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Achtes Kapitel.

Eine gefährliche Inspektion.

 

Inspektor Cutting gab mir genaue Instruktionen, und noch vor Ablauf einer halben Stunde waren wir für unser Unternehmen völlig gerüstet. Ich war in einen weiten grauen Mantel mit einer Kaputze gehüllt und mit einem sorgfältig verborgenen Dolche bewaffnet. Ich hatte mir denselben indirekt vom besten Messerschmied in London verschafft, aber weder die Arbeit noch das Material kamen in Güte der italienischen Waffe gleich.

Die Nacht war finster und kalt, die Straßen beinahe menschenleer, und alle Läden geschlossen außer den Apotheken und Wirthshäusern. Wir gingen direkt auf einen Droschkenstand zu, wo Mr. Cutting einen Wagen annahm; nachdem er mir hineingeholfen hatte, setzte er sich auf den Bock zum Kutscher. Ich wußte noch so wenig in London Bescheid, daß ich, als wir um mehrere Ecken gebogen waren, nicht mehr ahnte, welche Richtung wir einschlugen. Mein Führer, ein gesetzter, achtbarer Mann und Vater erwachsener Kinder, flößte mir jedoch solches Vertrauen ein, daß ich in dieser nächtlichen Fahrt mit ihm durchaus nichts Unpassendes sah. Wäre mir aber selbst ein solcher Gedanke aufgestiegen, so würde ich es wahrscheinlich trotzdem gethan haben. Stets, seitdem er mich verwundet, oder vielmehr, hatte geschehen lassen, daß ich mich verwundete, war er äußerst rücksichtsvoll, gütig und ehrerbietig gegen mich gewesen, obwohl er es mitunter für seine Pflicht hielt, mein Ungestüm zu unterdrücken.

Mit vollständig reger Wahrnehmungskraft bemühte ich mich, durch die Fensterscheiben irgendwelche Merkzeichen des Weges zu entdecken. Einmal hielten wir fünf Minuten lang bei einer Polizeistation in Clerkenwell an, wo ich beim Licht der Laternen, ohne die Droschke zu verlassen, die grausigen Beschreibungen aller unlängst in London aufgefundenen Leichen las, die noch nicht identificirt waren. Hierauf begann mein Muth ein wenig zu schwinden, und es schien mir, als habe die Kälte zugenommen. Die Buchstaben waren aus dieser Entfernung schwer zu lesen, und die Langsamkeit, mit der ich die Worte zusammenfand, ließ meiner Einbildungskraft freies Spiel.

Jetzt erschien der Inspektor wieder, aber in Anzug und Mienen so verändert, daß ich ihn nicht erkannte, bis er sich vor mir verbeugte. Mit einem ermuthigenden Blick und einem gutgelaunten trockenen Lächeln stieg er wieder auf den Kutschersitz.

Nach einer abermaligen längeren Fahrt, die zum Theil über einen hölzernen Damm führte (wahrscheinlich High Holborn), hielten wir in einer breiten, doch verödeten Fahrstraße an, die sehr mangelhaft beleuchtet war. Hier öffnete Mr. Cutting den Schlag, half mir heraus und lohnte die Droschke ab, doch flüsterte er dem Kutscher Etwas zu, ehe er ihn fortfahren ließ.

»Darf ich jetzt um Ihren Arm bitten, Miß Valence? Ich habe schon manche Dame von noch höherer Geburt geführt.«

»Vielleicht von höherem Titel, Mr. Cutting, während ihre Großväter möglicherweise Wucherer oder noch Schlimmeres waren.«

»Das weiß ich nicht zu sagen; wir müssen die Dinge nehmen, wie wir sie finden. Ich glaubte, Sie verachteten solchen Unsinn. Der Kohl, welcher in Saat schießt, ist der höchste im Feld. Aber kein Engländer erkennt den Unsinn dieser Vorurtheile, er sei denn zufällig ein Geheimpolizist oder ein Todtengräber.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Menschen von hoher Abkunft schlechter sind, als die Niedriggeborenen?«

»Das will ich nicht behaupten. Aber ich meine, daß sie besser sein sollten und es im Ganzen genommen nicht sind. Die Natur hält die Wage, und in beiden Schalen liegen Versuchung und Erziehung; ich halte erstere für schwerer wiegend. Jedenfalls möchte ich lieber einen tüchtig betrunkenen Wegarbeiter als einen Lord zur Polizeistation abführen, das heißt natürlich, wenn das bei meinem Range vorkommen könnte.«

Diese kleine Abhandlung war darauf berechnet, meine Gedanken zu zerstreuen. Ich antwortete nicht, weil ich in Bezug auf solche Sachen unwissend war und auch nicht darüber zu sprechen liebte. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß Inspektor Cutting sich irrte. Als wir in eine enge Gasse einbogen, wendete er sich plötzlich zu mir herum und blickte mich an.

»Armes Kind! Wie Sie zittern! Ziehen Sie Ihre Kapuze mehr in's Gesicht, die bitterliche Kälte erfordert es. Zittern Sie vor Furcht?«

»Nein, nur vor Kälte.« Aber ich bemühte mich umsonst, daran zu glauben.

»Ihre Aufgabe erfordert eine sichere Hand Und feste Nerven. Wenn Sie sich auf diese nicht verlassen können, so sagen Sie es sofort. Fünf Minuten später wird Ihnen kein Rückzug mehr möglich sein.«

»Mir wird gleich wieder besser sein. Mich friert nur so sehr. Herr Inspektor Cutting, wir müssen starken Frost haben, mindestens zehn Grad.«

»Es friert nicht im geringsten. Ich sehe, wir müssen Ihnen etwas Wärmendes verschaffen. Aber lassen wir den Inspektor Cutting, bitte, bis morgen bei Seite.«

Darauf führte er mich in ein kleines, hinter der Schenke eines Erfrischungslokales befindliches Zimmer. Hier brannte ein herrliches Feuer, an das ich mich setzte. Dann verließ er mich, kehrte jedoch bald mit einem kleinen Glase in der Hand zurück.

»Trinken Sie dies, meine junge Dame. Es wird Sie wärmen und Ihre Nerven stärken.«

Ich sah beim Schein des Feuers, daß es Cognak oder irgend ein dunkelfarbiger Branntwein war.

»Nein. Ich danke Ihnen. Glauben Sie, daß ich mir Courage trinken muß?«

Ich legte solchen Nachdruck auf das persönliche Fürwort und blickte ihn so entrüstet an, daß er gerade hinaus lachte.

»Ich danke Ihnen gleichfalls. Sie vermuthen, daß das bei mir der Fall ist. Nun, ich will Ihr Urtheil rechtfertigen.« Mit diesen Worten leerte er das Glas auf einen Zug und kehrte nach dem heiteren Zwischenfall nur um so ernster zur Sache zurück.

»Wenn Sie nun wirklich erwärmt sind, so wollen wir uns wieder auf den Weg machen. Halt! Warten Sie noch einen Moment. Ich habe Sie ein paar Mal husten hören. Können Sie das unterdrücken?«

Ich versicherte ihm, daß ich das Husten leicht vermeiden könne, und es nichts weiter sei, als der plötzliche Einfluß der Kälte. So gingen wir denn wieder in die Mitternacht hinaus, nachdem ich von ihm erfahren hatte, daß wir uns jetzt in Whitechapel, nicht weit von Goodmanns Fields befanden.

Noch eine kurze Strecke und wir kamen in eine schmale Seitengasse, an deren Ende sich ein Thorweg befand. Als wir durch diesen Thorweg gingen, stiegen wir einige steile, verfallene Stufen hinab. Darauf holte der Inspektor eine kleine helle Lampe hervor, die er in dem Schenklokal angezündet haben mußte. Es war keine gewöhnliche Blendlaterne, sondern eine Reflektorlampe. Beim Schein derselben sah ich, daß der Haupteingang zum Hause auf der anderen Seite und vielleicht in einer anderen Straße sein mußte. Inspektor Cutting öffnete mit einem kleinen Schlüssel, den er aus der Tasche zog, ein kleines, eisernes Thor, und wir traten in einen schmalen Gang. Am Ende desselben befand sich eine massive, mit großen Nägeln beschlagene Thür. Hier pochte mein Führer ganz leise an und verbarg seine Lampe wie zuvor.

Alsbald hörten wir einen schrillen Laut gleich der Stimme einer Dryade durch das Schlüsselloch erschallen. Der Inspektor beugte sich zu demselben nieder und sprach das Losungswort. Nicht ohne Schwierigkeit wurde der Schlüssel im Schloß gedreht und der Riegel zurückgeschoben. Nun standen wir innen. Ein kleines Mädchen von verkümmertem Wuchs starrte uns einen Augenblick an, dann zog es sich scheu vor dem Schein der Lampe zurück, als sei es mehr an Dunkelheit gewöhnt. Mr. Cutting schloß die Thüre wieder sorgsam zu und führte mich dann durch mehrere ungepflasterte und leere Kellerräume, bis wir an eine eiserne Stehleiter gelangten. Diese stieg er hinan, half auch mir hinauf, und wir befanden uns in einer kleinen, dunkeln Dachkammer, die keine Möbel außer einem hohen dreibeinigen Schemel enthielt. Als er seine Laterne schloß, herrschte vollständiges Dunkel, nur oben auf dem Dachbalken erschien ein schwacher Lichtschein.

»Sehen Sie das Licht?« flüsterte er mir zu und deutete, wie ich nur gerade sehen konnte, auf eine schmale, mit Glas versehene Oeffnung oben in der Wand, von wo der schwache Schimmer ausging.

»So steigen Sie auf diesen Schemel, und versuchen Sie, ob Sie hindurch sehen können.«

Er ließ den Strahl seiner Lampe für einen Augenblick auf den Schemel fallen, während ich seiner Anordnung Folge leistete. Als ich oben stand, bemerkte ich, daß ich gerade groß genug war, um hindurchsehen zu können; aber die schmale Scheibe war dick mit Leim oder einer anderen undurchsichtigen Masse bestrichen. Alles, was ich sehen konnte, war, daß der Raum nebenan erleuchtet war.

»Ich weiß, daß Sie noch nichts sehen können,« sprach er, als ich enttäuscht wieder herunter kam; »aber nachher werden Sie schon Etwas sehen. Die Thoren, welche früher hier waren, haben das Glas auf der falschen Seite bestrichen, und diese, obgleich es viel schlauere Kerle sind, haben den Fehler nicht verbessert. Sie betrachten dieses Fenster als Ausweg für den schlimmsten Fall. Nehmen Sie diese Flasche und diesen Pinsel von Kameelhaar. Sie werden das Glas damit ohne jegliches Geräusch durchsichtig machen können. Die Männer sind noch nicht da. Wir könnten es jetzt leicht klar schaben, aber sie werden es jedenfalls untersuchen. Wenn die Zeit da ist, so gebrauchen Sie die Flüssigkeit äußerst behutsam und bestreichen Sie die Scheibe nicht höher damit, als einen Zollbreit vom unteren Fensterrande entfernt. Die Lichter befinden sich an dieser Seite. Der Schatten der Fensterleiste deckt nur gerade einen Zollbreit.«

»Und wie weit darf ich in horizontaler Richtung gehen?«

»Ueber die ganze Breite des Glases, damit Sie eine möglichst weite Uebersicht erhalten. Die Wirkung der Flüssigkeit wird nur drei bis vier Minuten währen, aber Sie dürfen sie nicht zum zweiten Mal anwenden. Wenn Sie es thun, so springt das Glas, und Sie werden in der Macht der Leute sein. Es sind verwegene Männer, und obwohl ich in der Nähe sein werde, könnte ich leicht zu spät kommen, um Sie zu retten. Sehen Sie sich Alle genau an, damit Sie später einen Eid auf ihre Identität ablegen können.«

»Wie soll ich den Einen herausfinden?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich muß es Ihrem Instinkt oder Ihrer Eingebung überlassen. Ich selber weiß nur, daß es Einer von den Vieren ist. Meine Nachricht habe ich auf sehr seltsame Weise erlangt, und ich hoffe, daß das Unternehmen dieser Nacht Genaueres feststellen wird. Noch Eins – machen Sie kein Geräusch, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Halten Sie die Flasche zugekorkt. Hüten Sie sich, etwas von dem Stoff auf Ihre Kleider zu vergießen und kommen Sie ihm nicht mit den Augen zu nahe; Sie werden sonst unheilbar blind. Es ist nur sehr wenig davon in der Flasche, weil der Stoff äußerst gefährlich ist.«

»Wann soll ich es thun?«

»In einer Stunde von jetzt an gerechnet. Nehmen Sie diese Repetiruhr, ich habe Ihnen gezeigt, wie sie gehandhabt wird. Sehen Sie genau danach, da Sie noch das Licht haben.«

Ich blickte auf die Uhr. Es war bald Mitternacht.

»Ich soll im Dunkeln hier bleiben – ganz allein im Dunkeln?«

»Ja. Ich muß an einem anderen Platze gesehen werden, sonst ist das ganze Unternehmen verfehlt. Sie würden mich selbst in diesem Anzug erkennen, und sie beobachten mich ebenso, wie ich sie. Heute Abend aber glaube ich, sie irregeführt zu haben. Wenn es vorüber ist, so warten Sie auf mich oder das kleine Mädchen, welches Sie vorhin sahen.«

»Oh, ich wollte, daß ich nie hergekommen wäre; es ist Alles so unbestimmt und zweifelhaft.«

»Sie können noch zurückgehen, wenn Sie es wünschen, obgleich auch das gefährlich wäre.«

»Ich will nicht zurückgehen. Ohne Zweifel werde ich ihn erkennen. Wann werden Sie ihn festnehmen?«

»Sobald mein Beweismaterial vollständig ist. Nun bedenken Sie, daß die Männer, welche Sie zu beobachten haben, scharfsichtig wie Habichte und leise wie Tiger sind. Aber wirkliche Gefahr ist nicht vorhanden, wenn Sie Ihre Selbstbeherrschung wahren. Prägen Sie sich sowohl in Ihrem Interesse, als in dem meinigen alle Vier so genau wie möglich ein. Gebrauchen Sie die Vorsicht, auf der Mitte des Schemels zu stehen. Sie thun indessen besser, noch nicht hinaufzusteigen, ehe die Leute das Zimmer nebenan untersucht haben. Nun leben Sie wohl. Ich verlasse mich auf Ihren Muth. Wenn Ihnen irgend Etwas zustößt, werde ich Sie rächen.«

»Ein guter Trost! Was sollte mir das nützen?«

»Wenn Rache Nichts nützen kann, weßhalb sind Sie denn hier?«

»Ich danke Ihnen. Das ist nicht Ihre Sache. Lassen Sie sich nicht länger durch mich zurückhalten.«

Er sagte mir später, daß er mich absichtlich geärgert habe, um meinen Muth zu stacheln. Und wahrlich – es war nothwendig.

»Ah, jetzt sind Sie wieder im richtigen Zuge. Wenn Sie es aber an Vorsicht fehlen lassen, so wird uns der Mann, welcher Ihren Vater erschlug, sicher entrinnen.«

»Wenn ich es daran fehlen lasse, so wird es aus Unwille, nicht aus Furcht geschehen.«

»Ich weiß das. Lassen Sie mich in Ihr Gesicht sehen.«

Er ließ den Strahl der Lampe voll auf mein Antlitz fallen. Der polirte Hohlspiegel leuchtete nicht klarer oder ruhiger, als meine Augen.

»Bleich wie der Tod und ebenso entschlossen. Verlassen Sie sich nur auf sich selber«.

»Auf Gott und mich selber,« flüsterte ich, als er meinen Blicken in den Gewölben unten entschwand. Ich konnte keinen anderen Eingang zu dem Raume sehen, in dem ich mich befand. Was konnte ich aber darüber wissen?

Eine Minute lang erhielt mich die Aufregung in Hitze. Als ich aber den letzten Lichtschimmer unten an der Mauer verbleichen sah, begann mein Herz ängstlich zu pochen, und ein Frösteln durchschauerte mich. Darauf schlugen meine Pulse so stark, daß es mir in den Ohren klang, als klopfte es unten im Keller. »Ist das Furcht?« fragte ich mich, und die Frage allein schien mir schon verächtlich. Nein, Furcht war es nicht, sondern schreckliche Spannung. Die Wage, welche Leben und Tod, Triumph und Schmach enthielt, sah ich so deutlich in der Dunkelheit schwanken, als könne sie sich vor dem Hauch meines Mundes neigen. Hier sollte nicht der Traum eines Kindes, nicht die müssige Phantasie, sondern die ganze, auf einen einzigen Zeitpunkt zusammengedrängte Kraft der Seele und des Willens den Ausschlag geben.

Der Zeitpunkt währte jedoch zu lange. Die Kräfte begannen nachzulassen. Die Sinne wurden mit jedem Pulsschlag schwächer und verworrener. Unbedeutende Eindrücke und Gedanken traten an die Stelle der großen Fragen. Vergebens strengte sich mein Auge an, ein Spinngewebe, das Skelett einer Fliege im Bereich des trübe durch die Scheibe flimmernden Lichtes zu entdecken. Vergebens horchte ich nach dem Geräusch einer Maus. Selbst eine Ratte, so sehr ich diese sonst verabscheue, wäre mir willkommen gewesen. Sogar die absichtlich mit besonders leichtem Gangwerk versehene Uhr konnte mir keine Beruhigung gewähren. Tiefes, unerschütterliches Schweigen umgab mich, und nur mein eigenes rebellisches Herz war hörbar.

Als letztes verzweifeltes Mittel zählte ich langsam bis sechzig, wie Kinder nach einer Uhr. Es nutzte Nichts. Mein Herz schlug lauter denn je, und die Hände zitterten mir, selbst meine Zähne klapperten, als die Zeit herannahte.

Die Nerven lassen sich nicht überlisten, der Verstand kann den Körper nicht betrügen. Ich gab meiner Erzieherin einst einen Backenstreich. Die Natur kann ich nicht so behandeln. Ihr gegenüber hilft weder sanftes Zureden, noch die baare Münze der Vernunft. Am ganzen Körper zitternd lasse ich die Repetiruhr schlagen.

Noch fünf Minuten! Mein Herz zittert wie der Hals einer Taube. Die lange Zögerung ist zu viel gewesen. Oh, warum wurde ich dieser grausamen Prüfung unterworfen? Die Mauern sind stark. Ich kann keine Bewegung in dem geheimnißvollen Zimmer vernehmen.

Jetzt höre ich ein Geräusch, als wenn Jemand, dessen Licht verloschen ist, nach der Thür sucht. Tastend und kriechend nähert es sich der Scheibe, und ein Schatten fällt auf den Dachbalken. Wessen Schatten, wessen Hand gleitet dort so verstohlen hin? Wer anders kann es sein, als der Mörder meines Vaters?

Das Wort – der Gedanke ist genug. Was dem festen Willen, der Vernunft und dem Gerechtigkeitsgefühl nicht möglich war, das gelingt dem Zorn sofort – dem Zorn über mich selbst sowohl, als über meinen Feind. Sollte die Clara Vaughan, welche acht lange verwaiste Jahre hindurch nur für diesen Augenblick geathmet hat, sollte Clara Vaughan jetzt angesichts der Entscheidung zittern wie die lahme Amsel?

Das Feuer des Triumphes schoß mir gleich Vitriol durch die Adern. Meine Nerven waren gestählt, jeder Sinn geweckt und verschärft. Bei dem jenem Fenster entströmenden Licht hätte ich, so trübe es war, die feinste Nadel einfädeln können.

Wieder ließ ich meine Uhr repetiren. Der Schlag war äußerst leise und schwach. Es war die Stunde und Minute, wo mein Vater starb.

Mit einem leichten, sicheren Sprung stand ich auf dem Sessel, den ich jetzt ganz deutlich sah. Ich tunkte den breiten Pinsel in das Fläschchen, hielt ihn sorgsam auf Armeslänge von mir entfernt und fuhr dann leicht von einer Seite bis zur anderen dicht am unteren Rande der Glasscheibe hin. Noch einmal netzte ich ihn, noch ein Strich über das Glas und ein feiner Dunst breitete sich über die Fläche, welche sich gleich darauf kristallhell klärte und mir genug Raum gab, den größten Theil des schmalen Zimmers überblicken zu können. Dem Zimmer schenkte ich jedoch keine Aufmerksamkeit, nur die Insassen beobachtete ich genau. Es waren nicht mehr als vier Personen. Ein Mann stand an einem Stehpult und schrieb sehr schnell. Drei Männer, welche um einen runden Tisch saßen, sprachen sehr eifrig unter lebhaften Gestikulationen mit einander, jedoch zu leise, als daß ich auch nur ihre Sprache errathen konnte. Aus der Erscheinung, den Manieren und Bewegungen der Männer schloß ich mit Bestimmtheit, daß sie nicht Englisch sprachen und es schien mir auch nicht, daß sie Franzosen waren. Wie es zuging, weiß ich nicht zu erklären, aber meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Mann, der am oberen Ende der Stube mit Schreiben beschäftigt war. Vielleicht kam es nur daher, weil ich ihn am Besten sehen konnte, denn sein Gesicht war mir gerade zugewendet.

Es war ein Mann von mittlerer Größe und Stärke, von festem, kräftigem Körperbau und zierlichen Gliedmaßen. Er hatte ein hübsches, streng oval geformtes Gesicht mit einer breiten Stirn und schwarzen Augen, aus denen er oft einen schnellen spöttischen Blick auf seine drei Kameraden warf, während er sein bis auf die Schultern herabhängendes graues Haar häufig mit einer heftigen Kopfbewegung aus der Stirn schüttelte. Seine weißen Hände bewegten sich ruhelos und schnell wie der Blitz. An dem Daumen der Linken funkelte ein großer rother Edelstein. Obgleich ich die Schriftzüge nicht sehen konnte, bemerkte ich an der Führung seiner Feder, daß er sehr klein schreiben mußte. Ich beobachtete ihn nur eine Minute lang, denn das Glas begann sich schon wieder zu trüben, und ich hatte noch die drei Andern zu mustern. In der kurzen Zeit hatte er jedoch mehrere Zeilen geschrieben und die Hälfte derselben, ohne auf das Papier zu sehen, während seine Augen auf die übrigen Drei gerichtet waren.

Ich wußte, als ich ihn so in dem hellen Lichte sah, daß ich einen Eid darauf ablegen konnte, ihn überall wiederzuerkennen. Der letzte Blick, den ich für ihn hatte, erfüllte mich mit Schaudern, denn in seiner Ungeduld streckte er einen Fuß über den Schatten des Punktes hinaus. Es war ein kleiner, schmaler, zierlicher Fuß.

Der Dunst verdichtete sich schon auf dem Glase, wie der Frost eine Fensterscheibe überzieht, als ich anfing, die drei Anderen zu beobachten. Aber auch sie sah ich genügend, um mir wenigstens von Zweien die Züge genau einzuprägen. Den Dritten konnte ich nicht so deutlich sehen. Er schien älter als die Uebrigen zu sein. Alle vier Männer trugen weite, graue Blousen und rothe Schärpen über die linke Schulter geknüpft. Es schien mir, daß die Drei hitzig über eine Maßregel beriethen, die der Vierte bestimmt hatte. Hin und wieder blickten sie unruhig zu ihm hin.

Auf ihn sah ich jetzt wieder, während tödtlicher Haß mir das Herz zu Eis erstarrte. Ich erfaßte den Griff meines Dolches. Oh, hätte ich nur einen Moment ihm gegenüber stehen dürfen! In meiner Wuth vergaß ich des Inspektors Warnung. Das Glas wurde zusehends undurchsichtiger, und ich berührte es mit meinen – 110 Wimpern. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meine Augen. Ich fuhr zurück, der Schemel wankte unter mir, ein Fuß desselben stieß gegen die Wand. Ich klammerte mich an die Leiste unter dem Fenster und suchte das Gleichgewicht wieder herzustellen. Der Stuhlfuß berührte den Boden mit einem so lauten Krach, wie eine in's Schloß fallende Thür.

Ich glaubte, daß Alles zu Ende sei. Wie ich es möglich machte, einen Schrei zu unterdrücken, weiß ich nicht. Hätte ich ihn ausgestoßen, so würde ich diese Geschichte nie haben erzählen können. Ich hatte die Geistesgegenwart, stehen zu bleiben und zu beobachten, was die Mordgesellen zunächst thun würden. Trotz meiner Pein und der Trübung des Glases konnte ich noch sehen, daß sie Alle aufsprangen und nach der seitwärts gelegenen Thür des Zimmers stürzten. Der Schreibende stand vor den Anderen; die Papiere hatte er schnell auf der Brust verborgen; in einer Hand hielt er eine Pistole, in der anderen einen Dolch. Kannte ich die Form desselben? Auch die Uebrigen waren bewaffnet, doch konnte ich nicht sehen womit. Sie zogen sich hinter einen schweren Vorhang zurück und hielten, wie ich vermuthete, die Mündungen ihrer Pistolen auf die Thür gerichtet. Als sie bemerkten, daß kein Angriff erfolgte, begannen sie zu suchen. Jetzt erst war die eigentliche Gefahr für mich gekommen. Wenn sie das Fenster untersuchten, ehe es wieder undurchsichtig geworden, so wäre es auf der Stelle um mein Leben geschehen gewesen. Meine Furcht war vorüber, Verzweiflung erfaßte mich. War ich zur Blindheit verurtheilt, so lag mir auch nichts am Leben. Dennoch umklammerte ich den Dolch.

Mein linkes Ohr hielt ich an die Mauer gedrückt, ich hörte, wie eine Hand die innere Seite der Scheidewand streifte; dann, wie ein Stuhl unter die Fensteröffnung gerückt wurde, und Jemand hinaufstieg. Ich stand noch auf dem Schemel und bückte mich bis unterhalb des Fensterrahmens. Plötzlich schwand der lichte Streif, die Scheibe war undurchsichtig wie zuvor. Die Hand tastete längs des Fensterrahmens hin, über den Dachbalken flog der dunkle Schatten eines Kopfes. Der Suchende ging weiter, ohne Verdacht zu schöpfen.

Es war seltsam, aber jetzt, wo die tödtlichste Gefahr vorüber war, befiel mich dreifache Angst. Heiß strömte mir das Blut zum Herzen, das noch soeben ganz unbeugsam und standhaft gewesen. Mein Haar schien sich vor Furcht zu sträuben. Das theure Leben wollte, gleich treuer, verschmähter Liebe, seine Rechte nicht so leicht aufgeben. Leise glitt ich von dem Schemel und kauerte mich, an allen Gliedern zitternd, darauf nieder. Meine Lider senkten sich über die schmerzenden Augen, ich war unfähig, sie zu erheben, aber blaue und rothe Lichter schienen darunter zu tanzen. In die Blindheit hatte ich mich ergeben, aber für jetzt noch nicht in den Tod.

Wie lange ich in diesem muthlosen Zustand verharrte, ohne mich aufrichten zu können, so verächtlich ich mir auch deßhalb erschien, weiß ich nicht zu sagen. Möge Niemand, auch der gemeinste Mörder nicht, so Entsetzliches erleben!

Endlich sank ich, erschöpft von Schmerzen und Angst, in einen tiefen Schlaf, aus dem mich eine Hand erweckte, die sich auf meine Schulter legte.

Ich versuchte aufzublicken, vermochte es aber nicht. Die Sehkraft war geschwunden, und wie ich glaubte, für immer. Ich fühlte jedoch, daß es ein Freund war.

»Ah, ich sehe, was geschehen ist.« (Es war Inspektor Cuttings Stimme.) Mein armes Kind, es ist keine Gefahr mehr vorhanden. Reichen Sie mir die Hand.« Er versuchte, mich aufzurichten, ich fiel jedoch gegen die Wand zurück.

»Nehmen Sie ein Schlückchen hiervon, wir müssen das Blut wieder in Cirkulation bringen. Die Kälte ist hauptsächlich schuld. Noch ein Schlückchen, Miß Vaughan.«

Er nannte mich absichtlich bei meinem wahren Namen. Ich wurde dadurch wieder etwas belebt. Er war äußerst liebreich und gütig gegen mich und erinnerte mich noch einmal an das Couragetrinken.



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