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Was ich jetzt von meinem Ohm, Simon Grimm, erzählen will, habe ich als unmündiges Kind erfahren: konnte also den Kummer meiner Mutter um ihren Bruder und dessen Familie noch nicht verstehen. Nachmals aber, wie ich eine verständige Jungfer geworden bin, hat die Mutter mit mir viel über diese Erlebnisse geredet, so daß es mir fast scheint – zumal ich die Personen kannte – als ob ich alles selbst erlebt hätte, und so will ich's auch berichten. Es wird wohl Christoffer Grimm – Simons Enkel – nicht unlieb sein, von seinem Ahn etwas zu hören. Ich mag aber nicht loben, was tadelnswert ist, und wenn's dem Christoffer aus dieser Ursache nicht gefällt, soll er nicht weiter lesen.
Simon Grimm, meiner Mutter einziger und viel älterer Bruder, hatte, wie sein Vater, die ärztliche Kunst erlernt. Die Muhme Afra, sein Weib, pflegte aber oftmals zu sagen: »Weiß nicht, wie's der Simon anfängt, aber sie sterben ihm unter den Händen weg.« – Woraus ich schließe, daß Ohm Simon kein ausgezeichneter Medicus gewesen ist. Er soll auch nicht viel Freude an seinem Beruf gefunden haben, und nach der furchtbaren Pest von 1521 wurde er ihm vollends verleidet.
In damaliger Zeit nahm die Buchdruckerkunst einen gewaltigen Aufschwung, und da mein Ohm alles Neue mit großem Eifer erfaßte, wandte er sich derselben zu. Meinen Eltern demonstrierte er, daß bald niemand mehr nach den Ärzten fragen würde, denn die Rezepte würden alle gedruckt werden. Wer möchte dann wohl noch einen Doktor teuer bezahlen, da man doch, wenn man sich ein Rezeptenbuch kaufte, alle Krankheiten nach der Methode der gelehrtesten Medici kurieren könne. Hingegen dürfe man auf die Buchdruckerkunst, in einer Zeit wie die unsere, die größten Erwartungen setzen. Es könne niemand leugnen, daß in jedem Jahre eine erstaunliche Menge Bücher gedruckt und immer von neuem gedruckt würden. Dazu würfen sich die Gelehrten mit großem Eifer auf das Bücherschreiben; weshalb er behauptete, daß ein Buchdrucker in kurzer Zeit ein reicher Mann werden müsse.
Bei meinem Vater fand Ohm Simon geringen Widerstand, weil er mit dem Schwager über den Druck seiner seltenen Manuskripte verhandeln konnte. Beide hatten auch mehr Verkehr miteinander, als ehemals.
Nicht lange darauf erhob sich in Wittenberg der Streit wegen des Evangeliums. Da warnte mein Vater: »Laßt Euch mit dem neuen Glauben nicht ein, Simon. Es ist schon mancherlei Neues aufgekommen und wieder, ohne Spuren zu hinterlassen, vorübergegangen. Sobald wirft einer nicht um, was schon Jahrhunderte bestanden hat.«
Die Mutter redete noch eindringlicher, denn ihr lag's am Herzen; aber das Rad war im Rollen und der Ohm predigte: »In der Weltgeschichte gibt's ab und zu einen gewaltigen Ruck; es ist, als ob ein Karren, der im Schlamme festgefahren war, von einem, der die Kräfte hat, herausgezogen würde und dann lustig weiterrollte. Der Doktor Luther in Wittenberg ist so einer, der uns mit einem Ruck in neue Bahnen geschoben hat. Nun mögt ihr schreien, soviel ihr wollt: ›Haltet ihn auf! Wir rollen in einen Abgrund – ins ewige Verderben.‹ Der Luther peitscht wacker auf die Gäule, und holterdiepolter geht's weiter. Wir aber, dir wir längst aus dem Schlamm hinaus verlangten, merken, daß es bergan geht, und rufen: ›Fahr' zu, starker Held, fahr' zu!‹«
Es hatte irgendein erbittertes Mönchlein eine Schmähschrift gegen bischöfliche Gnaden losgelassen, die zu drucken Ohm Simon sich nur zu willig fand. Die Strafe traf ihn hart. Seine Druckerei wurde geschlossen, die Pressen und alle Typen vernichtet.
Jetzt will ich einschalten, auf was ich mich noch aus jener Zeit erinnere.
An jedem Freitag in der Frühe stand ich am Fenster und schaute auf den Weinmarkt hinaus, wo wir dazumal noch wohnten. Ich wußte, daß etwas kommen würde, daran ich Freude hätte. Hörte ich dann von fern helle Knabenstimmen, klatschte ich in die Hände und rief: »Mutti, sie kommen schon!«
Dann nahm die Mutter einen Korb mit Brot und Fleisch, auch ein Beutelchen mit blanken Hellern, und wir stellten uns vor der Haustür auf. Unterdes kamen die Stimmen näher und näher; ich konnt's kaum erwarten, bis die Schüler vor uns standen und sangen, denn ich bildete mir ein, gerade so müßten die Engel im Himmel singen, nur daß die noch Flügel und goldene Gewänder trügen.
Trotzdem mir der Gesang so gut gefiel, mag er wohl manchmal recht falsch geklungen haben, denn die Knaben waren ungeübt. Der evangelische Geistliche, Elias Hausmann, war später der erste, welcher den armen Schülern Unterricht im Singen gab.
Wenn die Knaben ihren Sang beendet hatten, durfte ich Brot und Fleisch austeilen; das tat ich gar zu gern; sie meinten's auch gut mit mir und nickten von der nächsten Türe mir noch oftmals zu.
Als wir nun wieder einmal die Treppe hinunter stiegen, merkte ich, daß meine Mutter weinte.
»Warum bist betrübt, Mutti?« fragte ich.
Da trocknete sie die Augen und sagte: »Weil ich ansehen muß, daß mein eigen Fleisch und Blut vor andrer Leute Türen betteln geht.«
Und richtig, unter den Knaben sah ich den Luz, den Sebastian und den Friedel Grimm, meine Vettern. Sie sangen mit frischen Stimmen und sahen so vergnügt aus, als ob Singen und Betteln ein großer Spaß wäre.
»Sie wissen halt noch nicht, wie bitter die Armut ist«, sprach meine Mutter.
Dieses trug sich zu, bald nachdem meinem Ohm die Druckerei geschlossen worden war.