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Zehntes Kapitel.

Sehnsucht nach dem Licht.

 

» Ruhe bildet meine einzige Aussicht auf Genesung.« Welche Aussicht auf Ruhe kann ich aber haben, so lange ich im Unklaren über das bin, was ich in der vergangenen Nacht sah? Trotz meiner Blindheit steht mir ein Antlitz fortwährend vor Augen. Kein noch so dichter Schleier kann es mir verbergen. Inspektor Cutting ist noch im Hause. Ich will ihn sofort sehen.

Mrs. Shelfer macht Gegenvorstellungen. »Es wird Sie aufregen, meine Beste, der Doktor hat vollkommene Ruhe verordnet.«

»Gewiß, und um sie zu finden, muß ich mit Ihrem Onkel John sprechen. Lassen Sie ihn in meinem Wohnzimmer bleiben, öffnen Sie die Flügelthür ein wenig, und dann, Mrs. Shelfer, seien Sie so gut und gehen Sie hinunter.«

Ich höre des Inspektors Schritt, der diesmal nicht so schwer wie sonst ist. Er frägt nach meinem Befinden und spricht sein Bedauern aus. Ich bin ihm dankbar, weil er mich nicht daran erinnert, daß es nur meine eigene Schuld ist. Darauf bitte ich ihn flehentlich, mir, wenn er wünsche, daß ich jemals wieder sehend werde, Alles zu sagen, was er von den Männern weiß, die ich in der letzten Nacht gesehen habe. Solche Bitte kann er mir nicht abschlagen. Vorher jedoch höre ich, wie er nach der Treppe geht und dann vorsichtig die Thür des Wohnzimmers schließt. Viel weiß er selber nicht. Es sind Flüchtlinge, italienische Flüchtlinge; zwei politische und zwei gemeine Verbrecher, die augenblicklich eine Verschwörung gegen ihre Landesregierung leiten.

»Aber warum wollen Sie sie nicht verhaften?«

»Einfach, weil ich kein Recht dazu habe. Was die politischen Flüchtlinge betrifft, so bekümmern wir uns natürlich nie um dieselben. Die Auslieferung der beiden Verbrecher hat deren Regierung dahingegen nicht beantragt. Merkwürdig, nicht wahr? Für die beiden Kerle, welche Mord begangen, will ihre Landesregierung keinen Pfifferling geben, aber für die beiden Leute, welche nur ein wenig raisonnirt haben, hat sie die Summe von 1000 Pfund ausgesetzt. Ein solches System ist mir unbegreiflich.«

Und Inspektor Cutting saugt sich auf der Lippe – ich bemerke es an dem Ton; das thut er stets, wenn er über Etwas nachsinnt. Als ein echter Engländer weiß er nicht mehr von Sklaverei, als von der dunklen Hälfte des Mondes. Ich meine natürlich politische Sklaverei. Mit socialer Knechtschaft sind wir noch über zehn Generationen hinaus versehen.

»Würden Sie sich fürchten, sie zu verhaften? Sie sagten, es wären verwegene Leute.«

»Das werden Sie doch nicht von mir glauben? Sie haben freilich ihr Messer, Pistolen und all' den Kram. Aber es ist ihnen mehr um den Schein als um wirkliches Kämpfen zu thun. Sie sind verwegen, wo es Privathändel gilt, besonders wenn sie hinterrücks angreifen können, oder Frauen im Spiel sind. Aber wo es sich um offenen, ehrlichen Kampf handelt, da will ich lieber mit Dreien von der Sorte, als mit einem einzigen tüchtigen Irländischen Mörder zu thun haben.«

»Welche Beweise haben Sie gegen meinen Feind?«

Ich brauchte ihn nicht zu fragen, welcher es sei.

»Meine Beweise sind äußerst gering, eigentlich noch gar nicht so zu nennen. Ich bin aber kein Geschworener und vollständig überzeugt. Jenen Mann werde ich nicht aus den Augen lassen, bis ich seinen Verhaftsbefehl in der Tasche und die Sache klar habe. Genügt Ihnen das?«

Er sprach mit so aufrichtigem, stolzem Amtseifer, daß ich nicht umhin konnte, ihm zu glauben. Aber ob es mir genügte – warum hielt er seine Beweise vor mir geheim? »Ergreife ihn sofort,« war meine Idee, freilich eine hitzige und thörichte. Der Inspektor dachte dagegen: »Vor Allem muß ich die Beweise feststellen, ergreifen kann ich ihn dann jederzeit.« Das war der wesentliche Inhalt seiner Auffassung. Würde er ihn aber auch jederzeit ergreifen können?

Er verlachte die Befürchtung, daß dies irgend welche Schwierigkeiten haben könne. Der Mann konnte nach keinem Theile des Continents entfliehen, weil er ein politischer Verbrecher war. Das einzige Land, welches über des Inspektors Gerichtsbarkeit hinaus lag, war Amerika. Und dorthin konnte der Verbrecher nicht zu entkommen versuchen, ohne daß die Polizei ihm sofort auf den Fersen sein würde.

Jetzt war ich am Ende meiner Fragen. Waren meine Gründe auch noch nicht erschöpft, so fühlte ich doch meine Kräfte schwinden. Ich war zwar nur halb zufriedengestellt, aber ich mußte mich bescheiden. Wenn ich in meiner hülflosen Blindheit den Inspektor beleidigte, so verschwand die ganze Aussicht auf Erfolg. – Nur eine Frage blieb mir noch. »Warum hatte er mich dorthin geführt?«

Aus ganz vortrefflichen Gründen. Was den Einen der Verschwörer betraf, so war es äußerst wichtig, daß ich im Stande sei, ihn jederzeit wieder zu erkennen. In Bezug auf die anderen Drei hatte er seine eigenen Gründe, sich eine intelligente Zeugin zu verschaffen.

Ich dachte an die tausend Pfund und sagte nichts weiter. Inspektor Cutting war ein Engländer und in seiner Art stolz auf die englische Freiheit. Aber wie neun Zehntel seiner Landsleute glaubte auch er, daß nur das englische Volk versteht, was Freiheit ist. Was wußten solche Kerle davon? Sie würden doch nur so frei sein, sich gegenseitig die Kehle abzuschneiden. Ebenso wußte er auch, wie alle seine Landsleute mit wenigen Ausnahmen, nächst der Freiheit das Geld zu schätzen. Wegen unserer Liebe zu dem letzteren verhöhnen uns viele Ausländer. Wir Engländer können dagegen nur anführen, daß es bei uns die zweite Stelle einnimmt, bei ihnen aber die erste. Wir sind indessen so geartet, daß unser zweites Gefühl noch stärker ist, als ihr erstes.

Als der Inspektor fort war, faßte ich einen höchst vernünftigen Entschluß. Da es vorläufig doch Nichts mehr für mich zu thun oder zu erfahren gab, so sollte meine ganze Sorge der Wiedererlangung meines Augenlichtes gelten. Wenn ich bis an meinen Tod blind bliebe, so würde der Zweck meines Lebens verfehlt sein, und ich hätte ebenso gut gleich sterben können. Jetzt aber, nachdem ich den ersten Schreck und Schmerz überwunden hatte, besaß ich zu viel Courage, wie der Inspektor zu sagen pflegte, um gänzlich den Muth sinken zu lassen.

 

Am Nachmittag kam die liebliche Isola. Es war strenger Befehl gegeben, daß Niemand eingelassen werden solle, aber gegen Isola's Künste war Mrs. Shelfer nicht gewappnet.

»Sie lächelte so wunderschön, als ich die Thür öffnete, Miß; ich war ganz hingerissen. Und als ich ihr sagte, Sie lägen krank und stockblind zu Bette, weil Ihnen ein chemisches Zeug in die Augen gekommen sei, da liefen ihr zwei große Thränen aus den Augen, wie die Thautropfen aus ein paar Veilchen, Miß. Als ich sie zurückhalten wollte, da warf sie mir ihren Muff zu und sagte, den solle ich halten, wenn ich Lust dazu hätte. Ich möge schnell hinaufrennen und Ihnen sagen, daß sie käme, schnell, schnell!«

»Ja freilich, und da bin ich!« rief die fröhliche Stimme, welche ich so innig liebte. »Oh, liebste Clara, meine Clara!«

Die geliebte Kleine schlang ihre weichen, warmen Arme um mich, in gänzlicher Nichtachtung ihres Anzuges und an Nichts in der Welt denkend als an das geringe Theilchen derselben, welches sie umfaßt hielt. Ihr köstlicher Athem flog über meine fieberheiße Wange, ihre atlasglänzende Haut berührte meine brennenden Augenlider.

Welches lindernde Bad war mit dieser Kühlung zu vergleichen? Wie lange sie blieb, weiß ich nicht; ich erinnere mich nur noch, daß mir, während ich ihre Stimme hörte und ihre Berührung fühlte, die Blindheit nicht mehr als ein Leid erschien. Sie ernannte sich zur obersten Krankenwärterin, und was den Doktor beträfe, welcher Arzt könnte sich mit ihrem Vater vergleichen?

Sie wolle ihn so lange umschmeicheln, bis er morgen käme und seine Ansicht ausspräche. Dann möge der Doktor sich zu den Dingen scheren, die er verstehe, wenn er überhaupt etwas verstehe, was sie nicht glaube, da er gesagt habe, daß sie nicht kommen dürfe. Dann bewunderte sie meine Zeichnungen weit mehr, als sie es verdienten. Sie sagte, ihr Bruder Conrad müsse sie ansehen, er zeichne so gern und es gäbe gar Nichts, was er nicht könne. Leider müßte sie jetzt gehen, denn sie fürchte, die alte Cora sei des Wartens vor der Thür müde und sie selbst habe einen Vortrag über die chemische Verwandtschaft der Körper anzuhören. Was damit eigentlich gemeint sei, davon habe sie keine Ahnung, aber daran wäre auch nicht das Geringste gelegen. Einige von den klugen Mädchen sagten zwar, daß sie es wüßten, doch glaube sie ihnen nicht; solche Sachen zu verstehen, dazu gehöre sicherlich ein Mann. Morgen wolle sie ihre Arbeit mitbringen und den feinsten Schwamm, den man sich nur denken könne – in London sei er nicht zu kaufen; dann wolle sie dafür einstehen, daß ich in einer Woche im Stande sein würde, ihr Bild zu malen. Sie würde bei mir bleiben, bis es dunkel geworden sei und dann solle der Professor sie abholen, wenn er seine Vorlesungen geschlossen habe; er solle meine Augen untersuchen, denn er wisse Alles in Bezug auf Optik, Netzhaut, Sehstrahlen, Refraction und Aberration, sie könne sich nicht auf all' die Namen besinnen, aber davon sei sie fest überzeugt, daß dies nur ein Fall von optischer Täuschung sei und weiter nichts.

Wie wünschte ich, sie sehen zu können, als sie diese Meinung mit nicht geringer Wichtigkeit aussprach. Wie weise sie wohl dabei ausgesehen hat! Der Gedanke hieran reizte mich ebenso zum Lachen, wie die ganze unsinnige Idee. Ich fragte indessen nur, wie der Professor meine Augen untersuchen solle, wenn er erst im Dunkeln kommen könne.

Ja, daran hatte sie nicht gedacht. Sie war doch eine rechte kleine Gans! Aber sie wolle ihn bewegen, daß er am Morgen vor Beginn seiner Thätigkeit mit ihr käme, dann solle die alte Cora sie erst zum Thee wieder abholen. Sie hegte die feste Hoffnung, wenn sie ihren Papa nur dahin bringen könne, mir einen Vortrag in meinem Zimmer zu halten, derselbe solche Wirkung auf meine Sehnerven ausüben würde, daß an meiner sofortigen Herstellung nicht zu zweifeln sei, wenigstens wisse ich dann, wie ich mich zu verhalten habe.

Ganz entzückt von dieser Idee küßte sie mich, preßte mich an sich und lief dann davon, nachdem sie mir noch gerathen, den Muth nicht zu verlieren und die Binde nicht zu fest zu ziehen.

Die letzte Vorschrift war viel leichter zu befolgen, als die erstere. Isola hatte mich wunderbar belebt und mich auf das Zärtlichste gepflegt; aber jetzt, wo sie gegangen war, kam die natürliche Reaktion. Trotzdem ihr Anblick, wie man zu sagen pflegt, ein wahres Labsal für kranke Augen gewesen wäre, waren mir die Versuche, sie sehen zu wollen, welche ich nicht unterlassen konnte, nichts weniger als heilsam gewesen, wie ich schon zu fühlen begann. Und die Leere, als sie gegangen war, glich einem abermaligen Verlust des Augenlichtes.

Licht! Ein Heer von Gedanken durchblitzte mein Gehirn bei diesem kleinen Wort. Das flüchtigste, unfaßbarste Ding, welches dem Geiste begegnet, und demselben zu gleichgeartet, um begriffen zu werden – ist es der Flügel oder das Roß des Geistes? Nein, dazu ist es nicht flüchtig genug. Ist es die Nahrung des geistigen Lebens, die schon bereitet war, ehe das Leben da war, die Nahrung, welche die Blinden wohl empfangen, aber nicht kosten können? Dann wäre es weit besser, blind geboren zu sein. Ich kenne den Geschmack aus der Erinnerung. Hat die Schönheit den Weg zu mir verloren? Die mannigfachen goldenen Tinten des Himmels, das glänzende Licht des sonnigen Morgens, der sanft dahingleitende Mond, die große Fernsicht auf die Sterne (diesen weiten Vorhof zum Reiche Gottes) – soll dies Alles mir fortan verschwunden bleiben und Tag und Nacht eins für mich sein?

Oh Gott, dessen erstes Nahen das Licht war, Du füllest die Sonne und die Sterne, auf daß sie die strömende Fluth auf's Neue ausstrahlen, deren zartes Reich weder Spur noch Grenzen kennt. Licht, Du helle Seite des Lebens, Du tanzendes, blinkendes, strahlendes, glitzerndes, schmeichelndes Licht! Oh Gott, wenn ich leben muß, so mißgönne mir nicht einen Strahl Deines Seins!



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