,« sprach der Professor, sich mit seiner angebornen Grazie verabschiedend, die ihn nur beim Stirnrunzeln verließ. »Ich hoffe, daß Ihre erste naturgeschichtliche Entdeckungsreise meinem Hause gelten wird.

Ich kann Ihnen nicht viel zeigen, aber es wird mir Vergnügen gewähren, meine kleine Sammlung mit Ihnen durchzugehen, wenn Ihre Augen erst wieder kräftig genug sind. Inzwischen warne ich Sie ernstlich vor chemischen Experimenten (dies war die auf Onkel Johns Vorschlag von Mrs. Shelfer gegebene Erklärung meines Augenleidens), wenigstens, wenn Sie nicht einen befähigten Rathgeber haben. Adieu, Isola. Ich werde Dich durch Cora zum Thee abholen lassen. Deine Abwesenheit bei der Vorlesung soll entschuldigt werden.«

Trotz des großen Interesses, welches mir die von ihm besprochenen Gegenstände, wie seine Art, sie zu behandeln, einflößten, trotz meiner Bewunderung seines geistreichen und ausdrucksvollen Gesichts, athmete ich erleichtert auf, als er gegangen war. Er hatte gar keine Aehnlichkeit mit seinen Kindern. Sie besaßen ein so bescheidenes, einnehmendes Wesen, daß sie fast Jeder auf den ersten Blick liebgewinnen mußte. Sie gaben sich Mühe, zu gefallen, ohne daß man ihnen die Absicht anmerkte. Dem Professor hatte ich aber trotz seiner Feinheit und Höflichkeit angemerkt, daß er seine besten Geistesschätze zurückhielt und es verschmähte, damit hervorzutreten, wo weder ebenbürtige Gegner, noch nach seiner Meinung genügend befähigte Zuhörer anwesend waren. Trotz alledem hätte ich ihm Manches in Bezug auf Flechten und Moose sagen können, was ihm nicht bekannt sein mochte.

Als ich mit Isola wieder allein war, schien jene liebenswürdige akademische Schülerin keineswegs untröstlich über die Entfernung ihres Papas. Sie blickte zu ihm empor und war stolz auf ihn, aber es gab Zeiten, wo sie, wie sie mir sagte, ordentlich Furcht vor ihm empfand.

»Kannst Du Dir wohl vorstellen, liebste Clara, daß ich mich manchmal vor dem alten Papa fürchten möchte? (der alte Papa zählte etwa 44 Jahre). Ich weiß, daß es sehr Unrecht von mir ist, aber kann ich es ändern? Erging es Dir ebenso mit Deinem Papa als er noch lebte?«

»Wahrlich nicht. Ich möchte eher behaupten, daß er sich ein wenig vor mir fürchtete.«

»Oh, wie hübsch denke ich mir das! Aber es ist meine Schuld, nicht wahr?«

Ich hätte ihr nicht gut sagen können, selbst wenn ich es gewußt hätte, daß die Schuld in solchem Fall fast immer auf Seite der Eltern ist.



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