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Neuntes Kapitel.

Blind, völlig erblindet.

 

In der Morgenstunde träumte ich von Isola. Am jenseitigen Ufer eines breiten schwarzen Stromes sah ich ihr lieblich lächelndes Antlitz. Dichter Nebel entstieg dem Wasser, auf dem zwei Schwäne einen Hund bekämpften, und nur in flüchtigen Zwischenräumen konnte ich meinen Liebling erblicken. Sie winkte mir mit ihrer kleinen Hand und bat mich mit ihrem einschmeichelnden Lächeln, das Eisen und Gold erweichen mußte, doch zu meiner Isola hinüberzukommen. Vergeblich schaute ich mich nach einem Boote um, denn selbst im Traume wußte ich, daß ich nicht schwimmen konnte, und wenn ich es auch gekonnt hätte, so würde das Blei auf meinen Augen mich hinabgezogen haben. Deßhalb rief ich ihr zu, sie möge doch zu mir herüberkommen, und von dem Schrei erwachte ich.

Es schlug Zehn – ich zählte jeden Schlag der kleinen Uhr, die mein Vater mir einst geschenkt. Was hatte Mrs. Shelfer nur zu thun, daß sie mich noch nicht gerufen? Wie kam es, daß ich noch so spät im Bette lag, da ich doch sonst stets früh auf war? Und weßhalb schien die Sonne noch nicht in mein Zimmer? Ich wußte, daß es zehn Uhr Morgens war.

Ich tastete um mich her. Da lag ich in meinem kleinen Bett; der Splitter seitwärts vom Kopfende ritzte mir den Finger wie sonst. War ein so furchtbarer Nebel? Wäre das der Fall, so würden meine Hausgenossen mich gewiß davon benachrichtigt haben, denn sie wußten, daß ich den Nebel gern hatte. (Sie schlossen das wenigstens aus meinem lebhaften Interesse.) Suchend tastete ich nach dem Klingelzug, einer schwachen wollenen Schnur, welche beim jedesmaligen Anziehen zu zerreißen drohte. Ich zog mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft daran. Welche Freude! Die Glocke schlug an, wie Feuerläuten. Ich fiel erschöpft in die Kissen zurück, doch war ich entschlossen, Mrs. Shelfer gehörig meine Meinung zu sagen. Ich griff mir an den Kopf, um mein Haar etwas in Ordnung zu bringen; ich wollte, wenn Licht in die Stube dringt, mehr Clara Vaughan gleich sehen, um Mrs. Shelfer besser imponiren zu können.

Es lag Etwas auf meinem Kopf. Ich trug niemals eine Nachthaube, sie hätte mein langes schwarzes Haar nicht bergen können. Bin ich in einem Irrenhause? Soll mich dieser eiskalte Umschlag abkühlen? Kalt ist er und mein Gehirn ist so heiß. Es brennt wie der Reiche in der Hölle, dessen Qualen die Wasser des ganzen Wenham-Sees nicht lindern könnten. Während ich mich bemühe, die Binde zu lösen und fühle, daß sie triefend naß ist, kommt Mrs. Shelfer ich kenne ihren Schritt; aber kein Licht dringt vom Flur herein!

»Mrs. Shelfer, was soll das heißen?«

»Was denn, mein liebes gutes Herz? Ich habe Alles pünktlich befolgt, was mir aufgetragen worden ist. Sie hätten mir eine Straußen- oder Maraboutfeder an den Mund halten, mich hinaustragen und unter einen Stein mit meinem Namen und einem Vers darauf legen können, so war mir zu Muthe, als Onkel John Sie in der Nacht nach Hause brachte.«

»Ich glaube, ich bin noch im Traum. Aber ich weiß doch sicher, daß ich geschellt habe.«

»Das thaten Sie, Miß Valence, und nicht schlecht. Mein Gott, wie fuhr ich zusammen! Ein wahres Glück, daß Shelfer nicht zu Hause war; er ist so nervenschwach. Er hätte sofort in einen Schnapsladen gehen müssen. Nun aber, mein Herzchen, seien Sie auch gut und stehen Sie auf. Wenn Sie etwas gefrühstückt haben, wollen wir weiter davon sprechen, Miß Valence. Lassen Sie mich doch einmal nach Ihren Augen sehen. Onkel John sagt, sie wären schlimm und ich solle sie bedeckt halten. Ich erwarte ihn jede Minute. Jetzt wenden Sie sich zum Licht. Was für große Augen Sie doch haben. Himmel! wo sind Ihre langen schwarzen Wimpern?«

»Mrs. Shelfer, es muß ein seltsames Versehen vorliegen. Lassen Sie das Licht in die Stube.«

Ich hatte mich im Bett aufgerichtet und ihr Athem berührte meine Stirn.

»Licht, liebes Kind – mehr Licht kann ich nicht hereinlassen. Die Sonne scheint auf Ihr Gesicht.«

Ich fiel in die Kissen zurück und war unfähig, mich wieder aufzurichten. Die Wahrheit hatte mich, schon während sie sprach, durchzittert. Ich war stockblind. Ich riß die Binde ab und wünschte, das Herz möge mir brechen. Mrs. Shelfer versuchte mich zu trösten. Sie schien den Verlust meiner Wimpern tiefer zu beklagen als den meiner Augen, und ihre Trostworte galten mehr meinem Aeußern als meiner Sehkraft. Natürlich hörte ich nicht auf sie. Wann würde das Geschöpf mich nur allein lassen, damit ich meine Gedanken sammeln konnte?

Die gute kleine Frau that mir gleich darauf wieder leid. Ich bat sie innerlich um Vergebung, was konnte sie dafür? Wie komme ich arme Blinde dazu, mich über irgend Jemand zu beklagen, der es gut mit mir meint? Ich senke die Augenlider; ich fühle, wie sie herabfallen. Ich schlage sie auf, und ich fühle, wie sie sich heben. Ich wende die Augen geradeaus, nach seitwärts, ich öffne ein Auge und darauf wieder beide – es ist immer Dasselbe. Wie ich mich auch bemühen mag – ich sehe Nichts. Von nun an brauche ich keine Augenlider mehr.

Die Sonne scheint mir in das Gesicht. Ich kann ihre winterlichen Strahlen fühlen, obgleich meine Wangen naß sind. Was nützt sie mir? Ich habe den Dolch noch irgendwo, durch den mein Vater starb. Ich will versuchen, ob ich ihn finden kann.

Ich hätte schwören mögen, daß ich die Kiste sorgfältig in einer Ecke verborgen hatte. Doch stoße ich gegen meinen Waschtisch. Ach, jetzt habe ich sie, meine Schlüssel sind in dem obersten Schubfach meiner Kommode. Ich trage die Kiste an mein Bett und taste mich nach der Kommode hin. Schon vermag ich aus den mein Gesicht streifenden Sonnenstrahlen zu schließen, wohin ich gehe. Mit der Zeit werde ich noch den Instinkt der Blinden erhalten.

Was frage ich darnach? Die feige Liebe zum Leben raunt mir den armseligen Trost in's Ohr. Jetzt habe ich die Schlüssel Geschwind die Kiste geöffnet.

Endlich werfe ich den Deckel zurück. Der Griff der Waffe liegt zur rechten Hand. Ich bücke mich danach – und ergreife ein Stück Farbe. Ein schöner Instinkt! Ich habe meinen größten Malkasten gefaßt.

Oh, meine Farben, meine noch gestern so geliebten Farben, die Ihr die Natur nachahmt, welche ich niemals mehr sehen werde, meine heißen Thränen verwandeln Euch wahrhaft in Wasserfarben! Hat Gott meinen Augen auch die Sehkraft genommen – die Thränen hat er ihnen gelassen!

Der hervorbrechende Thränenstrom gewährt mir Erleichterung. Welches Recht habe ich zum Sterben? Und noch ehe ich weiß, ob mein Fall hoffnungslos ist! Wer kann wissen, ob diese lieblichen Tinten mir nicht noch einmal wieder strahlen werden? Vielleicht werde ich den glänzenden Carmin für die Rose, das zarte Grün des Maien noch wieder verwenden dürfen. Besänftigende Bilder tauchen vor mir auf. Ich stelle den Farbenkasten beiseite und suche mich wieder in den Kissen zu erwärmen.

Gleich darauf kommt der Doktor. Inspektor Cutting hat ihn gewählt und eine gute Wahl getroffen. Seine Stimme läßt mich erkennen, daß er ein Gentleman ist, aus seinen Worten und der Berührung seiner Hand schließe ich instinktiv, daß er den Fall richtig beurtheilt.

Nach beendigter Untersuchung sieht er, daß ich zitternd auf die Antwort harre, die ich nicht zu erbitten wage.

»Meine junge Dame, ich habe Hoffnung, starke Hoffnung. Es ist jedoch unmöglich vorauszusagen, welchen Lauf die Entzündung nehmen wird. Es liegt ein Schleier über dem äußeren Membranhäutchen, aber die Hornhaut ist unverletzt. Vollkommene Ruhe soweit dieselbe bei einem solchen Falle möglich ist, kalte Compressen und Ausschluß des Lichtes sind die einfachen Heilmittel. Alles Uebrige muß der Natur überlassen bleiben. Beobachten Sie die strengste Diät. Verweigern Sie Ihren liebsten Freunden den Zutritt, wenn sich dieselben nicht ganz stille verhalten wollen. Selbst in dem Falle ist es aber besser, wenn sie fern bleiben, Sie müßten sich denn über Ihre Einsamkeit abhärmen.«

»Oh nein, daran bin ich vollständig gewöhnt.«

»Das ist gut. Ich werde pünktlich jeden Tag bei Ihnen vorsprechen, Ihre Augen indeß nicht jedes Mal untersuchen. Die Erregung und Anstrengung würde die Sehnerven überreizen. Wir müssen nur darauf hinwirken, daß die Entzündung nicht nach innen schlägt. Ich würde Ihnen dieses Alles nicht sagen, wenn ich nicht sähe, daß Sie viel Selbstbeherrschung besitzen. Von dieser, wie von Ihrer Constitution hängt nächst der Vorsehung die Heilung ab. Noch eine Frage. Ich bin kein Spezialarzt für Augenkrankheiten, würden Sie auch einem Solchen den Vorzug geben?«

»Theilen Sie mir gütigst Ihre Ansicht darüber mit.«

»Es ist ein delikater Punkt für mich. Eine Operation ist nicht vorzunehmen. Es ist ein medicinischer, kein chirurgischer Fall. Auch habe ich den gleichen Zustand schon früher behandelt. Wären Sie mein eigenes Kind, so würde ich keinen Augenarzt hinzuziehen, aber da Sie mir fremd sind, wünsche ich, daß Sie selber darüber entscheiden.«

»Nun denn, ich wünsche keinen. Ich habe vollständiges Vertrauen zu Ihnen.«

Er schien erfreut und verabschiedete sich.

»Mit Gottes Hülfe, Miß Valence, wird es nicht gar lange währen, bis Sie mir in das Gesicht sehen können.«



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