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Wie uns Veit Ehem nachträglich berichtete, hatte sich folgendes zugetragen: Mein Vater begab sich mit dem gefangenen Italiener nach der Pfalz, wo Schertlin wohnte. Soldaten und viel Volk waren ihm dahin gefolgt. Da er nicht den Feldhauptmann fand – es hieß, er sei schon auf den Wällen – ging mein Vater dorthin und abermals folgten ihm viele.
Auf den Wällen führte ein scharfer Windstoß des Vaters Hut in den Graben und sein ehrwürdiges ergrautes Haupt war dem Sturme preisgegeben. Da trat ein schlichter Mann an ihn heran und reichte ihm sein Barett. Mein Vater winkte nur abwehrend mit der Hand und eilte so schnell weiter, als gereue ihn jeder Augenblick, den er verlieren könnte.
Was er mit Schertlin verhandelte, hat Veit Ehem nicht erfahren; doch soll der Vater, als er von der Unterredung zurückkehrte, ganz verändert ausgesehen haben. Der Gefangene stand an eine Mauer gelehnt und mein Vater sagte zu ihm auf Italienisch: »Es ist mir nicht vergönnt, dich zu retten. Ich habe dem Feldhauptmann für jeden Italiener doppelte Ranzion geboten; aber ich hätte mein Leben bieten können und es würde nichts genützt haben. Hast du Eltern oder Geschwister, denen du eine Botschaft senden möchtest, so will ich mich diesem Auftrage unterziehn. – Nicht wahr, du wirst kein feiger Bursche sein? Ein Soldat muß zu sterben wissen. Wende dich jetzt an den ewigen Gott, der barmherziger wie Menschen ist.«
Der Jüngling fiel auf seine Knie, barg sein Gesicht in den Händen und schluchzte. Er war noch sehr jung und liebte das Leben.
Der Profoß, der nun merkte, daß ihm sein Opfer nicht entrissen würde, kam näher. Da ging plötzlich mit meinem Vater eine Veränderung vor. Er griff mit beiden Händen in die Luft, stieß einen tiefen Seufzer aus und fiel tot zu Boden.
Wir begruben ihn auf dem St. Petrikirchhof, und nicht wir allein waren es, die ihm heiße Tränen nachweinten.
Mir war's, als müsse ich die Mutter, um ihr des Vaters Liebe zu ersetzen, noch mehr wie früher lieben; aber auch den Lorenz und die Kinder liebte ich noch mehr; denn die Kette, daraus ein Glied genommen wird, schließt sich enger zusammen.
Diese Liebe ist mir fast zur Qual geworden, weil von Stund an mich die Angst nicht verließ, daß der grausame Tod auf neue Beute laure. Und mein Herz hatte sich nicht betrogen.
Drei Tage nach des Vaters Begräbnis – es war der letzte Tag dieses traurigen Jahres – brachte Andreas keine Milch nach Hause; Soldaten hatten die Kuh entdeckt und geschlachtet.
Den Schreck werde ich nimmer vergessen. Nun war auch dem Lorle, das schon lange krankte, das Urteil gesprochen.
Die Mutter vergaß über ihrem Schmerz nicht meiner Not; wie ich überhaupt nie eine Frau gesehn habe, die ihre Prüfung standhafter getragen hat. »Verliere nur nicht den Mut, Bärbel«, tröstete sie mich. »Der Hunger wird das Kind gefügig machen.«
Aber ich hatte keine Hoffnung, denn ich kannte das Lorle am besten.
Wenn wir ihm Suppe oder süßen Tee einflößten, sprudelte es und stieß mit beiden Händchen den Löffel weg. Ich gab ihm tausend Liebkosungen – ich flehte das Lorle an, als hätte es schon Verstand; es half alles nichts. Da habe ich versucht, weil sie mir's rieten, ihm mit Gewalt ein paar Löffel Suppe einzugeben; doch vermochte es nicht die Nahrung zu behalten.
Von einem Ort zum andern lief der Andreas; ich hätte die Milch mit Gold aufgewogen; aber in der ganzen Stadt war kein Tropfen mehr zu haben. O Gundel, wenn einem das Geld nicht helfen kann, da lernt man es verachten.
Endlich trieb Lorenz noch ein armes Weib auf, das ein Kind genährt, welches ihm gestorben war.
Als wäre ein Engel vom Himmel in mein Haus getreten, so habe ich das häßliche, schmutzige Weib begrüßt; aber mein Lorle war nicht zu retten; es wendete sich von der Frau ab und weigerte die Brust zu nehmen.
Da mußte ich mein liebes Kind verschmachten lassen.
Sterbend lag's mir auf dem Schoß. Wenn ich ihm einen Tropfen Wein einflößte – nach dem Verlangen des Medicus – hatte es nicht mehr Kraft sich zu wehren; es schloß nur seine Äuglein und schauerte zusammen. Sie wollten es mir fortnehmen; aber das Lorle gehörte zu seiner Mutter; schaute mich auch noch immer an, bis ihm die Augen brachen. Ich habe gemeint, daß ich's dem Tode abringen könnte, und habe mit warmen Tüchern ihm die zarten Glieder noch gerieben, als sie schon erkaltet waren.
Auf einmal legte Lorenz seine Hand auf die meine und sprach traurig: »Fraule, unser Lorle ist schon ein Engel im Himmel.«
Da war mir's doch gerade, als ob mir das Herz ausgerissen würde. Ich habe nicht mehr gefragt: Wie geht's der Mutter? Wie geht's der Susi? Ich habe nicht auf Lorenz gehört, da doch keiner so gut zu trösten verstand, als er. Ich habe nur um das tote Lorle gejammert und alles andre war mir gleichgültig.
Wegen des Lorle habe ich viel mehr gelitten, als wegen meines Vaters; da ich diesen doch auch geliebt und hochgehalten hatte und das Recht besaß, stolz auf ihn zu sein. Und was war das Lorle, das noch kein Wörtlein zu reden verstand, neben diesem Manne? Schau, da bin ich doch fast irre an meinem Herzen geworden!
Aber mit dem kleinen war mir auch das große Lorle gestorben, denn in meinen Gedanken hatte ich's schon erwachsen und verständig gesehn. Ich konnte auch jahrelang Sturm und Regen nicht ertragen, weil mein liebes Kind im bösen Wetter draußen auf dem Kirchhof lag.
Es gibt Dinge, die zu begreifen unser Verstand nicht ausreicht, Gundel. Allemal, wenn mein Herz mit Jammer bis zum Überfließen angefüllt war, sendete mir der liebe Gott die lustigsten Träume. Ich habe mich fast geschämt, davon zu reden.
Als mein herziges Kind gestorben war, träumte mir in der darauffolgenden Nacht, ein bunter Maskenzug käme durch unsre Gasse. Ich stand mit den beiden Kindern am Fenster und hatte mein Vergnügen daran. Zuletzt kam eine Kanone, darauf Wiker Frosch ritt; und wie ich das sah, sagte ich zum Lorle: »Erschrick nicht, jetzt wird's einen Knall geben.« – Richtig, da gab's auch einen Knall, aber einen so tüchtigen, daß ich erwachte – und ich hörte Kanonendonner.
Lorenz war schon aufgestanden und schlug Feuerstein am Stahl, um Licht zu machen. »Wir wollen uns ankleiden, Fraule. Mich dünkt, daß die Kaiserlichen ernsthaft bombardieren. Da müssen wir heißes Wasser bereit halten, denn bei der grimmigen Kälte wird das Wasser in den Bütten eingefroren sein.«
Ich zog mich an wie Lorenz mir geheißen hatte; dabei dachte ich aber: »Wie redet er von so gleichgültigen Sachen, als ob unser Wohl und Wehe daran hinge!«
Während ich nun die Röcke überwarf und auch die Susi ankleidete, folgten sich die Schüsse Schlag auf Schlag. Auf einmal aber gab's einen hellen Schein und darauf ein furchtbares Prasseln und Knattern.
»Gott mag uns gnädig bewahren. Die Bombe hat bei uns eingeschlagen.« – Und Lorenz stürzte hinaus.
Zugleich wurde es im Hause lebendig. Man hörte den Andreas rufen und die Mägde schreien. Treppauf und treppab Gepolter und vom Hofe her ein so heller Feuerschein, daß man der Kerzen entbehren konnte.
Gott wird gnädig auf meine große Schwachheit herabsehn! Ich weiß, daß ich nur eine armselige Kreatur bin und will mich niemals über andere erheben! Der furchtbare Schreck, der mir die Glieder lähmte, als die Bombe einschlug, muß auch meinen Verstand gelähmt haben; sonst hätte ich doch meiner lieben Susi nicht vergessen können.
Ich hörte noch, wie Lorenz, als er hinausrannte, mir zurief: »Nimm das Kind und laufe nach dem Hause der Eltern.« – Das Kind war mir aber nur das Lorle, und als ich meinte zur Besinnung zu kommen, da ich die Besinnung gerade verlor, schrie ich: »Das Kind! Ich muß das Kind retten!« – Riß den Mantel vom Nagel und stürzte hinaus.
Das Lorle lag in seinem Sarge, die dünnen Händlein auf der Brust gefaltet, und über das bleiche Gesichtchen zuckte der helle Schein, daß es fast lebendig schien. Ich hob es auf und hüllte es sorglich in den Mantel.
Auf dem Flur lief Lorenz ohne mich zu beachten an mir vorüber; da fiel mir das Friedeli ein; denn weil es tot war, wie das Lorle, gedacht ich seiner, und so rief ich dem Lorenz zu: »Rette das Bild des Friedeli.«
Die Gasse war ganz voll Leute; einiger Hausrat lag schon im Wege; ich sah erst gar nicht danach hin, mir war's ganz gleich, was sie gerettet hatten. Ich drängte mich zwischen den Menschen durch, die vor mir zurückwichen. Es war so hell, daß man die Gesichter erkennen konnte; doch behielt ich nur den Messerschmied Karg in Erinnerung, weil ihm drei Kinder gestorben waren; die andern Leute sah ich nur wie im Traume.
Auf den Türmen wurde Sturm geläutet; das Feuerhorn gellte durch die Straßen, und in den Häusern schienen die Lichter lebendig geworden zu sein; sie liefen hin und her – bald leuchteten sie aus diesem, bald aus jenem Fenster.
Einmal kam mir ein Trupp Soldaten entgegengelaufen; da bog ich in eine Seitengasse und drückte das Lorle fester an mein Herz, als hätten sie mir es rauben wollen.
Zuweilen gab's einen pfeifenden Ton in der Luft und einen Lichtschein, der schnell erlosch, zugleich mit dem Donner der Kanonen; das war jedesmal eine Brandkugel, die über mir dahinsauste. Denn in dieser Nacht schossen die Kaiserlichen ohne Aufhören. An drei verschiedenen Stellen brach das Feuer aus; aber nur unser Haus nebst den Nachbarhäusern brannte bis auf den Grund danieder. Es war eine große Gefahr für die ganze Stadt; die Brunnen waren zugefroren und der scharfe Wind wirbelte die Funken nach allen Seiten.
Auf einmal merkte ich, daß ich ganz vom Wege abgekommen war. Nachdem ich aber einen Augenblick stille gestanden, besann ich mich wieder und fand die Richtung, obwohl die Gassen, die das Feuer nicht erhellte, dunkel waren.
Die Mutter saß schon auf dem steinernen Sitz vor der Haustür; sie hielt die weinende Susi im Arm, und ich setzte mich mit dem toten Lorle ihr gegenüber.
»Kommst du endlich?« fragte die Mutter. »Ich bin schier vor Angst vergangen.« – Nach einer Weile sagte sie wieder: »Es ist bitterkalt. Die Susi weint vor Kälte.«
Nun wußte ich, was die Mutter wollte; den Mantel wollte sie, in den das Lorle gehüllt war.
Großer Gott, du weißt, daß ich keine schlechte Mutter gewesen bin und für die Susi mein Leben gelassen hätte; doch in dieser Stunde dünkte es mich hart und grausam, daß ich ihretwillen das tote Lorle in seinem Hemdlein der Kälte preisgeben sollte. Aber obwohl mir's schwer ankam, gab ich der Mutter den Mantel, und drückte das Lorle nur noch fester an mein Herz. Ich selbst habe keine Kälte gefühlt.
O Gundel, was war das für eine Nacht! Der Feuerschein hatte zugenommen; von den Türmen wurde noch gestürmt; dazu viel Lärm, obwohl nur aus der Ferne, und von hüben und drüben das Donnern und Krachen der Kanonen. Die Mutter aber sagte nur von Zeit zu Zeit: »Wo nur die Anne bleibt?« – Doch überlegte ich nicht, weshalb sie nach der Anne seufzte.
Auf einmal besann ich mich, daß wir noch immer vor der Türe saßen und sagte: »Mutter, lasse uns ins Haus gehn.«
»Ach Bärbel, ich habe ja in meiner Angst den Schlüssel vergessen. Die Anne ist nach dem Schlosser gelaufen. Sie muß bald wiederkommen.«
Ich hatte doch eben viel größeres Unglück erlebt; daß uns der Schlüssel fehlte, wäre wohl zu ertragen gewesen. Aber gerade an dem kleinen Unfall wurde mir das große Elend so recht bewußt, und es packte mich ein grenzenloser Jammer. Gott allein verstehet der Menschen Seele; die Weltweisen tasten nur mit groben Fingern daran umher; aber ihr wahres Wesen bleibt ihnen verborgen. Siehe, der Schmerz war so groß, daß er mich getötet haben würde, wenn ich ihn lange hätte tragen sollen.
Als wir endlich in das finstere kalte Haus eintraten, habe ich auf einmal verzweifelt aufgeschrien, als ob's auf dieser Welt für mich nichts gebe wie das tote Kind: »Wo soll ich das Lorle betten, Mutter?« – Dann war mein Herz wie gestorben und ich habe nichts mehr gefühlt
Stumm und tränenlos, die kleine Leiche im Arm, saß ich ohne mich zu rühren. Mit starren Augen sah ich, wie die Mutter der Susi ein Lager bereitete und die Anne Feuer im Ofen machte. Ich hörte auch wie die Mutter sagte: »Hilf Himmel, nun hat auch das Bärbel seinen Verstand verloren.« – Aber ich konnte mich nicht rühren.
Gegen Morgen kam der Lorenz bis zum Tode erschöpft. Sein Haus war niedergebrannt und was von seinem Warenlager das Feuer verschonte, das hatten die Soldaten beim Löschen geplündert. Aber als er mich so starr und stumm sitzen sah, ist ihm das doch der härteste Schlag gewesen.
Gott segne sein tapfres Herz! Er verlor nicht den Mut. Wie man einem schlafenden Kinde sanft die Docke aus den Armen windet, so nahm er mir das Lorle ab. Ich sah ihn finster an, doch ließ ich ihn gewähren. Dann setzte er sich zu mir, schlang seinen Arm um mich und sprach: »Gelt, Fraule, das tote Lorle hat mir dein Herz nicht fortgenommen?«
O mein Gott, wo wären wir ohne die Liebe, die du in der Menschen Herz gelegt hast! Der Krampf, der mir die Brust umschnürte, löste sich und ich konnte an seinem Halse weinen.