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Drittes Kapitel.

Mr. Shelfer.

 

Nicht weit von meiner Wohnung befand sich eine Zeichenschule und am folgenden Morgen begab ich mich dorthin. Meine Wirthin erbot sich, mich zu begleiten und sicher bis in den Saal zu führen. Ihr Charley, der mit aller Welt bekannt schien, hatte selbst dort irgend einen Freund, dem sie mich zu empfehlen versprach.

So nahm ich denn ihr Anerbieten dankend an.

In mancher Beziehung war Mr. Shelfer noch merkwürdiger als seine Frau. Er war so schüchtern, daß ich ihn bei den seltenen Begegnungen, welche wir hatten, nicht dazu bringen konnte, mich anzusehen, außer einmal, wo er betrunken war. Dennoch schien er auf geheimnißvolle Weise Alles zu erfahren, was mich betraf – die Farbe meiner Augen, meine Haartracht, meine Anzüge, meine Stimmung, kurz weit mehr, als mich selber interessirte. So wurde meine Selbstkenntniß mitunter durch seine, mir von seiner Frau wiederholten Bemerkungen bedeutend erweitert. Indessen durfte ich mir nicht schmeicheln, daß dies einem besonderen Interesse für mich entsprang, denn er schien eine ebenso genaue Kenntniß der Angelegenheiten aller seiner Nächsten zu besitzen. Man mochte erwähnen, wen man wollte, so beschrieb er die betreffende Persönlichkeit, anscheinend ohne es zu beabsichtigen, ganz unverkennbar mit einem halben Dutzend Worten. Er sprach sich weder lobend noch tadelnd aus, er identificirte einfach. Mit einem Augenblinzeln muß er mehr haben sehen können, als Andere durch fünfminutenlanges Anstarren. Er brachte selten Gäste in das Haus, obwohl er es oft zu thun versprach, und das Schwatzen schien er nicht zu lieben, wenigstens nicht mit seiner Frau. »Fasse Dich kurz, Alte« – das war die einzige Ermunterung, die er ihr in dieser Hinsicht zu Theil werden ließ. Wenn er zu Hause war – was indessen selten vorkam – saß er stets mit gesenktem Kopf und einer langen Pfeife im Munde da. Auch auf der Straße hielt er den Kopf gesenkt und redete Niemand an. Woher erlangte er all' sein Wissen? Ich bezweifle, daß es in ganz London ein Wirthshaus gab, in dem er nicht mindestens einen Vetter des Wirthes oder den Bruder eines der Laufburschen kannte. Alle Leute nannten ihn Charley Shelfer und sprachen, wenn auch nicht gerade mit besonderer Hochachtung, so doch mit Wohlwollen von ihm. Sein Glück war sprichwörtlich; er hatte eine ganze Stube voller Dinge, die er im Würfelspiel gewonnen hatte, und er wurde fortwährend gebeten, für weniger von Glück begünstigte Leute zu werfen. Was seinen Beruf betrifft, so nannte er sich einen Baumschulgärtner, aber ich konnte keine Baumschule entdecken, die er in Pflege gehabt hätte. Er bekam wöchentlich ein Pfund Sterling, um den Garten auf dem großen Platz in Ordnung zu halten, doch wenn ihn Jemand sprechen wollte, war er nie dort anzutreffen. Den größten Theil seiner Zeit verbrauchte er, wie ich glaube, um Tauschhandel mit seinen »Kollegen« zu betreiben, wie seine Frau sagte. Mitunter brachte er wunderschöne Pflanzen und herrliche Blumen mit nach Hause, deren Namen ich nicht einmal kannte, und viele von diesen verehrte er mir durch die Hand seiner Gattin. Jeden Sonntag stand er schon vor dem Tagesgrauen auf und trat eine Erholungs- oder vielmehr Beutefahrt durch Hampstead, Highgate und Holloway an. Von diesen Streifzügen pflegte er stets um dieselbe Zeit heimzukehren, wo ich vom Morgengottesdienst zurückkam. Wenn ich ihn übrigens gern in Verlegenheit setzen und eine Lücke in seiner Allerwelts-Bekanntschaft hätte finden wollen, so wäre eine Frage über den Prediger am besten dazu geeignet gewesen. Er inkommodirte den Schließer der Kirchenstühle so wenig, wie seine Gattin, welche sich eine Katholikin nannte. Die kleine, lebhafte Frau hatte die entsetzlichste Furcht vor dem Tode, und ein Pastor war ihr stets gleichbedeutend mit einem Leichenbestatter. Hatte Mr. Shelfer nun auch seinen Sonntag-Nachmittag nicht ganz so gut angewendet wie ich, so hatte er augenscheinlich seine Zeit dennoch nicht vergeudet. Ich glaube, er plünderte sämmtliche Hühnerställe und Gemüsefelder, und doch mußte ich ihn dazu für zu ehrenwerth halten. Aber wie kam er sonst zu dem bunten Gemengsel, das er jeden Sonntag Nachmittag um Ein Uhr aus seinen zahllosen Taschen, seinem Hute und seinem rothbaumwollenen Taschentuch hervorholte? Eier, Küchlein, Pilze, Meerrettig und Sellerie, Krammetsvögel, Gurken, Roth- und Weißkohl, Kaninchen, Brunnenkresse, Aylesbury-Enten, ich weiß mich nicht mehr auf den vierten Theil der von ihm angesammelten Lebensmittel zu besinnen; ich weiß nur, daß wenn alle diese Dinge an den Wegen um London herum zu finden sind, die Grafschaft Middlesex ein weit ergiebigeres Feld für Schüler der Naturgeschichte sein muß, als Gloucestershire und selbst mein geliebtes Devonshire. Mrs. Shelfer sagte, es käme Alles von seinem Glück; aber ich glaube kaum, daß es selbst Mr. Shelfer zu Gefallen Aylesbury-Enten regnen kann.

Nicht ein einziges Mal, während er diese mannigfachen Vorräthe aus seinen tiefen Taschen hervorholte, zeigte er ein Lächeln oder irgend welches Triumphgefühl, sondern besorgte das Ganze so ernsthaft wie eine sich von selbst verstehende Pflicht.

Wie ging es aber zu, daß solch' ein Mann kein Vermögen erworben hatte? Ganz einfach, weil er die unheilbare Angewohnheit besaß, für Jeden, der ihn darum bat, Wechsel zu unterschreiben, und dadurch stets in Verlegenheiten war.

Mrs. Shelfer und ich wurden sehr bereitwillig in die Zeichenschule eingelassen. Es war ein langer, niedriger, schlecht erleuchteter Saal, der vorläufig nur eingerichtet war, bis ein besserer Raum gefunden sein würde. Er machte einen unbehaglichen, kalten Eindruck. Es standen Bänke und Pulte wie in einer Gemeindeschule darin, und an den weißgetünchten Wänden hingen geometrische Figuren, Diagramme, Risse, Reduktionen, die fast alle steif und häßlich, aber ohne Zweifel sehr lehrreich waren. An einem Ende des Saales befand sich eine Erhöhung, welche für die Lehrer und Professoren reservirt war. Auf den Wandgesimsen standen zahlreiche Abgüsse und Modelle, die Schränke waren mit Lehrbüchern angefüllt. Natürlich mußten wir uns eigenes Zeichenmaterial halten, und eine Verordnungstafel war ausgehängt. Den vorgeschritteneren Schülern war erlaubt, irgendwelche ihrer Werke auszustellen, welche den Neulingen zur Förderung dienen konnten. Mir wurde dort niemals ungebührlich begegnet. Zuerst pflegten die jungen Künstler mich etwas scharf anzusehen, aber meine zurückhaltende und unnahbare Miene genügte vollständig, sie zu entmuthigen.

Nachdem Mrs. Shelfer mich in äußerst würdevoller Weise eingeführt hatte, entließ ich sie und begann darauf mich ernstlich in die Grundlehren der Perspektive zu vertiefen. Sofort wurde mir eine einfache Wahrheit in Bezug auf den Augenpunkt klar. Ich war ganz erstaunt, daß ich diese Entdeckung nicht früher gemacht hatte. Sie war nicht in den Büchern enthalten, welche ich studirte, aber es war der einzige Schlüssel zu allen meinen Irrthümern in Bezug auf die Distanz. Ich schloß die Bücher sofort. Ueber den einen Gegenstand bedurfte ich keiner Belehrung mehr, mir war der Strahl der Wahrheit aufgegangen. Bücher hätten mir meine Wahrnehmung wie schlechtes Glas nur verzerrt zeigen können. Ich brauchte jetzt weiter Nichts zu thun, als mein Auge daran zu gewöhnen. So seltsam es mir damals erschien, ich konnte an dem Tage nicht mehr zeichnen. Ich war zuerst so von der einfachen Schönheit der Wahrheit, der mathematischen und trotzdem poetischen Wahrheit, überwältigt, daß der Irrthum und das Dunkel sich an meinem Gehirn zu rächen begannen, denn alle Dinge streben nach Ausgleichung. Aber die einmal erkannte Wahrheit konnte mir nicht wieder verloren gehen. Es gab von jetzt an fast keine größere Strafe für mich, als eine von meinen früheren Zeichnungen anzusehen.

Als mein Kopf wieder klar war, kehrte ich zurück, um tüchtig an die Arbeit zu gehen. Die Becher, Vasen, Schalen und anderen Gegenstände der »ästhetischen Kunst«, wie dieselbe genannt wurde, interessirten mich durchaus nicht, aber die Kopieen, Vorlagen und geometrischen Figuren waren mir sehr nützlich. Wenn ich mich nicht sehr irre, so habe ich dort mehr Fortschritte in vierzehn Tagen gemacht, als früher in einem Jahr.

Mit meiner gewohnten Ausdauer strebte ich, mich von meinen vielen Fehlern zu befreien; so sehr ich auch des Geldes bedurfte, erlaubte ich mir keinen Versuch, ein Bild anzufangen, ehe ich mir alle Grundlagen vollständig angeeignet hatte.

»Aber jetzt,« rief ich mir gegen Weihnachten zu, »jetzt an's Werk für Mr. Oxgall und wenn ich ihn diesmal nicht in Erstaunen setze, so will ich nicht ›Clara Vaughan‹ heißen!«

Es that mir wohl, mich, wenn ich allein war, bei meinem richtigen Namen zu nennen und mich somit heimlich an dem Vorrechte zu erfreuen, meines Vaters Tochter zu sein.



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