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Zwanzigstes Kapitel.

Ein schöner Markknochen.

 

Würde Conrad aber auch, wenn er erfuhr, wer die Pflegerin seines Hundes war, dieselbe zärtliche Dankbarkeit und Freude empfinden, die er jetzt so rückhaltslos kund gab? Würde er mir dann noch täglich wie jetzt mit Eifer versichern: »Miß Valence, ich glaube, es giebt auf der Welt nicht Ihres Gleichen!« Würde er nicht am Ende sagen: »Miß Vaughan, wie schmählich haben Sie mich getäuscht! Komm, Guidice!« Ein Pfiff, und der letzte Wiederhall der Tritte, nach denen ich jetzt stundenlang erwartungsvoll lauschte, – dieser Gedanke verließ mich fortan nicht mehr. Er vergiftete und verbitterte mir alle meine glücklichen Momente. Was sollte ich thun? Wie unweiblich, wie anmaßend war es, mir einzubilden, daß er sich meinetwegen zu Tode grämen würde. Sollte ihm aber das Herz doch darüber brechen, so würde auch das meine daran verbluten. Ich bin keines jener Salondämchen, welche jeden Sonntag Nachmittag eine Liebeserklärung erhalten und später nicht mehr, oder noch nicht einmal so viel daran denken, wie an die Predigt. Ich kann nicht wie sie gleichgültig mit den Blumen am Abgrund der Liebe tändeln und meine Verehrer kaltblütig hinunterstürzen, ein halb erschlossenes Herz feilbieten, das von keiner Liebe gewonnen, von keinem Seufzer erweicht werden kann. Nein, hier bin ich, wie ich aus des Schöpfers Hand hervorgegangen; kein Feilschen um Gefühle, kein Wucher mit meinem Herzen – ganz und ungetheilt will ich es hingeben und mein Leben dazu!

So muß jedes warmfühlende Mädchen empfinden, das sich selber erzogen hat. Ja, ich möchte trotz meiner Unerfahrenheit behaupten, daß jedes warmfühlende Mädchen so empfinden muß, mag noch so viel an ihr herumgezirkelt und gemodelt worden sein. Dennoch sagen mir Diejenigen, welche die Welt kennen, daß neun Zehntel unserer jungen Damen nicht so denken. Wenn sie im hohlen Treiben der Gesellschaft einen Demantstein der Speise vorziehen, so mögen sie ihn nehmen und dabei verschmachten. Sie selber haben in ihrer Verblendung danach gepickt, keine Vogelmutter kann ihr Junges zwingen, einen glitzernden Kiesel zu verschlucken. Ich weiß nur so viel, daß ich weder mich noch ein Kind auf diese Weise für das ganze Leben abspeisen werde.

Wie stets nach jedem kleinen Aufschwung meines Geistes, jedem schwachen Flug meiner Phantasie, trat auch jetzt die entmuthigende Reaktion sofort bei mir ein. Hatte ich denn überhaupt an etwas Anderes zu denken, als zu malen und Geld zu verdienen, um möglichst schnell nach Italien reisen zu können?

So wenig ich im Stande war, die Kosten einer solchen Reise zu berechnen, so sah ich doch ein, daß mindestens hundert Pfund dazu nöthig sein würden. Eine riesige Summe! Durfte ich sie jemals zu erwerben hoffen, selbst wenn ich Tag und Nacht malte und nur von Brod und Wasser lebte? Auf diese Diät oder, was in London gleichbedeutend damit ist, auf Brod und Milch, hatte ich mich schon beschränkt, weil ich den festen Entschluß gefaßt, wöchentlich zwei Pfund zurückzulegen. Dem Fleisch hatte ich schon von dem Augenblick an, wo mein Devonshirer Schweinefleisch aufgezehrt war, Valet gesagt, und was mir noch viel schwerer geworden, auch meinem Glase Londoner Stout! Ich vermuthe, daß mein Geschmack entsetzlich ordinär ist, aber ich kann nicht verhehlen, daß mir das Getränk, welches Mr. Dawe »ein schwarzes Gebräu« nannte, sehr zusagte. Dennoch gab ich es mit jeglichem anderen Luxus auf und befand mich um kein Jota schlechter dabei. Das gute Frauchen, dessen » Summum bonum« nächst den Staatsmöbeln in gutem und reichlichem Essen bestand, nahm es sich sehr zu Herzen, daß ich so mäßig lebte.

»Aber Miß Valence, Sie sind die sonderbarste junge Dame, die mir je vorgekommen ist. Alle, die ich in meinem Leben gesehen habe (und ich habe Viele gesehen), die nahmen ein Krümchen so zierlich auf, als wenn ein Kanarienvogel nach einem Hanfkorn pickt, aber nur, wenn Herren dabei waren. Sah ihnen aber Niemand zu, so kauten sie darauf los, wie ein Rudel Schweine, die über eine Kartoffelmiete herfallen. Aber Sie, Du meine Güte! Die große Bestie von einem Hund füttern Sie mit allem Fett, das nur aufzutreiben ist, während Sie selber an einer Brodrinde zehren. Nun seien Sie aber ein gutes Kind und kommen Sie hinunter. Ich habe ein tüchtiges Stück Rindfleisch mit Klößen auf dem Feuer und dazu herrliche Pastinaken, Sie können sie schon auf der Treppe riechen, meine Beste, und der Schelm von Charley wird heute nicht nach Hause kommen. Er ist mit dem Gauner Bob Ridley zusammen. Den Jungen mit dem Stout erwarte ich jede Minute, und er bringt eine große Kanne für Sie mit. Wenn Sie also nicht herunter kommen, so bleibt mir jeder Bissen im Halse stecken, und dabei bin ich so hungrig.«

»Auch ich, Mrs. Shelfer, Ihre Worte haben es bewirkt.«

In ihrer Erregung erhob sie sich von der Stuhlecke, auf der sie stets zu balanciren pflegte, wenn ich sie zum Sitzen einlud. Sie fand es respektwidrig, zu viel Platz einzunehmen.

Hier muß ich ein Wort für Guidice reden, damit Niemand schlecht von ihm denkt. Mag man von mir denken, was man will, ich kann mich schon vertheidigen, wenn es mir der Mühe werth ist. Das kann Guidice freilich auch, aber nur mit den Zähnen; er hat das herrlichste Gebiß in ganz London. Allerdings bekam Guidice seine gute Kost, und er erfreute sich von Herzensgrund daran. Der Hund wußte ein saftiges, mürbes Stück Fleisch, das knusperig war und doch auf der Zunge zerging, so gut zu schätzen, wie ich selber, und er liebte Knochen, durchsichtigen Knorpel und weiße Sehnen, welche ich wegen meiner untergeordneten Konstitution nicht so zu würdigen weiß. Dies Alles war aber kein seelischer Hang von ihm, und sein innerer Werth litt nicht darunter. Er hatte, so gut wie wir Alle, die Etwas werth sind, ein alter ego, einen höheren Sinn, welcher sich weder tödten noch unterdrücken ließ. So kam das brave Thier, ehe es sein Frühstück oder Mittagbrot anrührte, stets erst zu mir und bat mich, soviel davon zu vertilgen, wie ich mochte, da für ihn doch noch genug übrig bliebe.

In meinem Eifer, die langsam wechselnden Monde ein wenig zu beschleunigen, that ich Etwas, das ich selbst in jenen Tagen nicht vor mir selber gut heißen konnte. Ich schrieb an Sally Huxtable und ließ Mr. Dawe um Erlaubniß zum Verkauf meines Cordis bitten. Der Professor Roß hatte mir nicht weniger als zehn Guineen dafür geboten. Nach meiner ersten Antwort hätte er mir als Gentleman das Anerbieten eigentlich nicht stellen dürfen. Aber die von Sammlern fälschlich als »Liebe zur Wissenschaft« bezeichnete Leidenschaft läßt sie die Schicklichkeit mit dem dehnbaren Maß ihrer Wünsche messen. Ich war indessen nicht so verblendet in Bezug auf Recht und Unrecht, daß ich beabsichtigt hätte, das ganze Geld für mich allein zu behalten. Ich bot Mr. Dawe die Hälfte der Summe, im Fall das Spielzeug verkauft würde.

Ich wußte keinen rechten Grund dafür, aber ich konnte den Gedanken eines Handels mit dem Vater Conrads nicht ertragen, so weit die Beiden in meinem Geiste auch von einander getrennt waren. Ich wünschte fast, daß Beany Dawe mir trotz der schweren Versuchung einen Abschlag geben möge.

Jetzt war die Zeit beinahe herangerückt, wo ich Nachrichten von Tossils Barton erwarten durfte. Meine liebe Sally mußte die zwölf Schreibehefte (wöchentlich eines) nachgerade vollgeschrieben haben. Ehe die Zeit ganz verstrichen war, kam auch der erwartete Brief. Die Nachrichten, welche er enthielt, will ich aber erst mittheilen, nachdem ich von meinem kurzen Besuch George Cuttings bei seiner Tante Patty gesprochen habe. So nannte er Mrs. Shelfer, die eigentlich seine Cousine war. Obgleich mir mit so großer Bestimmtheit gesagt worden, daß mein Feind nicht entkommen könne, war ich hiervon durchaus nicht überzeugt, und zuweilen in recht besorgter und verzweifelter Stimmung. Deßhalb ging ich in die Küche, um mit des Inspektors Sohn zu sprechen und bat Mrs. Shelfer, mir eine kurze Unterredung mit ihm zu erlauben. Er stand mir die ganze Zeit recht schüchtern und verlegen gegenüber. Von seinem Vater hatte er keine Nachrichten erhalten, seitdem das Schiff in See gegangen; in der Zeitung hatte er aber gelesen, daß irgendwo eine Begegnung mit einem anderen Schiffe stattgefunden habe. Später berichtete er mir, daß der Bewußte noch sicher in London sei (der Gedanke jagte mir das Blut wie glühende Lava durch die Adern), denn im anderen Falle würde ich Nachricht erhalten haben. Er, George Cutting, und zwei Mitglieder der Geheimpolizei ließen ihn nicht aus den Augen; aber was seien die im Vergleich mit seinem Vater! Dies sagte er trotz seiner Schüchternheit mit einem Stolz, der mich auf die Vermuthung brachte, daß die Familie Cutting zu den Familien gehörte, welche nur ihre eigenen Mitglieder bewundern.

Auf mich (die ich keine geborene Cutting bin) machte er nur den Eindruck, daß das von seinem Vater gepriesene Licht sich noch unter einem Scheffel befand. Essen konnte er, wie seine Tante Patty erklärte, dreimal so viel wie Charley. Wahrscheinlich trank er dafür nur ein Drittel von Charley's Maß.

Mrs. Shelfer, welche wußte, daß ich wöchentlich eine bestimmte Summe zurücklegte, hielt mich nachgerade für eine grundgeizige Person. Natürlich ging sie auf die Ideen, welche sie bei mir vermuthete, ein, denn sie widersprach nie Jemand, außer einem Droschkenkutscher.

»Oh, wie liebe ich das Geld, meine Beste! Gold, Gold, das ist doch wunderschön! Habe ich Ihnen schon die Geschichte von meinem Markknochen erzählt?«

»Von welchem Markknochen, Mrs. Shelfer?«

»Nun, es war ein großer Rindsknochen, so lang und ganz mit Goldstücken angefüllt, den ich nach meinem Dienst bei der seligen Miß Minto besaß. Ich hatte ihn mit einem Pfropfen und einer Blase darüber geschlossen und ein Jahr hindurch (so lange währte die Testamentsvollstreckung) verbarg ich ihn Nachts unter meinem Kopfkissen, aus Furcht, daß der Priester ihn finden könnte. Himmel, wie stritten sie sich über den Nachlaß der alten Dame, jener vertrocknete Priester und die drei gelben Raubvögel von Vettern, wie sie sich nannten, die von Portugal gekommen waren. Endlich erhielten sie eine Administrations-Ermächtigung und mich haben sie ganz schändlich betrogen, meine Beste, ganz schändlich. Zur Messe bin ich nie wieder gegangen, das sollte mir fehlen!«

»Und was wurde aus dem Markknochen, Mrs. Shelfer?«

Auf diese Frage blinzelte sie mit den Augen und zog ihren kleinen Mund zusammen.

»Oh, was der Pater Banger doch für ein Spitzbube war! Sie müssen wissen, Miß, ich hatte von Miß Minto kurz vor ihrem Ende strengen Befehl erhalten, ihn nicht einzulassen, weil er ihre Lieblingskatze Filippina die Treppe von oben bis unten hinunter gestoßen hatte, nachdem er ihr die letzte Oelung gegeben. Wie hübsch war es doch anzusehen, wenn die sieben Kätzchen um das Feuer herum saßen, jedes auf seinem eigenen Schemel, worauf sein Name in bunter Wolle gestickt war. Sie hat mir für alle ihre Katzen in der Bank von England eine Jahresrente ausgesetzt, die ich auf den Tag ausbezahlt bekomme, und dazu die Anweisung, wöchentlich die Diät zu verändern. Jetzt aber ist nur noch eine davon übrig geblieben, mein alter lieber Tom.«

»Aber der Markknochen, Mrs. Shelfer?«

»Jawohl, meine Beste, ich will es Ihnen gleich erzählen. Na, wie aber hat der Pater Banger sich wieder in das Haus zu schleichen gewußt, um das Geld der alten Dame für den Bau irgend einer Schule oder eine sonstige Schlechtigkeit zu erlisten? Er wußte, wie die gute alte Seele die Katzen liebte. So borgte er sich denn irgendwo eine Katze und nahm zwei Jungen an; die mußten einen Strick um ihren Leib schnüren, sie über das Souterraingitter hinablassen und sie immer hin und her schwenken. Natürlich miaute und winselte das arme Ding ganz fürchterlich. ›Laufe hinaus, Patty,‹ sagte meine arme Herrin, und sie konnte kaum noch sprechen, ›oh, Patty, da wird schon wieder eine arme Katze von einem grausamen Engländer gemartert.‹ So rannte ich denn vor das Souterrain hinaus, und in demselben Augenblick kommt auch der Pater Banger, der sich gegen die Mauer gedrückt hatte, mit einem großen Bogen Papier herein, und sofort fängt er an, eine lange Liste von allen Sachen im Hause aufzusetzen. Ich brachte die Katze zu Miß Minto, und sie war so erfreut! ›Wenn der liebe Gott mich nur noch ein paar Tage leben läßt, bis eine Katholikin aus diesem armen, ketzerischen Dinge geworden ist‹ (sie bekehrte ihre Katzen immer gleich), ›so soll sie auch einen Schemel und eine gute Jahresrente haben.‹ Am andern Tage jedoch war es mit der Aermsten vorbei.«

Die kleine Mrs. Shelfer empfand ein solches Grauen vor dem Tode, daß sie gleich manchen alten Völkern seinen Namen durch mildernde Umschreibungen vermied. Sie war niemals krank gewesen, und ein wenig Seitenstechen konnte sie tagelang ängstigen. Wenn ich unseren großen unvermeidlichen Freund, dem wir uns mit so viel Mühe zu entfremden trachten, mitunter meiner Gewohnheit gemäß ruhig erwähnte, so sprang Mrs. Shelfer mit einem Schrei des Entsetzens von ihrem Sitz empor.

»Oh, nicht doch, meine Gute, nicht doch! Wie können Sie so sprechen! Lassen Sie uns so lange leben, Miß Valence, wie wir können, ohne an so schreckliche Dinge zu denken. Sie machen Einem ja das Blut in den Adern gerinnen.«

»Aber Sie wissen doch, Mrs. Shelfer, daß wir Alle sterben müssen.«

»Gewiß, meine Beste, gewiß. Aber wir brauchen die Sache doch nicht dadurch zu verschlimmern, daß wir daran denken. Ich begegnete heute dem Dr. Franks, der sagte zu mir: ›Mrs. Shelfer, ich muß gestehen, Sie sehen jünger denn jemals aus,‹ und der ist ein sehr gescheidter Mann, ja, ja. Ich habe auch noch kein graues Haar auf dem Kopfe, und mein Vater ist 88 Jahre alt geworden.«

»Und wie alt sind Sie jetzt, Mrs. Shelfer?«

»Oh, ich kann es nicht genau sagen, Miß Valence, ich schreibe es nicht an. Sprechen wir von etwas Anderem. Haben Sie schon gehört was heute zwischen Tom und Guidice vorgefallen ist?«

Ach, die arme kleine Frau! Diesmal will ich aber nicht moralisiren. Werde ich jemals die Geschichte von dem Markknochen zu hören bekommen? Jetzt habe ich erfahren, daß ein herrenloser Hund eingedrungen ist und den Markknochen mit sämmtlichen Goldstücken fortgeschleppt hat. (C. V. 1864.)



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