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Hedi, wie sie gewöhnlich genannt wurde, war die Tochter eines kleinen Kaufmanns in einer kleinen Stadt. Doch ihre Mutter hatte in der Hauptstadt eine Schwester, die durch die Heirat mit dem vermögenden Großhändler Wilms eine Stellung in den höheren Gesellschaftskreisen der Stadt einnahm.
Um die Weihnachtszeit schrieb Hedis Mutter an Frau Wilms, daß sie ihr sehr dankbar wäre, wenn sie die 17 jährige Hedi etwa auf ein halbes Jahr in ihr Haus nehmen wollte, um ihr gute Manieren und Lebensart beizubringen. Daheim gäbe es so viel zu tun, daß man sich um die Erziehung der Kinder nicht hinlänglich kümmern könne.
Frau Wilms war diesem Wunsche mit großem Vergnügen nachgekommen, und so befand sich Hedi bei Tante und Onkel, um das Leben von einem neuen Gesichtspunkte aus zu studieren.
Sie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit kohlschwarzen, samtweichem Haar und kastanienbraunen Augen, zarten kleinen Händchen und Füßchen und mit einem Lachen, das klang wie tausend abgestimmte Glocken.
Übrigens lachte sie nur selten, denn sie war von ernstem und nachdenklichem Wesen. Aus den vielen Büchern, die sie zu Hause gelesen, hatte sie gelernt, daß das Leben ein Kampf sei, ein Kampf um Ideale gegen alles Materielle und Äußerliche in der Welt.
Tante Else gewann Hedi sehr lieb. Sie fand sie anfangs zwar ein wenig verschlossen und scheu, aber das verschwand bald, als sie gelernt hatte, mit Menschen umzugehen. Da fand eines Tages die Tante zufällig einen unvollendeten Brief von Hedi an eine Freundin in der Heimat. Was sie da las, raubte ihr für eine Weile die Hoffnung, einen vernünftigen Menschen aus Hedi zu machen. Der Brief troff förmlich von Idealismus: »Ach, Maria, wie materiell ist doch alles auf Erden! Denke, daß man gezwungen ist, zu essen, wenn man leben will! Wie unschön! Sage mir doch: ißt Du Dich je ganz satt? Das tue ich längst nicht mehr. Nur so viel, wie durchaus nötig ist. Dann wird man dünn und ätherisch, und der Geist wird frei von seinem irdischen Klumpfuß, dem Körper – er bekommt Flügel und kann sich aufschwingen in die Gefilde der Ideale! Wenn ich an Otto denke, wird mir ganz elend. Dieser Vielfraß! Wie oft habe ich mich mit Widerwillen seinem Appetit zugesehen. Und weißt Du, was sein Leibgericht ist? Gebratene Leber!! Wie wird Dir!« Und so weiter.
Tante sprach mit ihrem Manne, und sie beschlossen, an die Schwester zu schreiben, um zu erfahren, ob diese »Krankheit« Hedis schon lange wäre, und – wer Otto sei.
Die Mutter antwortete, es sei allerdings ein altes Leiden, und Otto sei ein Lehrerssohn von 25 Jahren, ein junger Proviantverwalter, den sich die Eltern stets gern als Hedis zukünftigen Mann gedacht hätten, da die beiden immer gut mit einander ausgekommen wären.
Ein Proviantverwalter! Du großer Gott! Tante Else schlug vor Entsetzen die beiden Hände zusammen.
Hedi die Frau eines Proviantverwalters!
Und dann bat die Schreiberin noch, die Schwester möchte doch ein gutes Wort für sie einlegen, aber nicht zu auffällig, damit Hedi nichts merke. Otto sei ein so prächtiger und strebsamer Mensch, und sie wünschten die Partie sehnlich! Arme, naive Schwester! dachte Frau Else. Wie hat das Leben in dem Krähwinkel doch deinen Horizont eingeengt! –
Mit Hedi ging allmählich eine merkwürdige Veränderung vor. Sie legte entschieden etwas von ihrem »Idealismus« ab, begann wohl auszusehen, bekam rote Wangen, sprach mehr und lachte. Viel zu lesen war ihr nicht gestattet, dagegen war sie oft in Konzerten und Gesellschaften, und das schien ihr sehr gut zu bekommen. Auch im Hause selbst war ein reger Verkehr, die jungen Leute gingen dort ein und aus.
Frau Elses Mut begann sich zu heben, aber da kam plötzlich ein neuer Rückschlag. Hedi wurde wieder still, verschlossen, scheu, blaß und mager. Tante nahm die Sache diesmal sehr ernst, doch wie auf eine Spur kommen? Da half ihr wieder der Zufall. Als sie eines Tages Hedis Wäsche einräumte, fand sie in einem Winkel des Schrankes ein Tagebuch. Sie hielt es für ihre Pflicht, es zu öffnen. Und sie las:
5. Februar. Träume ich oder wache ich? Ich liebe! Nun weiß ich es. Ich liebe, ich liebe, ich liebe! Heute sah ich ihn wieder! Ein König kann nicht schöner sein! Diese Augen, diese Haltung, dieses goldlockige Haar, dieses stolze Lächeln, diese Zähne! Er oder keiner! Das Himmelreich oder die Hölle, Reichtum oder Elend – das ist mir gleich, wenn ich ihn an meinem Herzen habe! Er sah mich so eigentümlich an, als er mich traf, ach, so unbeschreiblich! Da fühlte ich es, daß er es war, nach dem meine Seele verlangt hatte. Er, er, er!
9. Februar. Das ist Glück, das ist Leben! Ich liebe, liebe! Mir ist, als liebte ich ihn schon eine Ewigkeit. Und wie ich mich sehne. Meine Seele glüht nach ihm! Ob er nicht bald kommt? Heute nacht schlief ich keine Stunde. Ich träumte nur, träumte, von ihm! Wie schön er ist, wie unbeschreiblich schön ...
Und so weiter. Tante Else dachte nach. Wer war der Glückliche? Sie ging all die jungen Leute durch, die in ihr Haus kamen: Karl, Peter, Fritz, Hans, Willibald ... Halt! Willibald! Sollte Willibald der Herzensbrecher sein? Er war der Neffe ihres Mannes, ein junger Leutnant aus der Provinz, der kürzlich erst nach der Hauptstadt versetzt war und dessen Weg bezeichnet war durch enttäuschte Jungfrauen und unwillige Mütter. Sollte dieser eitle Geck auch der armen Hedi den Kopf verdreht haben?
Tante Else blätterte weiter: 28. Februar. Mein Angebeteter, mein Einziger! Du blickst mich nicht mehr so feurig und zärtlich an. Bin ich Deiner nicht würdig? Bin ich Dir zu arm, zu gering für Dich? Oder liebst Du eine andere? O, mache mich nicht unglücklich, mein stolzer, herrlicher Willibald!
Also Willibald! sagte Tante Else, dacht' ich mir's doch. Sie las weiter. Ein Gedicht. Dann das zuletzt geschriebene: 25. April. O Gott! Wie unglücklich bin ich. Er sieht mich kaum mehr an, er behandelt mich wie Luft und spricht mit mir wie mit einem Backfisch! Und dennoch: was bedeutet für mich eine glückliche Liebe? Sie ist das tägliche Brot kleiner Seelen! Aber unglückliche Liebe! Das ist die Seligkeit großer Geister! Doch Seligkeit tötet. Mit seinem Bild im Herzen will ich sterben – durch Wasser oder Gift – nur fort, fort!
Nachdenklich legte Tante Else das Buch an seinen Platz zurück. Sie kam mit ihrem Manne überein, daß sie schon in den nächsten Tagen mit Hedi ihre Sommervilla am Meere beziehen sollten. – »Wald- und Seeluft werden das Kind schon kurieren,« meinte der Onkel.
Und er schien recht zu behalten. Hedi begann sich zu erholen, und als der Juli kam, konnte sie wohl als »geheilt« betrachtet werden.
Da kam die Schlange auch in dieses Paradies. Eines schönes Tages tauchte Leutnant Willibald in der Villa auf. Tante und Hedi trafen ihn auf einem Spaziergang. – »Ja, da hast du mich wieder, liebe Tante,« rief er ihnen entgegen. »Du hast doch hoffentlich Platz für mich?, Ich bekomme mein altes Zimmer, nicht wahr? Das mit dem Guckloch, durch das Auguste, der alte Drache, früher abends nachsehen mußte, ob der junge Herr auch nicht wieder beim brennenden Lichte eingeschlafen sei. Puh, wie ist es heute warm!« Er trocknete sich die Stirn.
Das war ein Schlag für Tante Else. Sie überlegte, wie sie ihn möglichst schnell wieder los werden könnte. »Ja, weißt du denn auch, daß hier eine Scharlach-Epidemie herrscht?« war das erste, was sie im Zusammenhang vorbringen konnte. »Bist Du nicht ängstlich?« – »Keine Spur, liebe Tante, ich habe sowohl Scharlach wie Masern, Röteln, Keuchhusten, wie überhaupt alle Kinderkrankheiten gehabt.«
Was blieb ihr übrig? Sie konnte ihn doch nicht einfach aus dem Hause weisen. Er mußte jedenfalls die Nacht über bleiben; bis morgen früh würde sie schon einen Ausweg gefunden haben.
Es konnte Willibald nicht entgehen, daß sein Besuch unwillkommen war. Gleich nach dem Abendbrot entschuldigte er sich darum und zog sich auf sein Zimmer zurück. Auch Hedi ging früh hinauf. Sie habe Kopfschmerzen, sagte sie. Das war ja nicht erstaunlich. Nun endlich war es ihr gelungen, sein Bild fast ganz aus ihrer Brust zu reißen, da kam er an, frisch wie ein Frühlingswind, schön wie Apoll, und sofort schlug ihr armes Herz wieder seine 125 Schläge in der Minute, und ihre Temperatur stieg auf 40 Grad.
Tante Else war zu dem Entschluß gekommen, offen mit Hedi zu sprechen, ihr zu sagen, daß sie alles wisse, und daß ihr Neffe ein leichtfertiger, geckenhafter Mensch sei, der nie ernstlich an sie gedacht habe. Als sie an Willibalds Tür vorüberging, schob sie aus alter Gewohnheit das kleine Leder von dem Guckloch zurück, um nachzusehen, ob er auch nicht das Licht habe brennen lassen, und da sah sie ...
Was sie da sah, muß sehr komisch gewesen sein, denn ihr eben noch so ernstes Gesicht erhellte sich plötzlich, und ein verschmitztes Leuchten fuhr über ihr Antlitz. Leise ging sie an Hedis Tür und klopfte an. »Bist du schon im Bett, Kind?« – Nein, sie war noch auf. – »Komm' mal mit mir!« flüsterte die Tante. »Schnell, vorsichtig,« flüsterte sie, als Hedi stutzig herauskam. »Hast du jemals einen schlafenden Leutnant gesehen? Sonst hast du Gelegenheit dazu, Kind! Guck' mal hier hinein! – »Aber Tante!« – »Wenn ich Dir's erlaube –« – »Pfui, Tante!« – »Sieh meine grauen Haare an, Kleine; glaubst du, daß ich dich zu etwas Unrechtem verleiten will? Es ist ja nur ein Scherz. Guck' nur hinein!«
Hedi wußte nicht, was sie denken sollte. Zitternd und bebend hob sie sich auf die Zehenspitzen, drückte ihr Auge an das Guckloch und ... »Gute Nacht, Tante!« sagte sie plötzlich und eilte, so schnell ihre Füße sie trugen, in ihr Zimmer zurück.
Auszug aus Hedis Tagebuch: 21. Juli. Herr im Himmel, was habe ich erlebt! Daß mein schöner Traum so enden muß! Alles ist vorbei. Was habe ich verbrochen, daß ich so gestraft werde? Nimm das schreckliche Bild aus meiner Seele, Gott, lösche es aus meiner Erinnerung! Soll ich ihn stets so vor mir sehen? Den Kopf voller Papilloten, das Gesicht fast ganz verborgen unter einer Bartbinde – und auf dem Stuhl ein großes, riesiges Korsett! ...