Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auf dem erhöhten Südufer der Insel Une thront ein einsames Haus in europäischem Stil. Vom Meer und den grünen Inseln umgeben sieht es aus wie das Asyl eines Menschen, der auf der Flucht vor der Welt und ihren Bewohnern diesen stillen Erdenwinkel aufgesucht hat, um ein beschauliches Dasein zu führen.
Ein verfallener Steindamm führt unterhalb des Hauses ins Meer. Hier befestigten wir unsere »Binar« und untersuchten die Umgebung. Das Gebäude war ein verlassener portugiesischer Fiskalsitz; die hier gelebt hatten, waren also nicht freiwillig in das weltentrückte Heim gezogen.
Gerade neben unserem Anlegeplatz wurde das Meer von starken Strömungen aufgewühlt und schien besonders tief zu sein. Während wir sonst überall die Tiefe des seichten Wattmeeres mit einem nur wenige Meter langen Lot bestimmen konnten, erreichten wir diesmal auch mit unseren längsten Leinen den Meeresboden nicht. Es fiel mir auf, daß hier keinerlei Fischschwärme zu sehen waren, wie sie sonst in der Nähe des Ufers stets vorbeiziehen. In der Tiefe schienen mächtige Raubfische zu hausen, die ihre kleineren Brüder verjagt hatten.
Da wir spät am Abend angekommen waren, begnügten wir uns damit, einen schönen Lagerplatz am felsigen Ufer ausfindig zu machen und beschlossen, unser Gepäck erst bei Tageslicht auszuladen und die eine Nacht an Bord zu verbringen.
Mitten in der Nacht – wir waren alle bereits eingeschlafen – wurden wir durch einen unsanften Stoß geweckt. Kaum konnten wir uns zurechtfinden. Unser Boot stand so schief, als ob es gerade kentern wollte. Es war während der Nacht Gezeitenwechsel eingetreten. Der Wasserspiegel war mehrere Meter gefallen und lag tief unter unserem Kiel. Das Boot hing mit einem Neigungswinkel von über 45 Grad seewärts an einem Felsen des Steindamms, der steil zum schwarzen Himmel emporragte. Die neuen Manilaseile, die uns festhielten, gaben den hellen Klang einer Violinsaite von sich, wenn man mit einem Stock gegen sie schlug. Wäre ein Tau gerissen, hätten wir unweigerlich kentern müssen; das alte Schiff wäre nach solchem Sturz wohl unbrauchbar gewesen.
Auch die Ladung hatte wieder einmal eine Feuerprobe bestanden, sie war nicht ins Schlingern geraten, was die Seile wohl nicht ausgehalten hätten. Ich überlegte, ob ich einzelne besonders wertvolle Stücke unseres Gepäcks in Sicherheit bringen lassen sollte, entschloß mich aber doch, das Schiff lieber nicht überflüssigerweise zu erschüttern. So verbrachten wir denn in dieser Lage eine recht unbehagliche Nacht und atmeten auf, als die einsetzende Flut den Wasserspiegel so weit hob, daß sich die »Binar« wieder langsam aufrichten konnte.
Morgens, als wir eben dabei waren, ein Lager aufzuschlagen, erschien ein schwarzer Polizist und forderte uns auf, den Fiskal zu besuchen. Erst jetzt erfuhren wir, daß am Tage vor unserem Eintreffen ein weißer Portugiese den Fiskalsitz wiederum besetzt hatte. Wir machten uns denn unverzüglich auf und trafen einen kaum zwanzigjährigen Portugiesen, der uns mit herzlicher Gastfreundlichkeit entgegenkam und uns einlud, den Abend gemeinsam mit ihm zu verbringen. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir, daß die Verwaltung in Bolama von den vielen Übergriffen der schwarzen Soldaten auf Une erfahren hatte. Einige hätten ihre Raubzüge mit Vorliebe auch auf andere kleine Inseln, wie Urakan und Eguba ausgedehnt. Der junge Fiskal sollte nun die Schuldigen strafweise abberufen. Dies war eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Ich konnte mich einiger Zweifel nicht erwehren, ob ihr der so jugendliche Beamte auch gewachsen sei. Im Laufe des Gesprächs aber entwickelte der junge Mann so viel gesunden Menschenverstand und zeigte neben jugendlicher Begeisterung so viel ernsten Willen, daß ich innerlich die Verwaltung zu ihrer Wahl beglückwünschte. Wir verbrachten in der Folge manchen Abend mit dem Fiskal und hatten Gelegenheit, festzustellen, daß der erste Eindruck nicht getrogen hatte.
Von meinem Feldbett aus sah ich am anderen Morgen, wie sich einige Mädchen und Frauen in einer Entfernung von etwa zwei Kilometern am Strande etwas zu schaffen machten, und schlich mich gedeckt langsam an sie heran. Da sah ich, daß sie emsig damit beschäftigt waren, Austern von den bei Ebbe trocken liegenden Riffen zu schlagen; geschickt und unglaublich rasch hieben sie ein Schalentier nach dem anderen mit Hilfe kleiner Äxte von den Steinen ab, öffneten sie und sammelten die gallertartigen Körper in Kürbisschalen. Da die Austern hier sehr klein sind, waren viele Hunderte dieser Tiere nötig, ein Gefäß zu füllen. Die Arbeit war daher außerordentlich mühselig.
Langsam kam ich schließlich auf wenige Meter Entfernung heran, ohne daß die fleißigen Arbeiterinnen mich wahrgenommen hatten. Auf einmal blickte eine junge Frau, die ein kleines Kind auf dem Rücken trug, auf, stieß einen lauten Entsetzensschrei aus und war im Nu mit allen ihren Gefährtinnen verschwunden. Da wurde mir erst bewußt, daß ich, bekleidet mit einer Schwimmhose, einem Tropenhelm und grüner Brille, kaum gesellschaftsfähig aussah. Vermutlich hatten mich die Mädchen, wenn für nichts Schlimmeres, zumindest für einen Ojinja, einen auferstandenen Toten, gehalten.
Auch auf Une fanden wir alle Dörfer leer; der gute Bauzustand und das bewohnte Aussehen der Häuser zeigten, daß menschliche Bewohner sie vor nicht allzulanger Zeit fluchtartig verlassen hatten.
In einem schönen Dorf fiel mir ein Haus auf, das sich schon von weitem durch seine Größe und durch seine Färbung von den übrigen Gebäuden unterschied. Ich öffnete die unverschlossene Tür und blieb, sobald sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, überrascht stehen. Es war ein Fetischtempel, in den ich eingedrungen war. Der Fetisch selbst erinnerte an die Königsfetische auf der Insel Orango Grande, die Lehmwände des Tempels aber waren hier über und über mit den verschiedensten Darstellungen in schwarzer und roter Farbe bemalt. Da war ein Hahnenkampf zu sehen, hier ein Krokodil, das eben einen Eingeborenen fraß, während ein zweiter Mann das Reptil am Schwanz zog, um es auf diese Weise von seinem Beginnen abzuhalten. Darunter zappelte ein Eingeborener, der sich vor dem drohend geöffneten Rachen eines Flußpferdes zu retten suchte. Der Künstler hatte Humor: dem Flußpferd entglitten, wohl in der Aufregung des Kampfes, einige runde Fladen. Viele andere Begebenheiten aus dem Leben der Eingeborenen waren noch im Bilde festgehalten. Ein großer Bidyogo-Einbaum mit bewaffneter Bemannung und einem Steuermann machte Jagd auf einen mächtigen Hai, der das Boot bei weitem an Größe übertraf. Auch ein Hammerhai mit breitem unförmigem Kopf war zu sehen, daneben Affen, Frauen, die Körbe auf dem Kopf trugen, Eingeborene, die einen Toten zu Grabe brachten, ja selbst die Darstellung eines europäischen Fahrzeuges. Alles war verblüffend naturgetreu wiedergegeben und immer war das Wesentliche erfaßt. Die Bewegungen der Gestalten wirkten außerordentlich lebendig auf dem mit großen weißen und roten Vierecken bemalten Hintergrund.
Als ich mich lange genug dem wundersamen Eindruck hingegeben hatte, entschloß ich mich, die gute Gelegenheit zu benützen und in Abwesenheit der Eingeborenen einige farbige Blitzlichtaufnahmen zu machen. Farbenplatten hatte ich immer bei der Hand, und dies kam mir zustatten. Solche Aufnahmen verlangten aber die vielfache Dosis an Blitzlichtpulver, außerdem mußte ich ziemlich stark abblenden, um, trotz der starken Krümmung der Hauswand, alle Einzelheiten scharf auf die Platte zu bekommen. So kam es, daß ich eine sehr große Menge Pulver errechnete und mich eines leichten Unbehagens nicht zu erwehren vermochte, da das ausgetrocknete Strohdach zweifellos wie Zunder Feuer fangen und daher, besonders jetzt in der trockenen Jahreszeit, das ganze Dorf durch mein Unternehmen gefährdet werden konnte. Doch frisch gewagt ist halb gewonnen, ich baute aus den verschiedenen Opfergefäßen einen Feuerfänger über dem Pulver auf und stellte den Apparat ein. Da gewahrte ich einen alten Mann, der unbemerkt den Tempel betreten hatte. Er stand neben dem Fetisch und ließ mich nicht aus den Augen. Von einem einzelnen hatte ich wohl nichts zu fürchten! So drückte ich denn auf den Kontakt des elektrischen Auslösers, mit starkem Knall explodierte die gewaltige Pulvermenge. Gespannt wartete ich, bis sich der Rauch verzogen hatte. Nun aber geschah etwas Unerwartetes. Der Greis, der mich bewegungslos angestarrt hatte, trat rasch auf mich zu, neigte sich vor mir zu Boden, nahm eine Handvoll Erde und streute sich diese auf den Nacken. Dabei sprach er einige Worte in seiner Sprache. Takr übersetzte sie mir: »Ich bin der Häuptling von Ussokon und habe erkannt, daß du anders bist als die Weißen, die bisher zu uns kamen. Ich danke dir, daß du so an uns gehandelt hast.« Auf meine vorsichtigen Fragen stellte sich heraus, daß der Fetisch, dessen Tempel ich eben photographiert hatte, sein Eigentum, er selbst aber der Häuptling und zugleich oberster Priester von Ussokon war – so hieß das Dorf, in dem sich diese Begebenheit abspielte. Während früher die Macht des Fetisch so groß war, daß die Leute von weit her gepilgert kamen, um ihm Opfer darzubringen, hatte seine Kraft in den letzten Jahren, besonders im Verzweiflungskampf gegen die Weißen, sehr nachgelassen. Nun glauben die Bidyogo nicht nur, daß der Rauch das wichtigste Heilmittel gegen die verschiedensten Krankheiten ist, sondern auch, daß er alle bösen Geister bannt und so die Luft von allem reinigt, was dem Menschen schadet. Der Häuptling war daher der Meinung, ich hätte den dichten Qualm, der die Blitzlichtexplosion begleitete, erzeugt, um die Macht des Fetisch wieder zu stärken. Freude, Dankbarkeit und Vertrauen kamen in den Bewegungen und dem strahlenden Blick des alten Mannes so stark zum Ausdruck, daß ich mich der Rührung nicht erwehren konnte.
Diese Begegnung trug später gute Früchte, es gelang mir mit Hilfe des jungen Fiskal das Leben der Bewohner auf Une etwas erträglicher zu gestalten.