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Erstes Kapitel.

Ein großer Verlust führt zu Gewinn.

 

Trotz der Arnikatinktur währte es einen Monat, bis meine Schnittwunden geheilt waren, wenigstens in so weit, daß ich den Zeichenstift führen konnte. Mr. Cutting war seinem Versprechen gemäß wiedergekommen und hatte mir, da er mich fiebernd vorfand, Etwas von seiner Meinung über meine Angelegenheit mitgetheilt, um mich zu beruhigen. Ob er das, was er mir sagte, wirklich glaubte oder nur vom ärztlichen Standpunkte aus handelte, darüber blieb ich im Unklaren.

Er sprach sich dahin aus, daß die That nicht um Geld oder sonstigen weltlichen Vortheil begangen sei, sondern aus Rache. (Hierbei mußte ich an Mrs. Daldy denken.) Um welcher Schuld willen die Rache verübt sei, das konnte Inspektor Cutting nicht errathen, oder er wollte mir gegenüber Nichts davon andeuten.

Außerdem meinte er, daß der Schlüssel zu dem Geheimniß nur in Italien zu finden sein würde, wo der Vergangenheit meines Vormundes sorgfältig nachgespürt werden solle. Die Idee, ihm die Wahrheit durch List oder Gewalt zu entreißen, gab der Inspektor sofort auf, als ich ihm den Charakter meines Vormundes geschildert hatte, obgleich er vollständig darin mit mir übereinstimmte, daß Mr. Edgar Vaughan, selbst wenn er schuldlos an dem Verbrechen sei, dennoch Alles wisse, was Bezug darauf hatte.

Auch dem anonymen Briefe aus London sollte keine Wichtigkeit beigelegt werden. In Rücksicht auf mein Mrs. Elton gegebenes Versprechen hatte ich den Namen der polnischen Dame nicht genannt, und Mr. Cutting bestand auch nicht darauf, weil meine Aussagen ihn überzeugt hatten, daß sie eine falsche Adresse gegeben und uns jetzt nicht helfen könne. Trotzdem wollte er in London, wohin neun Zehntel aller Ausländer strömen, die überhaupt nach England kommen, eine Ueberwachung anordnen. Ueberdies würden, wie er sagte, bald fast sämmtliche wanderlustigen und unternehmenden Fremden durch die für das nächste Jahr festgesetzte Weltausstellung nach London gelockt werden.

Mir freilich wollte es als ganz unnatürlich erscheinen, daß ein verruchter Mörder Sinn für Kunst und Wissenschaft oder nationalen Fortschritt besitzen solle, aber manche Fälle aus den unheimlichen Annalen, in denen ich zu schwelgen pflegte, im Verein mit der langjährigen Erfahrung eines von Jugend auf in Kriminalsachen bewanderten Mannes bewiesen mir gar bald meinen Irrthum.

Um mich mehr auf eine Stufe mit Betrug und Heimlichkeit zu stellen, that ich Etwas, das mir wie eine Schuld gegen meine Mutter und mich selber erschien. Ich wechselte meinen Namen. Meines Vaters zweiter Vorname war nach seiner Mutter »Valentine«. Diesen wählte ich in abgekürzter Form und nannte mich »Clara Valence«. So wurden mir der Wechsel der Anfangsbuchstaben und viele Umstände erspart. In der Nachbarschaft kannte ich Niemand außer Mrs. Elton, der ich, als ich ihr näher befreundet wurde, meine Gründe zum Theil erklärte. Mrs. Shelfer aber war entzückt über die Aenderung. Sie sagte, ihr Onkel John habe mich getauft, und mein jetziger Name klinge viel hübscher; auch erinnere er sie an den Valentinstag. Nichtsdestoweniger sehnte ich den Tag herbei, wo ich mich wieder »Clara Vaughan« nennen durfte.

Als ich ausgehen und meine Hand wieder frei bewegen konnte, war es Mitte November geworden. Meine erste Beschäftigung war, daß ich dem Inspektor Cutting die gewünschten Zeichnungen aufs Sorgfältigste anfertigte. Er versprach mir, die ganze Angelegenheit strenge für sich zu behalten, womit er, wie ich später erfuhr, Inspektor Cutting und Alle Diejenigen meinte, denen er Bericht zu erstatten hatte.

Das nothwendigste Erforderniß bestand jetzt für mich in Geld, um einen tüchtigen Kundschafter nach Oberitalien und anderen Gegenden auszuschicken, in denen mein Vormund vorübergehend seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Ich wußte, daß er sich abwechselnd in Pisa, Genua, Mailand und einem unbekannten kleinen Dorfe, das ich auf keiner Landkarte finden konnte, Namens »Calva«, aufgehalten hatte. Alles dies wußte ich nur aus den Geographiestunden, die mein Vater mir mitunter gegeben hatte, in denen er zu sagen pflegte: »Nun, Klärchen, zeige mir doch einmal, wo der Onkel Edgar ist.« Allen außer mir war es als seltsam aufgefallen, daß Mr. Edgar Vaughan nach so langem Aufenthalt in fremden Ländern keinen Diener, Major Domo, Courier oder sonst einen Anhänger, ja nicht einmal einen ausländischen Freund nach England und Vaughan Park mitgebracht hatte.

Die einzige Möglichkeit, mir die nöthigen Hülfsmittel zu verschaffen, lag nun in meiner unreifen und größtentheils selbst gelehrten Kunst. Ich stählte mich durch die Erinnerung, daß die Befähigung zur Malerei, soweit dieselbe in Geschmack und Kunstfertigkeit besteht, niemals in unserer Familie gefehlt hatte, wenn auch die hohe schöpferische Kraft uns versagt geblieben war. Auch die Liebe zur Natur, wie eine gewisse Beobachtungsgabe schien uns Allen angeboren zu sein. Die Zeichnungen meines Vaters waren, abgesehen von dem erwähnten Mangel, vollkommen, und in seinen Skizzen nach der Natur war jener Mangel noch weniger bemerkbar. Mein Großvater hatte unter den wenigen Kunstliebhabern seiner Zeit als ein geschickter Colorist gegolten. Was die Gewohnheit des Beobachtens betrifft, so beweist eine kleine, in der Familienchronik enthaltene Geschichte, daß einzelne Mitglieder unserer Familie sie schon vor sieben Generationen besessen haben.

Als König Karl sich im Herbste 1651 von dem Hause des Oberst Wyndham durch Hampshire und Sussex die Küste entlang schlich, wurde er mit seinen Getreuen in der Nähe des New Torest von der Nacht überrascht. Es war bald, nachdem er jenem scharfsichtigen Grobschmied glücklich entronnen, welcher bemerkt hatte, daß des Königs Pferd mit nordländischem Eisen beschlagen war. Obgleich er selber die Sache leicht nahm, wußten seine drei treuen Anhänger, daß eine Schwadron von Rundköpfen in der Nähe war und die einzige Aussicht auf Entkommen in größter Eile und nächtlichem Reisen bestand. Was sollten sie nun in der finsteren stürmischen Nacht beginnen? Sie befanden sich in einer nur schwach bewohnten Gegend, halb Wald, halb Haide, und hatten sich gänzlich vom Wege verirrt. Zwar fiel noch kein Regen und der Wind hatte sich in Erwartung des Regens gelegt, aber am Horizont leuchteten die Blitze schon von allen Seiten. Nur der König war zu Pferde, seine drei Begleiter zu Fuß. Sie blieben voller Furcht und Zweifel stehen, denn sie wußten nicht mehr, wo Norden oder Süden war. Plötzlich erspähte der Major Cecil Vaughan ein schwaches Schimmern, das ihm von Alters her aus den wüsten Ländereien um Vaughan Park bekannt war. Einem scharfen Auge konnte die Ursache dieses flüchtigen Scheines – ein Leuchten war es nicht zu nennen – kaum entgehen. Das bleiche Licht entströmte einer Art Flechte, die jetzt den Botanikern, doch nicht mir bekannt ist, denn die wüsten Ländereien sind seitdem urbar gemacht. Dieser Schein ist nur zu solcher Zeit sichtbar, wo sich besonders viel Elektrizität in der Luft angesammelt hat.

»Folgt mir nach, ich erkenne den Weg!« rief Major Vaughan fröhlichen Muthes.

»Wenn Ihr wahr sprecht, Mann,« sagte der König, »so habt Ihr Augen wie Schwerter.« Hierauf folgt im Original in eckigen Klammern der Einschub: »Was dies bedeutete, hätte ich als Kind gerne gewusst; nun aber weiß ich es.«

Der Major führte seine Gefährten meilenweit sicher durch die Dunkelheit, bis sie die Hütte eines einsamen Haidebewohners erreicht hatten, wo sie in Ruhe übernachteten.

Mein Ahnherr verrieth niemals, auf welche Weise er dies bewerkstelligt hatte. Vielleicht liebte er es gleich anderen Menschen zweiten Schlages Im Original: » as men of the second order«: ›wie Menschen aus der zweiten Reihe‹., sein überlegenes Wissen für sich zu behalten. Die Sache ist indessen ganz einfach zu erklären. Die äußerst sensitive Flechte wendet sich stets nach der Richtung des Sonnenlaufes, und deßhalb ist das darauf spielende Licht nur von Westen aus sichtbar. So lange er es also sehen konnte, (die Uebrigen sahen es gar nicht) wußte er, daß sie von Westen nach Osten zogen und sich also auf dem richtigen Wege befanden.

Nun aber wieder zu mir und meiner Geschichte. Ich legte die letzte Hand an meine Landschaft, eine Fels- und Waldpartie, nordwestlich von Tossils Barton und begab mich mit derselben auf den Weg, um mein Glück zu versuchen. Manche junge Dame von meiner Herkunft würde dieses Unternehmen für eine große Erniedrigung gehalten haben, aber mir erschien es durchaus nicht in diesem Lichte. So ging ich schnellen Schrittes denn – ich verabscheue den Omnibus und konnte eine Droschke nicht gut erschwingen – nach dem Laden eines bekannten Gemäldehändlers unweit Haymarket. Es war das erste Mal, daß ich mich in das Herz Londons hineinwagte, doch fand ich mich sehr leicht zurecht, da ich mir den Weg auf der Karte gemerkt hatte. Das Wetter war trübe und feucht, das Straßenpflaster schmutzig und schlüpferig. In den Fugen zwischen den Steinen war so viel Schmutz angehäuft, daß es war, als knete man mit den Füßen in einem Backtroge mit frischen Teigresten umher. Die Straßen und Plätze begannen sich in Nebel zu tauchen, und fast alle Leute hörte ich husten.

Der Gemäldehändler empfing mich höflich, eigentlich mit zu großer Höflichkeit, denn es lag Etwas wie Güte darin, und diese beanspruchte ich nicht von ihm. Ich wollte nur einen Handel mit ihm abschließen und weiter Nichts.

Er nahm meine unbedeutende Aguarellzeichnung und stellte sie in einen viereckigen Raum, der vielleicht eigens zu diesem Zwecke hergerichtet war, und in den das trübe Novemberlicht durch ein Glasdach fiel, welches wie ein Devonshirer Kamin geformt war. Darauf ging er wieder zurück, legte die Hände gegen einander und beschattete seine Augen damit, als wäre das Licht zu stark, während der Raum so dunkel war wie eine Gruft. Er schien verstimmt, daß ich allen diesen kleinen Manövern nicht meine volle Beachtung schenkte.

Mein thörichter Stolz begann sich zu regen, und ich sagte – wie ich etwa mit unserem Thorhüter gesprochen haben würde, nicht im mindesten verächtlich, denn dazu ließ ich mich nicht herab.

»Nun, Mr. Oxgall, es wird bald dunkel sein. Wie viel wollen Sie dafür geben?«

»Erlauben Sie, Miß, erlauben Sie nur noch einen Augenblick. Das Licht ist ein klein wenig zu stark. Ach, jetzt tritt der Pinselstrich hervor. Recht kräftig, aber nicht diskret genug. Noch ein Jahr Studium nöthig. Der Schatten ist zu voll und massiv, der Hintergrund etwas zu unbestimmt gehalten. Viel Gefühl für Natur, aber ungeübte Darstellung. Mehr Weichheit wäre zu wünschen. Trotzdem vielversprechend. Alle Fehler an der rechten Stelle. Höchst energische Hand, kein unsicheres Herumtüpfeln. Aber Wasserfarben sind jetzt im Preise herunter; es hängt viel vom Wetter und der Jahreszeit ab.«

»Wie so, Mr. Oxgall?«

»Heißer Sommer – und sie gehen reißender Weise ab. Bei Nebel, Schmutz und Kälte werden nur Oelgemälde begehrt. Entschuldigen Sie, Miß, ich bitte um Verzeihung, Ihr Name ist mir entgangen. Sie sprachen ihn nicht ganz deutlich aus.«

»Miß Valence,« sprach ich mit einem Nachdruck, der ihn aus seiner Ziererei aufschreckte.

»Miß Valence, Sie finden mich sehr umständlich. Das thun alle jungen Damen. Aber ich habe den Zweck vor Augen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und sie, wenn sie Talent zeigen, zu ermuthigen.«

»Ich danke Ihnen, ich bedarf keiner Ermuthigung. Ich weiß, daß ich ein wenig malen kann, wie Sie sehen. Der Nebel verstärkt sich und ich habe noch einen weiten Weg. Ich bitte um Ihr Gebot.«

Ich stieg durch mein entschiedenes und unabhängiges Auftreten um mehrere Stufen in seiner Achtung.

»Miß Valence, ich will Ihnen drei Guineen geben, obgleich ich Schaden dabei machen werde.«

»Dann geben Sie sie mir nicht,« sagte ich in meiner Unschuld.

Abermals stieg ich eine Anzahl Stufen höher. Wie wenig können die Männer aus der Welt die ungeschminkte Wahrheit begreifen!

»Miß Valence, ich bitte, mir die Bemerkung zu vergeben, aber Ihre Redeweise ist ebenso schroff, wie Ihre Malerei. Ich werde dieses kleine Stück auf alle Fälle nehmen, weil Charakter darin liegt. Würden Sie es mir verzeihen, wenn ich Ihnen einen guten Rath ertheilte?«

»Das würde ich nicht nur verzeihen, sondern Ihnen von Herzen dafür danken.«

»Nun denn; das Mangelhafteste an Ihrer Arbeit ist die Perspektive. Studiren Sie in einer Zeichenschule, wenn Sie eine in Ihrer Nachbarschaft haben, und halten Sie es nicht für unter Ihrer Würde, unschöne und steife Gegenstände zu zeichnen. Gebäude leiten am sichersten zum Erkennen der Perspektive. Ich kann nicht malen, ja, nicht einmal zeichnen, aber ich verkehre so viel mit großen Künstlern, daß ich wohl im Stande bin, Rathschläge zu geben.«

»Ich danke Ihnen. Haben Sie noch weitere gütige Winke für mich?«

»Ja, Ihr Strich ist hier und da zu hart. Halten Sie die Hand leicht, obgleich sicher, und Ihren Pinsel ein wenig feuchter. Sie besitzen Etwas, das nur angeboren, nicht gelernt wird. Ich meine eine sichere Hand und das Auge des Künstlers.«

»Glauben Sie, daß ich in Oel Etwas leisten könnte?«

»Das bezweifle ich nicht, aber es würde noch lange währen. Wenn der Ruhm Ihr Ziel ist, so widmen Sie sich der Oelmalerei, wenn Sie aber schnellen Ertrag anstreben, so bleiben Sie bei den Wasserfarben. Lassen Sie mir Ihre Adresse hier, wenn Sie Nichts dagegen haben, und bringen Sie mir Ihr nächstes Werk. Wenn ich dieses günstig verkaufe, so werde ich sehen, ob ich Ihnen künftig bessere Preise geben kann.«

Er nahm drei neue Guineen und drei neue Schillinge aus seinem Pult, wickelte sie zierlich in Silberpapier und überreichte sie mir. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß ich so stolz auf Geld sein könnte.

Leichten Herzens verließ ich den Laden. Ich hatte zwar mein Glück noch nicht gemacht, doch die Hoffnung auf künftige Erfolge gewonnen, was eine weit größere Freude gewährt.

Beim Heraustreten sah ich mit Besorgniß, wie dick und trübe die Luft geworden war. Der Nebel senkte sich schwer hernieder, und er glich jetzt einer Tusche von Gummiguttä Gummigutta (im Original: »gamboge«) bezeichnet ein Gummiharz und den daraus gewonnenen dunkelsenfgelben Pflanzenfarbstoff. Die in Europa gehandelte Ware kam historisch aus Siam und Kambodscha. Der Name Gamboge, woraus ›Gummigut‹ abgeleitet wurde, geht auf den Ländernamen Camboja (›Kambodscha‹) zurück. und Lampenruß. Sämmtliche Straßenlaternen waren angezündet, obgleich eine nicht bis zur anderen leuchten konnte, und jedem Laden entströmte ein schwacher Lichtstrahl. Das Pflaster war jetzt nicht mehr schlüpfrig, sondern klebrig und trocken, und eine durchdringende Kälte war eingetreten. Schon hatte es angefangen zu frieren. Aber wie anders war dieser Frost, als wenn die Erde in reines Weiß gehüllt ist, die Sterne am Himmel blitzen, und frischer Lebensmuth den Menschen erfüllt. Auf die meisten Naturen wirkt der frostige Nebel erlahmend, und sein naßkalter Hauch dringt bis ins Mark alles Lebendigen. Er überzieht alle Dinge mit einer starren Reifkruste, und oft verwandelt er sich in eisig kalten Regen.

Ehe ich den New-Road noch erreicht hatte, war der Nebel so dicht und dunkel geworden, daß ich aus Furcht, mich zu verirren, gern eine Droschke genommen hätte. Ich konnte aber keine sehen, und da ich mich endlich in einer der großen Verkehrsstraßen, dem Hampstead-Road befand, schritt ich schnell und tapfer vorwärts, bis ich in Camden-Town war, von wo aus ich den Weg genau kannte.

Langsam ging ich die College-Straße entlang, denn ich war ermüdet, und der Nebel war jetzt so dicht, daß jeder meiner Schritte gegen eine ockerfarbige Mauer gerichtet zu sein schien. Da hörte ich eine klagende und ziemlich wohllautende Stimme etwa Folgendes herleiern:

»Liebe christliche Brüder und Schwestern in dem Herrn, die Ihr ein mitleidiges Herz habt und Erbarmen mit unverdientem Elend fühlt, Euch Alle bitte ich flehentlich, einer verarmten Gattin und Mutter zu helfen, deren sieben unmündige Kinder in einer Dachkammer hungern und frieren. Drei davon liegen krank darnieder, und der unmenschliche Hauswirth droht, sie um ein paar Schillinge noch in dieser Nacht auf die harte Straße hinaus zu werfen. Ihr christlichen Seelen, mögt Ihr nie dereinst dem Hungertode nahe sein, wie es mir in dieser Nacht mit meinen sieben armen Würmern ergeht, während Andere in Ueberfluß schwelgen. Von Plymouth und Devonshire bin ich den ganzen Weg zu Fuß hierher gewandert, um meinen geliebten Ehemann in London aufzusuchen. Als ich in dieser christlichen Stadt anlangte, – Georgina, nimm den Pfennig auf – da war er mit dem Transport-Schiff Hippopotamus fortgeschickt, um sein Blut für Königin und Vaterland zu vergießen, und ich, der das Glück des Wohlstandes in ihrer ländlichen Heimat gelächelt, ich bin jetzt gezwungen, für meine Kinder das Brot auf der Straße zu erbetteln. Die allergeringste Gabe, ein Paar alte Schuhe oder ein abgetragenes Kleidungsstück, es wird mit dem innigsten Danke der Wittwe und Waisen angenommen werden. Mein ältestes Kind, gnädige Dame, von sieben die Aelteste, hat den Keuchhusten sehr arg – Georgina mache einen Knix vor der schönen Dame und zeige ihr Deine aufgebrochenen Frostbeulen.«

»Nein, ich danke,« erwiderte ich.

Kaum konnte ich die Frau durch den Nebel erkennen, doch machte sie mir den Eindruck, als ob sie früher bessere Tage gesehen habe, und der Gedanke an meinen eigenen Schicksalswechsel erfüllte mein Herz mit Theilnahme für sie. Wie konnte ich meine Dankbarkeit für das soeben erworbene Geld besser bethätigen, als indem ich einen Theil desselben an würdige Hülfsbedürftige spendete. Ich zog also meine kleine, elegante französische Börse hervor, ein Geschenk meiner theuren Mutter, und legte die drei neuen Schillinge in die Hand des armen Wesens, das in dem Rinnstein stand. Sie war zu überwältigt von Dankbarkeit, um im ersten Augenblick Worte finden zu können. Dann kam sie näher an mich heran, um mir ihre Segenswünsche zu sagen.

»Edle Dame, im Namen von sieben unschuldigen Kindern, die Sie in dieser Nacht vom Hungertode errettet haben, flehe ich zu dem mächtigen Gotte, der die Wittwen und Waisen in seinen allbarmherzigen Schutz nimmt! Möge Er aus seiner gnadenvollen Höhe den reichsten Lohn und Segen über Ihr Haupt –«

Schnapp – hatte sie mir meine Börse fortgerissen und war im undurchdringlichen Nebel verschwunden. Georginas rothe Fersen waren das letzte, was ich noch sah. Im ersten Augenblick konnte ich es nicht glauben, sondern dachte, der Nebel habe meine Sehkraft getrübt. Dann stürzte ich über den Weg, wobei ich beinahe unter die Hufe eines Pferdes gerieth und lief eine Nebenstraße hinab. Doch es war vergebliche Mühe. Nicht allein meine drei Pfund, auch mein halbes Baarvermögen waren hoffnungslos verloren. Ich hatte das Geld mitgenommen, um mir für den Fall, daß meine Landschaft einen Käufer finden würde, einen Kasten mit Farben auf dem Rathbone Platze zu kaufen, doch war ich durch den Nebel daran verhindert worden. Das Weib hatte mir die Börse fortgerissen, während ich dieselbe schließen wollte, wobei mir der Handschuh hinderlich gewesen. Alles war verloren, das Geschenk der theuren Mutter, mein erster Verdienst, Alles, Alles! Doch am meisten schmerzte mich die Gemeinheit des Diebstahls. Nichts verwundet ein jugendliches Herz so tief, als ein solcher gegen seinen Glauben an die Menschheit geführter Schlag.

Ich gestehe ohne Beschämung, daß ich (allein und verlassen in dem Nebel) mich gegen ein eisernes Gitter lehnte und bitterlich weinte wie ein Kind, denn ich war trotz meiner Schicksale und meiner Unerschrockenheit innerlich noch ein Kind; ja, ich war es vielleicht mehr, als andere Mädchen, die ihre ganze Kinderzeit im Spiel vertändelt haben. Inmitten meines leidenschaftlichen Thränenstromes, denn ich schluchzte in der That ganz laut, fühlte ich plötzlich, wie ein Arm sich leise um meine Taille legte. Ich fuhr, einen zweiten Diebstahl fürchtend, erschreckt herum und sah mich dem lieblichsten Antlitz gegenüber, das Menschenaugen je geschaut. Mit sanfter Zärtlichkeit und dem gewinnendsten Lächeln neigte es sich gegen mein eigenes, von bitteren Stürmen erregtes Gesicht.

»Geht es Ihnen jetzt besser, liebes Fräulein? Oh, weinen Sie doch nicht so. Ihr armes kleines Herz muß Ihnen ja brechen. Seien Sie doch nur wieder gut, und erzählen Sie mir, was Ihnen geschehen ist. Ich will Ihnen ja von Herzen gern helfen.«

»Sie können mir nicht helfen,« rief ich schluchzend, »mir kann Niemand helfen. Ich bin zum Unglück geboren und werde nichts Anderes erleben, bis ich sterbe.«

»Sagen Sie das nicht, Liebe; so etwas müssen Sie nicht denken. Mein Vater, der sich niemals irrt, sagt, daß es kein Glück und Unglück giebt.«

»Ach, der Ausspruch ist mir bekannt. So sprechen alle diejenigen, welche das Glück auf ihrer Seite haben.«

»Das ist mir noch niemals eingefallen, aber ich hoffe, daß dem nicht so ist. Doch jetzt sagen Sie mir, was Sie betrübt. Sie haben gewiß nichts Böses gethan, und mein Papa sagt, daß kein Mensch, der Niemand etwas zu Leide gethan hat, unglücklich sein kann.

»So, glauben Sie das? Ihr Papa ist ein Moralist. Ich will Ihnen einfache Thatsachen dagegen anführen.«

Und um meine Ansicht zu rechtfertigen, erzählte ich ihr meinen letzten Kummer und deutete meine früher erlittenen Schicksalsschläge an, von denen Geldverlust der geringste gewesen. Hätte es sich aber auch nicht um die Widerlegung des streitigen Punktes gehandelt, so würde ich ihr dennoch Alles gesagt haben, denn es war unmöglich, einem so lieben Geschöpfe Etwas zu verweigern.

»Ich kann es kaum glauben,« rief sie sehr nachdenklich und zog die winzigen Hände aus dem Muff. (Sie trug die hübscheste Pelzgarnitur, die ich je gesehen, und wie kleidete sie dieselbe!) »Es ist nicht denkbar, ich glaube sicher, daß sie es nicht so gemeint hat. Sie werden meine Ansicht theilen, wenn Sie sich erst Zeit zum Besinnen nehmen. Nein,« und sie sprach dies so weise, daß ich sie wie ein herziges Kindchen am liebsten abgeküßt hätte, »nein, Sie zu bestehlen, die Sie ihr eben erst mehr geschenkt hatten, als in Ihren Mitteln lag! Jetzt kommen Sie aber mit mir, liebes Fräulein. Sie sollen alles Geld haben, was ich besitze, obgleich ich nicht glaube, daß es annähernd so viel ist, wie Ihre verlorenen neun Pfund, und keinenfalls ist es neues Geld. Ich habe es nur nicht bei mir. Ich trage niemals Geld bei mir – wissen Sie, warum, Liebste?«

»Nein, woher sollte ich das wissen?«

»Ich will es Ihnen sagen. Weil ich es dann nicht ausgeben oder verschenken kann. Ich mache mir gar nichts aus Geld. Ich gebrauche es nicht, und ich kann es auch niemals lange behalten. Papa aber sagt, wenn ich ihm Weihnachten fünf Pfund vorzeige, so will er mir noch fünf darauf legen. Und wissen Sie, was ich dann thue? Ich verschenke die Fünf, und das Uebrige gebe ich für Papachen und Konrad aus.«

Dabei klatschte das lebhafte Ding sich vor Freude über die Aussicht in die Hände, ohne daran zu denken, daß sie mir soeben erst ihr ganzes Vermögen angeboten hatte. Plötzlich fiel ihr dies jedoch wieder ein.

»Jetzt aber will ich die fünf Pfund nicht mehr zu Weihnachten haben. Ich werde dem alten Papa lieber ein X für ein U machen, wie die Mädchen im College sagen. Das soll viel lustiger werden. Er wird es sich schon zu erklären wissen, denn er hat für Alles eine Erklärung. Sie sollen es bis auf den letzten Heller haben. Nicht wahr, Sie befinden sich jetzt wieder besser? Und nun sein Sie auch artig, und kommen Sie hübsch mit mir. Ich werde Sie ganz gewiß von Herzen lieb haben, und Sie sind so furchtbar unglücklich.«

Ich gab ihr ohne Zögern nach. Sie war so liebevoll und natürlich, daß ich ihr nicht widerstehen konnte. Wie ein freundlicher Sonnenstrahl war sie mir mitten im Nebel erschienen; ihr fröhliches Lachen umspielte mich und ihr Antlitz war lauter Licht und Wärme, doch sprach sich jene Heiterkeit darin aus, die einem Gemüth entsprang, das auch Thränen kannte. Ihre dunkeln Wimpern senkten sich fast nur im Schlafe über die seelenvollen veilchenblauen Augen. Alles an ihr war Leben, ein fröhliches, flinkes, warmes Leben, und ihr Herz empfand mit allem Lebendigen. Sie hegte Mitleid, Vertrauen und Bewunderung für Alle, und dennoch hing sie treu wie Gold an den Banden der Familie. Nie habe ich ein gleiches Gemüth angetroffen; es war die vollkommenste jungfräuliche Weiblichkeit, selbst in ihren Irrthümern, und deßhalb konnte ihr Niemand widerstehen. Mich, die ihr an Willenskraft und geistiger Stärke zehnfach überlegen war, konnte sie ganz nach ihrem Gefallen lenken – natürlich nur in Bezug auf alltägliche Dinge. Es war unmöglich, ihr zu zürnen.

Als sie mich einige Schritte weit geführt hatte (denn ich ging mit ihr – nicht um ihr Geld zu nehmen, sondern um sie sicher nach Hause zu begleiten) wendete sie sich plötzlich zu mir herum und rief:

»Oh, ich habe vergessen, mein liebes Herz, daß ich Sie nicht mit nach Hause nehmen darf. Wir haben eine neue Hausordnung bekommen. Wo aber wohnen Sie? Ich will Ihnen morgen meine kleine Börse bringen. Heute Abend werde ich keine Erlaubniß mehr zum Ausgehen erhalten. Sie sind so gütig, es mir zu sagen, nicht wahr? Leider bin ich verhindert, Sie sicher bis an Ihre Wohnung zu führen, mein Herzchen.«

Dies sagte sie mit der vollkommensten Protektormiene von der Welt.

Ich gab Ihr meinen jetzigen Namen und meine Adresse an; dann fragte ich nach der ihrigen.

»Ich heiße Isola Roß, bin siebzehn und ein halbes Jahr alt, und mein Papa ist Professor am College. Ich bin der alten Cora davongelaufen. Ich dachte es mir zu hübsch, so ganz allein im Nebel zu gehen. Nun werde ich aber tüchtige Schelte bekommen; sie können mir indessen nie lange böse sein. Einen Kuß, Schätzchen. Morgen sehen wir uns wieder.«

Sie tänzelte durch den Nebel davon, und ich ging traurig heim; doch mußte ich mehr an sie, als an meinen ernsten und betrübenden Verlust denken.



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