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Ein Weihnachtskörbchen.
Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen und Alles, was ich in der Welt besaß, war eine halbe Guinee in kleiner Münze. Allerdings hatte ich meine Wohnung für vierzehn Tage vorausbezahlt, weil die gute Mrs. Shelfer allen ihren Hausthieren gern ein Weihnachtsmahl bereiten wollte. Was mein eigenes Weihnachtsmahl betraf, auf das ich freilich nicht viel Werth legte, so hätte ich es, wenn ich überhaupt eines haben wollte, auf Borg nehmen müssen, da ich mein Bild erst in der nächsten Woche vollendet haben konnte. An Borgen aber wollte ich nicht denken; lieber hätte ich tagtäglich gehungert, als mir von irgend Jemand Geld geliehen. Ich weinte indessen nicht vor Sehnsucht nach Plumpudding, obgleich mir ein paar Mal hungrig zu Sinn ward, als ich an das Festmahl dachte, das früher am heiligen Abend in der geräumigen Halle von Vaughan Park mit weit größerer Sorgfalt hergerichtet wurde, als das am ersten Feiertag im Eßsaal stattfindende herrschaftliche Diner.
Nun saß ich an diesem einsamen Christabend in meinem Zimmerchen und konnte es nicht ändern, daß ich ein wenig zurückdenken mußte. Es war ein stürmischer, naßkalter Abend; Schnee und Regen jagten einander, und es war noch unentschieden, ob es frieren oder thauen würde. Trotzdem wimmelte es auf der Straße von lachenden, vergnügten Menschen, die ihre Einkäufe zur Feier des Festes stolz nach Hause trugen. Als sie vorübergingen, sah ich Mistel- und Stechpalmenzweige in dem flackernden Gaslicht glänzen.
Um alter Erinnerungen willen hatte auch ich meinem Stübchen den Anstrich der Weihnachtsausschmückung durch einige Lorbeersträuche und Stechpalmenzweige gegeben. Einen Mistelzweig wollte ich nicht, – wer hätte mich wohl jetzt darunter küssen sollen?
Das Verlangen, welches jeder Mensch an solchen Tagen nach einem gütigen Wort empfindet, hatte mich am Nachmittag veranlaßt, einen Besuch bei Mrs. Elton zu machen. Sie war zwar freundlich und liebenswürdig gewesen, aber sie erwartete nahe Anverwandte, und ich bemerkte, oder glaubte zu bemerken, daß ich störe. Denn noch war es mir, als ob ihr mütterliches Herz mich bemitleidete, als sie mir »Lebewohl« sagte und mich im Hinausgehen an dem Weihnachtsbaum vorbeiführte, der nur noch des Anzündens harrte.
Ich saß also allein und traurig bei dem Schein des kleinen Feuers, zu dem ich leichtsinniger Weise für drei Pence Holz gekauft hatte, in Erinnerung des großen knorrigen Eschenbaumes, der an früheren Christabenden mit der bemoosten Rinde auf dem alten Heerde zu glühen pflegte, als dessen Erbin ich angesehen ward. Das armselige Knistern und Sprühen meines kleinen Holzscheites führte mich durch acht traurige Jahre zu dem letzten fröhlichen Weihnachtsfeste zurück, das mein Vater feierte, und bei dem ich sein Stolz und seine Hoffnung, stolzer als Alle in dem Gefühl war, schon zehn Jahre alt zu sein.
Wie freudig zerlegte er das saftige Fleisch und füllte die Sauce darüber, wie flink und rüstig handhabte er das Tranchirmesser mit einem warmen Scherzwort für jeden einzelnen Gast. Wie lächelte er, wenn die schon dreimal bedienten Pächter sich noch eine Portion ausbitten ließen, und wie lachte er, wenn der kleine Gänsejunge beinahe am Plumpudding erstickte. Ich sah mich wieder als erste Kellnerin gekleidet, mein langes Haar zurückgebunden, wie ich ihn am Aermel zupfte und auf den Teller der Wittwe Hiatt deutete, und wie er mir dann über das Haar strich und nach mir haschte, um mir einen Kuß zu geben. Wie klatschte ich, seine Rednergabe bewundernd, in die Händchen, als er nach der Tafel eine Ansprache hielt und mich dann auf einen Stuhl stellte, damit ich zuerst auf das Wohl der Königin trinken sollte. Darauf folgten die Hurrahrufe der Pächter und Diener, und wie wurde ich draußen geküßt – dies Alles ging mir durch die Erinnerung, wie der Rauch des Holzscheites den Kamin hinaufstieg, und Thränen stahlen sich unter meinen Wimpern hervor.
Und wieder sehe ich die lange Halle; die Tische sind fortgeräumt, die Lichter an den geschmückten Wänden sind angezündet und der Julblock Der Brauch hat heidnisch-germanische Wurzeln. Der Julklotz wurde um die Zeit der Wintersonnenwende am Herdfeuer entzündet, und es brachte Segen, ihn während der Rauhnächte am Brennen zu halten. Die Asche wurde auf die Felder und ins Tierfutter gestreut, weil man ihr heilsame Kräfte zuschrieb. Allmählich verband sich der Brauch jedoch mit der christlichen Licht- und Baumsymbolik zu Weihnachten. Im 12. Jh. war er im christlichen Brauchtum verankert. Der nun Christklotz genannte Julblock blieb von Weihnachten bis zum Dreikönigstag im Kamin, um den man saß; er gehörte zum Weihnachtsfrieden. knattert lustiger auf dem Heerde. Mein Vater, das Musterbild eines englischen Edelmannes des jetzigen (nicht des vorigen) Jahrhunderts, eröffnet den Ball mit seiner Gattin am Arm, die keine Dame mit herablassenden Manieren, sondern eine warmfühlende und liebende Frau war. Beide sind zu dem Feste gekleidet wie zu einem Balle beim Lord-Lieutenant, und Beide freuen sich auf den ländlichen Tanz und treten den Takt zur Musik. Ihnen folgt ein lachendes kleines Mädchen an der Hand ihres jungen Ritters, des Master Roderick Blount, der nach Meinung der Köchin und beider Kammermädchen, vor Allem aber nach seiner eigenen, mein rechtmäßig verlobter Bräutigam ist.
Die Nächste in der Reihe ist die über alle Maßen gestärkte Haushälterin, die trotzdem nicht zu steif für ein Lächeln ist und sich an diesem Abend sogar Neckereien in Bezug auf Eroberungen gefallen läßt, und die mit gnädiger Miene dem ältesten Pächter, einem starken Manne mit einem rothen Gesicht und schneeweißem Haar, die Hand zum Tanze reicht. Nach ihr –
Horch! Lautes Klopfen und Klingeln an der Hausthüre. Wer kann heute Abend etwas von mir wollen? Ich will von Niemand Etwas wissen, als von denen, welche ich doch nicht haben kann und die das Feuer mir jetzt zurückgerufen hat, obgleich die Erde sie bedeckt.
Mrs. Shelfer ist in der Küche thätig, um ein wunderbares Abendessen für Charley zu bereiten, der versprochen hat, nach Hause zu kommen. Fünfzig Mal im Laufe des Tages hat sie die Frage erörtert, ob er sein Versprechen halten wird. »Ja« ruft die Hoffnung, »Nein« flüstert die Erfahrung. Auf keinen Fall ist er es, der anklopft, denn er trägt immer einen Hausschlüssel bei sich.
Ehe sie zu der Hausthüre geht, ruft sie »Miß Valence«, denn wer kann wissen, ob sie nicht mitten im Backen ihres Weihnachtspuddings ermordet wird? Ich trete aus meinem Zimmer auf den dunkeln Treppenflur hinaus, um meine Anwesenheit zu beweisen. Sie schiebt den Riegel zurück, und ich höre eine grobe Stimme:
»Wohnt hier ein junges Frauenzimmer mit Namen Clara Wann?«
»Jawohl, ganz recht, mein Bester, Sie meinen Miß Valence.«
»Der Name auf diesem Zettel hier ist nicht Walence, sondern Wann.«
»Ganz richtig, mein Bester, ganz richtig, das ist ganz dasselbe.«
»Oho, das will mir denn doch nicht scheinen, Tim, die hier heißt gar nicht Wann. Sie heißt Walence. Und wir haben nun schon drei volle Tage in ganz London herumhausirt!«
Tim jedoch spricht vom Dache des Wagens herunter die Möglichkeit aus, daß Valence und Wann ganz gleich sein könne; was ihn beträfe, so wolle er verflucht sein, wenn er deßhalb noch einen Schritt weiter fahre. Er und Ben, sie könnten ja die junge Dame ansehen und sich überzeugen, ob sie der Beschreibung auf der Karte ähnlich sehe. Inzwischen bin ich natürlich schon herangetreten, um das Packet in Empfang zu nehmen. Mrs. Shelfer wiederholt ihre Versicherungen und nennt den Mann einen großen Dummkopf, was mehr wirkt als Alles Andere.
»Weißt Du was, Tim, das muß die Frau von Charley sein! Charley Shelfer, weißt Du, derselbe, der Dir vorige Woche so viel im Kegelspiel abgewonnen hat.«
»Ja, das stimmt. Aber ich möchte wohl ein Quart für alle Mann das nächste Mal auf ihn gegen Dich verwetten.«
Diese Thatsache ist entscheidend. Jetzt kann kein Zweifel mehr walten. Trotz alledem muß ich aber den Empfang unter dem Namen »Wann« bescheinigen, welcher Bedingung ich mich natürlich füge. Als die beiden starken Männer das ungeheure Gepäckstück mit weit mehr Umständlichkeit, als nöthig ist, von dem Wagen heruntergelassen haben, trocknet Ben sich die Stirn.
»Herr meines Lebens, hat uns das heute Abend warm gemacht! Was haben wir mit dem unhandlichen Stück für Noth gehabt! Die Griffe sind nämlich längst alle beide abgerissen. Ich möchte wohl, daß meine Frau und ich ein Federbett hätten, das nur halb so viel wiegt. Fünfundzwanzig Jahre lang, von Jugend auf, bin ich nun schon bei unserer Gesellschaft, aber solche Adresse habe ich all' mein Lebtag noch nicht gesehen; Du schon, Tim?«
»Viele ganz absonderliche Aufschriften habe ich freilich schon gesehen,« erwiedert Tim, »aber keine einzige, die sich mit dieser messen könnte, und wer hätte nur denken sollen, daß die Leute, die sich solche Mühe gemacht haben – denn ich will verflucht sein, wenn sie nicht eine Woche daran zu thun hatten – daß sie schließlich ›Wann‹ schreiben und ›Walence‹ meinen würden. Aber die junge Dame wünscht jetzt, Ben, daß wir Eins auf ihre Gesundheit und vergnügte Weihnachten trinken sollen.«
»Wie viel beträgt die Fracht?« frage ich und zittere für mein letztes kleines Geld.
»Nichts, Miß, nur acht Pence für das Bringen. Es war bis zur Station Paddington frei gemacht, und wenn unsere Gesellschaft sich in ihrem Leben acht Pence sauer verdient hat, so waren es diese. Danke, Miß, das ist noch ein nobles Trinkgeld. Wir wünschen ein vergnügtes Fest, und daß recht was Gutes für Sie darin ist.«
Darauf fahren sie mit den dampfenden Pferden davon, nachdem sie den mächtigen Korb in die Küche getragen, den Mrs. Shelfer und ich nicht hätten von der Stelle bewegen können.
»Lieber Himmel, Miß Valence, was für eine Aufschrift!« ruft Mrs. Shelfer, als das volle Licht darauf fällt.
Die Adresse war in deutlicher Schrift auf einen Streifen Pappe geschrieben, der etwa vier Zoll breit und wenigstens acht Fuß lang war.
Er lief ohne Unterbrechung über den Deckel und die Seitenwände des Korbes hin. Hier ist die Aufschrift:
»Miß Clara Vaughan wohnt Nummer sieben in der Prince-Albert-Straße in London nahe beim Windsorschlosse aus Gloucestershire Tochter von Mr. Henri Valentine Vaughan Esquire ein hübsches großes Fräulein geht immer in Schwarz und sehr flink auf den Beinen kriegt ein bischen rothe Backen wenn sie ausschreiten thut gar kein Irrthum möglich wenn es nicht mit Fleiß geschieht wird dieser kleine Korb nicht sicher und heil und wohlschmeckend an sie abgeliefert so soll es mit aller Strenge des Gesetzes verfolgt werden gezeichnet
X John Huxtables Handzeichen
Zeuge
X Timothy Badcock seines.«
Ich habe lange darüber hin und her gesonnen, ob Mr. Beany Dawe wohl zur Abfassung dieses, in großer deutlicher Schrift, aber ganz ohne Punkt und Komma ausgeführten, Meisterschriftstückes aufgefordert worden sei. Es schien mir die Fähigkeiten meiner armen kleinen Sally zu übersteigen, und doch sah ich einige Grundstriche und Züge, welche nur von meiner kleinen Schülerin herrühren konnten. Ich löste den an mehreren Stellen zusammengeklebten Pappstreifen mit vieler Mühe ab und habe ihn noch bis jetzt aufbewahrt.
Unterdessen hüpfte Mrs. Shelfer, ihr Abendessen vernachlässigend, voller Verwunderung um den riesigen Packkorb herum.
»Lassen Sie mich ein Hackbeil holen, Miß, Sie werden ihn sonst nicht öffnen können. Mein Gott, er ist ja so fest geschlossen, wie eine Auster!«
Endlich aber gelang es mir doch, ihn zu öffnen, und niemals werde ich den Inhalt vergessen. Es war genug Eßvorrath, um eine Familie von zwölf Personen einen Monat lang zu speisen. Oben lag so frischduftendes Heu, wie es nirgends außer in Devonshire zu finden ist, und darunter achtzehn Stück Butter, jedes in ein schneeweißes Tuch eingehüllt. Die Butter hatte trotz der winterlichen Jahreszeit eine so goldige Farbe, daß Mrs. Shelfer sie mit gekochten Eiern verglich. Dann kam eine Schicht Gefäße mit schönem Schmalz und dicker Sahne; darunter wieder eine Lage Heu, unter der ein paar Guinea-Hühner, zwei große Truthähne, und ein wunderschöner Hase, mit duftenden, getrockneten Kräutern gefüllt, lagen. Darunter befanden sich eine Speckseite, zwei geräucherte Schinken, ein paar Rinderzungen, eine Hammelkeule und drei Flaschen vom besten Hollunderwein. Dann fand ich noch ein in braunes Papier gewickeltes Packet, das Sally's letztes Schreibeheft (ich hatte ihr Vorschriften für ein halbes Jahr im Voraus gegeben) und einen langen Brief enthielt, den ersten, welchen ich von Tossil's Barton empfing.
Als endlich Alles unter Jubel und Lachen ausgepackt war, da verzagte ich fast bei dem Anblick aller dieser Vorräthe. Mrs. Shelfer hatte sich auf den Fußboden gesetzt und war unfähig, sich dazwischen hindurch zu finden, so erregte und berauschte sie die Fülle der guten Dinge. Als ich ihr zu Hilfe gekommen war, ging sie nur immer in dem kleinen Raum, der noch übrig war, auf und nieder, während sie eine katholische Hymne summte und beide Hände in die Seite preßte.
Nun jedoch galt es, Hand an's Werk zu legen. Es wäre sündlich gewesen, Etwas davon umkommen zu lassen. Aber wie sollten wir die Vorräthe bergen? Alles hing jetzt vom Wetter ab. Noch war Alles, Dank der geschickten Verpackung und dem Frost, wundervoll frisch, obgleich das mächtige Packetstück die Runde durch sämmtliche Albertstraßen Londons gemacht hatte. Mrs. Shelfer sah es nur immer wieder an und rief:
»Lieber Himmel, meine Beste, das geht noch über Charley's Taschen! Wie müssen sie in Devonshire essen können!«
»Kommen Sie, Mrs. Shelfer, Sie wollen eine Hausfrau sein und helfen mir nicht im geringsten? Lassen Sie uns das Meiste gleich ins Freie hinausbringen. Sie haben keinen Keller und ich vermuthe, daß es in London keinen giebt. So wollen wir die Sachen wenigstens an die frische Luft bringen, da es jetzt nicht mehr schneit.«
»Aber die Katzen, Miß!«
»Nun, so müssen wir uns einen Plan gegen sie ausdenken, ehe wir zu Bette gehen. Jetzt kommen Sie aber, und helfen Sie. So, das ist brav von Ihnen. Ich gebe Ihnen auch etwas Hollunderwein, wenn wir fertig sind.«
So hingen wir Alles, was die Wärme nicht vertragen konnte, in den kleinen Hof hinaus, während uns Tom, der nur dann stahl, wenn er keine Strafe zu fürchten hatte, mit weiser Miene zuschaute. Wir befestigten Alles gut an den Wänden, wo es ganz sicher war, außer vor einer herumschwärmenden Gesellschaft von Katzen, welche mir allnächtlich ihr Ständchen brachten. Ich schenkte Mrs. Shelfer alsdann einen Truthahn, ein Naturerzeugniß, das selbst nicht auf Mrs. Shelfers Sabbathsausgang am Wege zu finden war; ebenso einen Schinken und drei Stücke Butter. Was ich mit dem Uebrigen thun sollte, darüber wollte ich später nachdenken.
Mrs. Shelfer verscheuchte die Katzen bis Mitternacht, und von da an hielt ich sie durch folgendes Mittel zurück. Ich mischte Phosphor unter eine meiner Mineralfarben und zeichnete auf ein schwarzes Brett einen lebensgroßen, grimmigen Dachshund mit fletschenden Zähnen, borstigem, gesträubtem Pelz, und weit vorstehenden Augen. Wir probirten die Wirkung an Tom, der den Buckel krümmte, ein fürchterliches Miauen ausstieß und dann in unwürdigster Weise unter dem schallenden Gelächter von Mr. Shelfer, der um diese Zeit schon zu Hause war, die Flucht ergriff. Diesen einköpfigen Cerberus hingen wir gerade der Stelle gegenüber, von wo die Katzen ihren Sprung zu machen pflegten, und zwar so, daß er im Winde hin und her schwankte. So lange meine chemische Mischung ihre Leuchtkraft behielt, konnte ich ganz beruhigt sein.