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Die Insel Orango Grande ist ein absolutes Königreich mit genau geregelter Thronfolge. Eingeborene erzählten mir, daß kein Dorf einen eigenen Dorfhäuptling habe, wie das bei den meisten Stämmen üblich ist, sondern daß alle Dörfer direkt dem Herrscher von Orango Grande unterstehen, der in Etikoka, dem größten, im Nordwesten der Insel gelegenen Dorf, seinen Wohnsitz hat.
Alles Land der Insel sowie alle Palmen, wildwachsenden Sträucher und Wurzeln sind Eigentum des regierenden Königs. Jeder Bidyogo, der ein Haus bauen und Felder bestellen will, muß vom König vorher die Erlaubnis einholen. Das ist jedoch nur eine Formsache, es wird jedem ein Strich Landes bedingungslos zugeteilt.
Viele Jahrzehnte hindurch regierte die Königin Pampa Kanjimpa, die ein Alter von über hundert Jahren erreicht haben soll und um deren ruhmreiches Leben sich heute bereits Legenden zu bilden beginnen.
Ich habe schon früher erwähnt, daß auf Orango Grande ein starker mutterrechtlicher Einschlag vorhanden ist, der auf den übrigen Inseln lange nicht so stark hervortritt. Das rührt wohl mit davon her, daß unter der Herrschaft dieser Königin die Rechte der Frauen gegenüber jenen der Männer beträchtlich vermehrt worden sind.
Vor der Königin Pampa regierte ihr Vater Bankanjapa. Da dieser keine Söhne hinterließ, die sein Erbe hätten übernehmen können, kam Pampa als älteste Tochter zur Herrschaft. Hätte seine Tochter gleichfalls nicht mehr gelebt, so wäre die Herrschaft auf seinen ältesten Bruder übergegangen.
Als Königin Pampa Kanjimpa gestorben war, wurde noch an dem Tage, an dem die Totenfeier für sie ihren Abschluß fand, ihr ältester Sohn, Mankaridu Okodoki, in feierlicher Weise zum König gekrönt.
Der König ist unabsetzbar. Mit seiner Machtbefugnis sind die Würden des obersten Priesters und des obersten Richters untrennbar vereinigt.
Er ist von einem Hofstaat umgeben, der stets von seinem Nachfolger übernommen wird. Für ein durch den Tod ausfallendes Mitglied desselben ernennt der Herrscher den Nachfolger. Der Hofstaat des Königs Mankaridu besteht aus zehn Frauen und fünf Männern.
Eigenartig ist es um die Gattenwahl des regierenden Oberhauptes bestellt. Während sonst bei den Bidyogo Ehen zwischen Blutsverwandten, auch zwischen Vettern, auf das strengste verboten sind, ist der Herrscher verpflichtet, eine Vetternheirat einzugehen. Auch dem König ist es aber nicht gestattet, sich um eine Frau zu bewerben, sondern er ist gezwungen, zu warten, bis er von einer seiner Basen erwählt wird. Da alle Basen des jetzigen Königs aber viel älter sind als er und übrigens, wie mein Gewährsmann berichtete, abschreckend häßlich, so besteht für ihn keine Möglichkeit, sich zu verheiraten und legitime Kinder zu bekommen. Daher wird heute bereits sein jüngerer Bruder als Thronfolger angesehen.
Die Einkünfte des Herrschers bestehen aus allem Strandgut und aus den Arbeitsleistungen seiner Untertanen, die er nach freiem Ermeßen zur Bestellung seiner Felder oder zu sonstigen Verrichtungen heranziehen kann. Auch für die Brüder und vor allem für die Mutter des Königs hat das Volk gewisse Arbeiten zu leisten. Es verdient allerdings hervorgehoben zu werden, daß mit diesem Recht kein Mißbrauch getrieben wird. Der Herrscher scheint im Gegenteil mit Eifer zu trachten, das schwere Leben seiner Untertanen zu erleichtern, soviel es in seiner Macht steht. Gerade während unserer Anwesenheit hielt sich König Mankaridu in Bolama auf, um dort sein Vieh zu verkaufen und auf diese Weise nicht nur das Geld für seine Steuern aufzubringen, sondern auch seinen Untertanen mit Geld aushelfen zu können, wie mir zwei Alte berichteten.
Bei der Ausübung seines Amtes als oberster Richter wird der König durch keinen Ältestenrat beeinflußt oder beraten, wie dies bei den Festlandsstämmen vielfach üblich ist. Da den Bidyogo fast alle asozialen Handlungen fremd sind, wird der König nicht allzuoft in die Lage versetzt, ein Urteil zu fällen.
Geld- oder Freiheitsstrafen sind ebenso wie die Todesstrafe unbekannt. Über Lügner und Diebe wird die Prügelstrafe verhängt. Andere Verbrechen gibt es kaum; Mord, Raub und Brandstiftung sind unbekannte Dinge.
Es soll vor Jahren einmal vorgekommen sein, daß ein Bursche ein Mädchen vergewaltigte. Seine Kameraden führten ihm das Unrecht seiner Handlungsweise im guten vor Augen; als der Täter aber noch einmal rückfällig wurde, ließ ihm die Königin eine gehörige Tracht Prügel verabreichen.
Totschlag hingegen, der bei dem Jähzorn der Bidyogo verhältnismäßig oft vorkommt, wird nicht bestraft. Denn man ist des festen Glaubens, daß der Tote aufersteht und sich an dem Täter und seiner ganzen Familie selbst rächt, indem er alle zu Tode martert. Um diesem Schicksal zu entgehen, und um vor allem die Kinder zu retten, an denen die Bidyogo mit ganzer Liebe hängen, endet der Täter meist durch Selbstmord, durch den seine Übeltat gesühnt wird.
Diese Angaben wurden mir auch später auf der Insel Bubaque von einem dort ansässigen Deutschen bestätigt. Es standen dort im Dienste der Palmölgesellschaft auf den Plantagen auch einige Bidyogo. Einer der schwarzen Aufseher, der sich bei seinen Untergebenen unbeliebt gemacht hatte, wurde eines Tages ermordet aufgefunden. Man warf die Verdächtigen, durchwegs Eingeborene vom Stamme der Bidyogo, ins Gefängnis. Sie weigerten sich alle, den Schuldigen anzugeben, bis sich eines Tages einer von ihnen entleibt hatte. Nun zeigte es sich, daß der Täter, der sich auf diese Weise verriet, schon vorher seinen Kameraden genau bekannt gewesen war, und doch hätten sich diese eher töten lassen, als ihren Stammesbruder zu verraten.
Die Besitzverhältnisse auf Orango sind streng geregelt. Auch hier tritt zutage, daß die Frau der wirtschaftlich stärkere Teil ist. Die Häuser sind das Eigentum dessen, der sie erbaut hat, gehören also fast immer der Frau. Es kommt allerdings auch vor, daß der Mann ein Haus baut, um in den Augen der Frauen begehrlicher zu erscheinen. Doch macht er es in einem solchen Fall meist der Frau, die ihn zum Gatten erwählt, zum Geschenk.
Eigentum der Frauen sind ferner alle Geräte und die gesamte Kücheneinrichtung, die aus Schüsseln, Kalebassen, Körben, Löffeln und dergleichen besteht. Ebenso gehören ihnen die Nahrungsmittel, die sie selbst sammeln und aufspeichern, wie die heute besonders wichtigen Austern, Muscheln, Wurzeln und wild wachsenden Pflanzen. Palmkerne hingegen, die ausschließlich von den Männern geerntet werden, sind deren Eigentum. Dasselbe gilt von den Feldfrüchten, obwohl sich an deren Kultivierung beide Geschlechter beteiligen. Die Haustiere sind Eigentum dessen, der sie erworben hat. Über die Jagdbeute, die Beute des Fischfanges und sämtliche Waffen hat allein der Mann das Verfügungsrecht.
Das Erbrecht ist so geregelt, daß nach dem Tode des Mannes sein ganzer Besitz seiner Witwe zufällt, die aus freien Stücken den nächsten Anverwandten einige Kleinigkeiten schenkt. Sie tut dies mehr zur Erinnerung an den Verstorbenen, als mit der Absicht, einen Wertgegenstand zu verschenken.
Stirbt dagegen die Frau, so geht der Ehemann leer aus; das ganze Erbe wird unter die Kinder aufgeteilt. War die Frau Eigentümerin eines Hauses, so erhält dieses, ohne Rücksicht auf das Geschlecht, das älteste Kind.
Neben diesem Erbrecht gibt es aber auch eine testamentarische Willenserklärung, auf die unter allen Umständen Rücksicht genommen wird. Der Erblasser hat in diesem Falle die ganze Verwandtschaft zusammenzurufen und in dieser Versammlung ausdrücklich zu erklären, auf welche Weise sein Besitz nach seinem Ableben unter die Verwandtschaft verteilt werden soll. Er ist aber auch auf diese Weise nicht berechtigt, seinen Freunden, also Personen, die nicht zur Familie gehören, etwas zukommen zu lassen.
»Welche Waffen habt ihr in euren Kriegen geführt?« Dies fragte ich einen Alten, der schon seit langem durch eine mächtige Narbe, die sich über seine rechte Schulter hinzog und seinen auffallend starken weißen Bart meine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Seit Menschengedenken haben wir Gewehre verwendet, die im Laufe der Zeit von einzelnen europäischen Händlern eingetauscht wurden. Einige hatten Steine an den Hähnen, andere aber brachte man mit einem kleinen gelben Plättchen zur Entzündung, das man unter einen der Hämmer legte. Unsere Königin hatte solche Gewehre in großer Zahl von ihrem Vater, dem König Bankanjapa, geerbt, und sie verteilte diese vor jedem Kriege an die, die selbst keine besaßen; jene Männer aber, für die der Vorrat nicht mehr ausreichte, zogen mit kurzen Speeren bewaffnet in den Krieg, die mit mehrzackigen, kunstvoll geschmiedeten Spitzen versehen und im Nahkampf vortrefflich zu verwenden waren.« »Habt ihr viele Kriege geführt?« erkundigte ich mich weiter. »Davon kannst du überzeugt sein«, lautete die Antwort. »Wir kämpften gegen andere Inseln, vor allem gegen Une und Orango Sinho. Reiche Beute an Gefangenen brachten wir heim!« »Was geschah mit diesen? Habt ihr sie geopfert oder getötet?« »Nein, das tun nur die Mandyako oder die Pepel auf dem Festlande, wir aber verwendeten die Männer als Sklaven; sie hatten sich nicht über schlechte Behandlung zu beklagen. Die gefangenen Mädchen und Frauen wurden sogar in unseren Stamm aufgenommen und von unseren Kriegern geheiratet.«
Ich wünschte nun zu wissen, ob vielleicht weiblicher Einfluß die Männer zu dieser besonderen Milde bewogen habe. Mit dieser Mutmaßung hatte ich mich aber geirrt. Gerade die Frauen seien es, welche die Männer dazu aneiferten, Kriege zu führen, und alle jene mit ätzenden Spottreden überschütteten, die ihnen als Feiglinge erschienen. Das Kämpfen allerdings überließen sie den Männern, welche bereits an den Reifezeremonien teilgenommen hatten und somit großjährig waren. Sie selbst begnügten sich damit, in der Heimat zu herrschen und die heimkehrenden Helden huldvoll mit ihrer Gunst zu beschenken.
Der Alte erzählte mir dann von dem täglichen Leben der Eingeborenen in friedlichen Zeiten. Die Arbeit ist auch hier, wie bei den meisten Negerstämmen, auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilt. Die Männer müssen sich der schweren Feldarbeit unterziehen, die Frauen besorgen die Aussaat, die Ernte aber wird gemeinsam heimgebracht. Die Männer gehen auf die Jagd, betreiben Fischfang, sammeln Palmkerne, gerben Felle, verfertigen allerlei Holzarbeiten und ernten täglich den köstlichen Palmwein von den Kronen der Ölpalmen. Die Frauen aber sind, trotz manchen Vorrechten, keineswegs untätig. Sie haben alle Hausarbeiten zu verrichten und eine meist nicht geringe Schar von Kindern zu pflegen. Mühselig sammeln sie die Nahrungsmittel, die die Natur nicht allzu reichlich spendet. Sie fertigen ihre Kleidung an, sofern die Grasröckchen diesen Namen verdienen, flechten Matten aus gespaltenen Palmrippen, versorgen die Haustiere und müssen täglich von weither kühles Süßwasser in ihren Tonkrügen auf dem Kopfe heimtragen.
Die Entbindung der Frau vollzieht sich in ihrem eigenen Hause, auf ihrer Liegestatt. Kein Mann darf während des Vorgangs im Hause anwesend sein. Die Frau wird von einer Hebamme unterstützt; solche gibt es in jedem größeren Dorfe. Außerdem stehen auch einige ältere Frauen der Familie der Gebärenden hilfreich zur Seite.
Das Wochenbett währt sechs Tage. Eine besondere Aufnahme des Kindes in die Gemeinschaft der Familie erfolgt nicht. Erst wenn das Kind imstande ist, sich ohne Hilfe aufzusetzen, erhält es von seinen Eltern einen Namen, den es zeit seines Lebens trägt. Die Erziehung der Kinder ist Sache der Mutter.
Eine Beschneidung, wie bei den Pepel oder den Balante, den Nachbarn auf dem Festlande, ist nicht üblich. Wohl findet aber auch hier eine feierliche Aufnahme des jungen Menschen in den Stamm zur Zeit der Reife statt.
Hierüber etwas Näheres zu erfahren, war besonders schwierig, da alle Teilnehmer an diesen Zeremonien unverbrüchliches Stillschweigen geloben müssen. Mir wurde nur berichtet, daß solche Zeremonien auf Orango Grande alle zehn Jahre stattfinden und alle jene jungen Leute der verschiedenen Dörfer zusammenführen, die seit den letzten Festen geschlechtsreif geworden sind. Die Feier wird für jedes Geschlecht getrennt abgehalten. Wehe dem Angehörigen des anderen Geschlechtes, der etwa die Buschzöglinge heimlich belauschen wollte! Er wäre des Todes! Die Mädchen werden zuerst in den Stamm aufgenommen, die Aufnahme der Burschen geschieht ein Jahr später. Die Zeremonien werden regelmäßig durch große Feste im Dorf eingeleitet, an denen sich alles gemeinsam beteiligt. Erst dann zieht der Teil der Jugend, dem das eigentliche Fest gilt, in den Busch, wo er sich dreißig Tage lang in bestimmten heiligen Hainen verborgen hält. Während dieser Zeit werden die jungen Leute von mehreren Alten in die Geheimwissenschaft des Stammes eingeweiht und in den Sitten und der Religion unterwiesen. Eine besondere Rolle spielen auch gewisse rituelle Tänze, bei denen sowohl die Burschen als auch die Mädchen holzgeschnitzte Tiermasken auf den Köpfen tragen und auch durch ihre Gebärden die verschiedenen Tiere darzustellen versuchen. Vor allem sind Rinder- und Flußpferdmasken beliebt. Jeder Teilnehmer an dem Feste erhält einen zweiten Namen, den er von nun an neben dem ihm von seinen Eltern gegebenen führt.
Nach Beendigung der Buschschule kehren die jungen Leute in ihr Dorf zurück und werden nun als großjährig betrachtet. Trotzdem müssen sowohl die Burschen wie die Mädchen noch ein ganzes Jahr lang in einem besonderen Hause ihres jeweiligen Heimatdorfes die Nächte verbringen. Erst nach Verlauf dieser Zeit ist es ihnen gestattet, eine Ehe zu schließen.