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Anfangs meint man, es sei unerträglich, eingeschlossen zu bleiben. Man schaut von den Wällen ins Land und fragt sich: »Wirst du je wieder zwischen bestellten Feldern spazieren gehen und im Birkenwald die Drossel schlagen hören?« – Es schnürt einem die Brust zusammen, als ob ihr schon die frische Luft mangle. Aber nach einiger Zeit hat man sich an das Gefangensein gewöhnt.
Die Kaiserlichen schienen es mit der Eroberung nicht eilig zu haben. Nur ab und zu warfen sie ein paar Kugeln in die Stadt. Schertlin unternahm dagegen einige Male Ausfälle, die glücklich abliefen, auch brachte er Gefangene zurück, die gegen Ranzion wieder freigelassen wurden. Noch herrschten weder Krankheiten oder Mangel an Lebensmitteln, und man baute allgemein auf einen glücklichen Ausgang.
Da die Herren vom Rat und einige Beamte die Bewachung der Tore übernommen hatten, brachte Lorenz manche Stunde auf der Wachtstube zu und hatte nicht mehr Zeit, in seinem Kontor zu arbeiten; denn auf dem Rathause fanden auch fast täglich Beratungen statt.
Ich will mir nicht anmaßen, über meine Mitbürger zu Gericht zu sitzen, Gundel; doch kam mir vor, als sei ihr Sinn zu sehr von kleinlichen Interessen erfüllt. Daß der Zwiespalt in der Religion fühlbarer wurde, als der Kaiser die Stadt um ihres Glaubens willen belagerte, während ein großer Teil der Bürgerschaft zu ihm und der katholischen Kirche hielt – das konnte ich verstehn. Aber daß die Streitereien zwischen den Geschlechtern und Zünften nicht aufhörten, hat mich schier verdrossen.
Blicke ich aber auf die Zeit zu Anfang der Belagerung zurück, ist mir, als wäre ich nie glücklicher gewesen. Mag sein, daß die Gefahren, die uns von allen Seiten drohten, uns so recht ins Bewußtsein brachten, welch teuern Besitz wir noch unser eigen nannten.
Die Nähe der Eltern tat mir auch gut; ohne sie hätte ich viel allein gesessen und die Kinder machten mir tausend Spaß; das Lorle wurde alle Tage gescheiter und Susi gab uns immer etwas zu lachen. Einmal, als sie die Kanonen donnern hörte, sagte sie: »Das sind dem Kaiser seine Brummochsen; der Schertlin hat aber auch Brummochsen. Höre nur, wie sie ›brum, brum‹ machen.«
Wurde es dunkel, so ging Andreas heimlich zur Hanne mit dem krummen Arm, wie sie genannt wurde, und holte Milch. Die Frau hielt die Kuh im Hofe verborgen, damit die Soldaten sie nicht fortführten; denn die Milch war schon damals rar in der Stadt. Setzte der Andreas den gefüllten Topf auf den Tisch, dann jauchzte das Lorle und streckte ihm seine Händlein entgegen: ich aber betete: »Ach lieber Gott, erhalte mir nur die Kuh.« – Denn schau, das Lorle mochte durchaus nie etwas andres als Milch zu sich nehmen.
Gegen Anfang Dezember bekam aber alles ein ernsteres Aussehen. Das Wetter wurde abscheulich; es regnete und regnete alle Tage; der Schmutz lag fußhoch in den Straßen. Die Krankheiten fingen an die ersten Opfer zu fordern, und die Leute ließen gleich die Flügel hängen. Manche hatten freilich ihre Vorräte auch schon aufgezehrt und die Not stellte sich bei den Armen ein. In einer belagerten Stadt ist aber niemand so reich, daß er von den allgemeinen Übelständen unbehelligt bliebe. Wir dankten Gott, weil wir genug besaßen, um anderen zu helfen. Alle Tage wurde ein Kessel voll Suppe gekocht; aber alle Tage fanden sich auch mehr Arme ein, als man befriedigen konnte.
Damals hat mir kein Bissen geschmeckt, weil ich täglich die bleichen, eingefallenen Gesichter sehen mußte, die von bittrer Not erzählten. Manche trugen auch elende Kinder auf dem Arme; die taten mir am meisten leid. Du hättest sehen sollen, wie die, welche fürchteten nichts zu bekommen, mit den leeren Töpfen über den Köpfen der Vorderen winkten; und doch mußte man sie ungesättigt gehen lassen; die Suppe langte jeden Tag weniger zu. Schloß Andreas endlich, weil der Kessel geleert, die Türe, so gingen die Ärmsten nur langsam fort und blickten sich noch oftmals um, als hofften sie, wir würden barmherzig sein und sie wieder zurückrufen. Gott mag mich bewahren, soviel Elend je wieder zu schauen!
Unter diesen armen Leuten erblickte ich eines Tages Wiker Frosch. Das war mir ordentlich eine Freude und ich drängte zu ihm hin. Ach, du barmherziger Himmel, wie sah der arme Narr verfallen aus! Um der Kinderfreundschaft willen kam mir das Herz auf die Zunge und ich sprach freundliche und tröstende Worte zu ihm.
Er aber antwortete mit einer hohlen Stimme: »Es verlangt mich nicht nach Essen, Frau Barbara; es verlangt mich, Euch noch einmal zu sehn.«
Da kam ein so großes Erbarmen über mich, daß ich der Gefahr vergaß und meine Hand ausstreckte, um ihn ins Haus zu führen.
Aber er wich zurück und wehrte meiner Bitte: »Ich könnte Euch das böse Fieber hineinschleppen.« – Dann drängten andre zwischen uns, so daß ich ihn aus den Augen verlor, und als ich mich nach meinem Schulkameraden umschaute, fand ich ihn nicht mehr und habe ihn nimmer wieder gesehen.
Von Woche zu Woche stieg die Not. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell das Elend in einer belagerten Stadt zunimmt. Auch das Fieber griff furchtbar um sich. Kein Tag verging, an dem man nicht etwas Trauriges hörte. Dem Messerschmied Karg starben in wenig Tagen drei Kinder, der Langin die älteste Tochter. Solcher Jammer schnitt mir ins Herz, und fast verlor ich meinen Mut. Doch Lorenz bewahrte ein fröhliches Gottvertrauen und richtete uns alle auf. Er sah immer über das naheliegende Übel hinweg und dachte an die großen Dinge, um derentwillen wir also litten. Nur vor den Eltern redete er nicht davon, weil die Mutter auf der andern Seite stand, und der Vater viel von seinem Eifer für das Evangelium verloren hatte.
Jeden Morgen las Lorenz ein Kapitel aus der Bibel vor und sprach einige Worte des Trostes, womit er unsern Mut wieder belebte, so daß wir gestärkt an die Arbeit gingen. Ich sah täglich mehr ein, daß Gott mir einen braven Mann gegeben habe und liebte und ehrte ihn auch alle Tage mehr. Nie fühlt man sich aber so stark in der Liebe, als unter schwerem Schicksalswetter.
Am Tag vor dem heiligen Weihnachtsfeste schlug das Wetter um. Vom Osten her kam ein eisiger Wind. Wer noch viel Holz in seinem Keller barg, sagte: »die Kälte ist heilsam; nun werden die Krankheiten nachlassen«. – Aber die, welche an einem Herd mit toter Asche saßen, fürchteten sich vor dem strengen Winter.
Am heiligen Weihnachtsabend rückten wir uns den Tisch an den warmen Ofen. Der Vater saß in seinem Lehnstuhl und las uns eine Rede des Cicero vor, die er soeben übersetzt hatte. Nur manchmal unterbrach er sich, schaute traurig zu uns hinüber und seufzte: »Was für ein Weihnachten!«
Mir aber kam es vor, als dürfe man an einem Tage, an dem uns der Heiland geboren wurde, den Kopf nicht hängen lassen, und darum versuchte ich mit einem Spaß den Vater aufzuheitern; da wurde er zuletzt auch lustig und verspottete die Mutter wegen der Lebkuchenmännlein, die sie vergoldete, während ich eine Docke für Susi anputzte. Wir saßen gar friedlich beieinander; die Anne und meine Magd lasen Linsen, und die Tür nach der Kammer, darin unsere Kinder schliefen, stand offen.
Wie das alles wieder so lebendig vor meine Augen tritt! Ich könnte das Bild malen.
Da hörten wir draußen im Flur Stampfen, und meine Mutter sagte: »Wie mich däucht, schüttelt Andreas Schnee von seinem Wams.«
Andreas hatte nämlich eine Kanne guten Weines seinem Herrn auf die Wachtstube getragen. Wie er jetzt eintrat, sah ich ihm gleich an, daß etwas Schlimmes vorgefallen wäre. Ich sprang auf und meine Gedanken waren bei Lorenz. Andreas las in meinen Augen die große Angst und sagte deshalb schnell: »Der Herr läßt Euch grüßen, Frau, und sollet seinetwegen bei Leibe nicht Euch sorgen.«
Da wurde mir zwar leichter; aber ich spürte es in den Gliedern, so daß ich mich setzen mußte.
»Hat's etwas gegeben?« fragte die Mutter.
»Ja, Frau; der Herr hat mit einem Gefangenen geredet, der behauptet, er sei dabei gewesen, wie zwischen München und Regensburg ein Fuhrmannswagen mit feiner Ware geplündert worden sei. Ein mehreres hat der Herr von dem Menschen, der verstockt und unwissend gewesen, nicht herausbekommen.
Da falteten sich meine Hände wie von selbst und ich sagte: »So ich erfahre, daß Georg Heller und die Knechte mit dem Leben davongekommen sind, will ich sprechen: Gelobt sei Gott! Er hat mir Vater und Mutter, Gatten und Kinder erhalten, möge er uns auch ferner gnädig beistehn.«
Der Lorenz hat's mir nie vergessen, daß ich ihm nach dieser Unglücksbotschaft keinen Vorwurf machte. »Schau, Fraule«, sprach er, als er heimkam, »du hast recht behalten. Ein großer Gewinn ist in einen großen Verlust ausgeschlagen. Der Krieg greift mit rauher Hand zu. Aber, sowie ich nur wieder arbeiten und schaffen kann, wollen wir schon vorwärts kommen; wenn auch auf einem mühevolleren Wege, als ich zuerst gehofft habe.« – Und nachdem wir gemeinschaftlich für die Seelen der Erschlagenen – zu denen wir Georg Heller und die Knechte rechneten – gebetet hatten, schliefen wir ein und schliefen ruhig; denn da es die heilige Nacht war, fiel auch nicht eine Kugel in die Stadt.
Das aber war die letzte Nacht, in der keines meiner Lieben fehlte.
Am andern Tage verbreitete sich das Gerücht, die gefangenen Deutschen und Spanier gebe man zwar gegen Lösegeld frei, die Italiener aber wolle man ertränken. Darüber ward mein Vater gar sehr aufgebracht. »Die Italiener sind mir fast so lieb wie Landsleute. Ich darf nicht dulden, daß man sie wie tolle Hunde behandelt.«
Die Mutter meinte zwar, seit die Kaiserlichen vor den Toren, sei das Lügen im Schwange, denn sie ließ den Vater ungern fort, mit dessen Gesundheit es nicht gut bestellt war. Aber der Vater bestand darauf, sich zu informieren.
Ich sehe noch, wie die Mutter ihm die mit Pelz gefütterte Schaube anlegen half und wie Susi mit dem Hut vor ihm herumtanzte; dann trat ich mit Lorle ans Fenster, um dem Vater nachzusehn.
Auf einmal kam ein Tumult die Straße herunter. Ich drückte das Kind der Anne in den Arm, weil ich das Fenster öffnen wollte und draußen ging noch immer ein scharfer Wind.
Es kamen mit Geschrei viele Leute gelaufen, allen voraus ein Soldat – ein junges Blut; er mochte nicht mehr wie achtzehn Jahre zählen. Indem nun der Vater aus dem Hause trat, warf sich der Jüngling vor ihm nieder, umfaßte seine Knie und rief auf Italienisch: »Um der Jungfrau Maria willen, rettet mich, Herr! Rettet mich!«
Dieses wundersame Zusammentreffen ist mir immer als eine Fügung Gottes erschienen, und aus dieser Ursache war mir das, was daraus folgte, auch leichter zu ertragen.
Unterdes hatte sich die Straße mit Menschen angefüllt; die Fenster öffneten sich und überall kamen neugierige Gesichter hervor.
»Das ist der Ittenhausen, ein Geschlechter, der großes Ansehn in der Stadt genießt«, hörten wir die Leute sagen. Der Profoß aber schien sich nicht daran zu kehren und wollte den geängstigten Burschen von meinem Vater reißen; doch dieser wehrte ihm mit einer Miene, der er sich nicht zu widersetzen wagte. »Dieser Jüngling«, sprach mein Vater vernehmlich, »hat sich zu mir geflüchtet, in dem Vertrauen, daß ich ihn schützen werde, und so Gott will, soll er sich nicht getäuscht haben. – Folgt mir zum Feldhauptmann.«
Als mein Vater an unsern Fenstern vorüberging, winkte er mit der Hand hinauf und lächelte uns zu.
Weil nun das Volk neugierig nachlief, rief Susi: »Unser Ahn ist König geworden; die Leute müssen ihm alle folgen nach seinem Willen.«
Mein Herz aber schwieg und hat mir nichts verraten; so habe ich nicht geahnt, daß ich meinen Vater zum letzten Male lächeln sah.
Soweit es in einer so schweren Zeit möglich war, wollten wir den heiligen Weihnachtstag festlich begehn. Veit Ehem, dem mein Pantoffel noch zu keiner Hausfrau verholfen hatte, und Doktor Bernhard Schludin waren dazu geladen; aber trotz der Gäste sollte niemand aus dem Geschäfte, noch die Dienstboten an der Tafel fehlen.
Ich hatte für diesen Tag das beste aufgespart, und gedachte die Meinen mit eingelegten Früchten und Marzipan, ja sogar mit Äpfeln und Nüssen zu überraschen. Im Kessel kochte auch ein großer Schinken und eingelegtes Kraut. Mit Hilfe der Anne hatte ich die Tafel in der Wohnstube schon gerichtet. Der Wein war in die Krüge gefüllt worden, und die Kerzen auf den silbernen Leuchtern brannten.
Da vernahm ich einen Schrei – einen verzweiflungsvollen Schrei, der mir noch heute in den Ohren gellt.
Die Anne und ich, wir ließen fallen, was wir in den Händen hielten und starrten uns an; wir wußten nicht, woher der Schrei gekommen war und horchten, ob er sich noch einmal wiederholen würde; aber einen Augenblick blieb alles still; dann ging die Tür auf und Lorenz trat ein.
Ich wollte ihn fragen, was vorgefallen wäre; aber weil er ganz verändert aussah, wurde mir die Zunge wie gelähmt. Er umfaßte mich und sprach mit einer Stimme, darin ein tiefes Mitleid lag: »Fraule – die Prüfung kommt von Gott – sei standhaft und hilf's der Mutter tragen.«
Wie von einem Blitz getroffen, stürzte ich nieder und schrie: »Mein Vater!«
Lorenz hob mich zärtlich auf: »Um der Mutter willen wirst du stark sein, Bärbeli! die Zeit ist hart und will von jedem ein Opfer heischen.«
Ich konnte nicht recht fassen, was er sagte. Wie Leben sich in Tod verwandelt, das begreift auch der Weiseste nicht; daran gewöhnt man sich allein, weil's eben nicht zu ändern ist, und ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, daß ich den Vater nie mehr – nie mehr wiedersehen sollte.
Ich fühlte keinen Schmerz, nur Eiseskälte, die bis in die Fingerspitzen drang; dann wurden mir alle Glieder steif und nur ganz langsam brachte ich hervor: »Ich will zur Mutter gehn.« – Und wie ich die Worte sprach, wußte ich, daß es die Mutter gewesen, die den Schrei ausgestoßen, und daß sie um des Vaters Tod schon wußte.
Als mich Lorenz auf den Flur geleitete, sah ich fremde Männer stehen und eine Bahre, darauf einer lag, über den eine Frau sich geworfen hatte.
Ich sitze nun eine ganze Weile mit der Feder in der Hand, um zu erzählen, wie wir des Vaters Tod getragen haben – und finde nicht die Worte. Es ist schon lange her; der Schmerz ist überwunden; die am meisten gelitten hat, ist mit dem Gatten wieder vereint, und noch finde ich nicht Worte.